22. 10. 2021 | Henry Mattheß. Antipasti, Rindergeschnetzeltes, Schokoladenmousse und Käseplatte – das Menü des Abendessens von Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht am 30. Juni im Kanzleramt ist inzwischen bekannt. Was die Bürger einer Republik dagegen nicht erfahren, ist der Wortlaut der gehaltenen Reden. Investigativreporter mühen sich um Aufklärung. Politik und Institutionen dämmern mit mangelhaftem Problembewusstsein für Öffentlichkeit und Gewaltenteilung vor sich hin, statt den Vorgang kritisch zu hinterfragen.
Ein Treffen gilt als informell, wenn es keinen besonderen Formvorschriften und Protokoll folgt, also außerhalb bekannter formaler Wege abgehalten wird. Im Alltag spricht man von einer lockeren Runde, wozu ein gemeinsames Abendessen zweifellos gezählt werden darf. Zu einer solchen Runde hatte Kanzlerin Merkel ins Kanzleramt geladen, woran einerseits fast alle BundesministerInnen und andererseits alle 16 RichterInnen des Bundesverfassungsgerichts teilnahmen. Der Meinungsaustausch war nicht nur informell, sondern auch nicht öffentlich.
Fehlende Öffentlichkeit
Treffen zwischen Regierung und Jusitz über Gewaltengrenzen hinweg können legitim und erforderlich sein. Nicht legitim für eine Republik ist jedoch der hier gewählte informelle und nicht öffentliche Rahmen. Republik leitet sich von der öffentlichen Sache (res publica) her. Wenn aber Bürger Einzelheiten von Beratungen der höchsten Regierungsstelle und der höchsten Rechtsinstanz des Staates nur durch investigative Presseberichte statt von der Regierung erfahren, widerspricht das eklatant dem Grundprinzip einer Republik und Demokratie: Öffentlichkeit in allen staatlichen Angelegenheiten als Voraussetzung gleichberechtigter politischer Teilhabe aller!
Es erstaunt, wie Vertreter höchster Staatsorgane überhaupt auf die Idee verfallen können, ein Treffen im Bundeskanzleramt ohne ein Protokoll über Verlauf und Inhalte, wie insbesondere gehaltener Vorträge und deren Veröffentlichung abzuhalten. Stattdessen wird der Vorgang wie eine vertrauliche Verschlusssache behandelt. Staatliches Handeln kann Vertraulichkeit aber nur in eng begrenzten Phasen einer konkreten Entscheidungsfindung für sich reklamieren, die hier aber nicht vorlag. Oder etwa doch?
Harbarth initiiert Themasetzung
Was auf jeden Fall sehr verwundert: Das eng mit der Corona-Politik verknüpfte Thema des Abends „Entscheidung unter Unsicherheiten“ ging laut Presseberichten auf die Initiative des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, zurück. Eher würde man ein Interesse dieser Themasetzung auf Seiten der Bundesregierung vermuten, die aber sogar Bedenken wegen der laufenden Verfahren zur „Bundesnotbremse“ äußerte. Warum also die Initiative von Harbarth?
Wohlwollend betrachtet, könnte es ihm um Erkenntnisgewinn aller Beteiligten an einer aktuellen Fragestellung gegangen sein. Kritisch gesehen, könnte man schlussfolgern, dass der bis zu seiner Berufung ans Bundesverfassungsgericht 2018 stellvertretende Fraktionsvize der CDU/CSU Bundestagsfraktion aktiv im Sinne der Corona-Politik der Bundesregierung lobbyierte. Er lobbyierte, indem er mit seiner Themawahl der Bundesregierung eine direkte Ansprache an alle 16 RichterInnen des BVerfG zur eigenen Corona-Politik ermöglichte. Und das eben keinesfalls auf einer nur abstrakten Ebene, wie behauptet. Der bekannt gewordene Impulsvortrag der Bundesjustizministerin Lambrecht bestätigt dies:
„Das Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“ ist abstrakt. Aber es stellt sich uns in letzter Zeit ganz konkret vor allem beim Umgang mit der Corona-Pandemie. Ich will es deshalb offen aus dieser Perspektive heraus behandeln, ohne künstlich zu abstrahieren. Dass wir dabei nicht über die konkret beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Fälle sprechen können, ist selbstverständlich. (…)
Bei allen getroffenen Maßnahmen stand uns deutlich vor Augen: unser Wissen um das Virus, seine Verbreitung und Bekämpfung ist unsicher und wächst dynamisch. In Befristungen und in der ständigen Evaluation der getroffenen Maßnahmen kam und kommt dies zum Ausdruck.“
In der Tat liest sich der letzte Absatz, wie auch Weiteres, keineswegs abstrakt, sondern wie eine engagierte Verteidigungsrede zur eigenen Corona-Politik – falsche Behauptungen inklusive. Denn gerade eine ständige Evaluation über die Evidenz von Maßnahmen hat kaum stattgefunden. Ein evidenzwidriges monatelanges Festhalten an einer Maskenpflicht in Schulen und im Freien sind nur zwei Beispiele dafür. Vielmehr verhinderte eine sehr mangelhafte oder sogar unterlassene Datenerhebung des RKI eine belastbare Evaluierung vieler Maßnahmen.
Diese Rede Lambrechts, wie überhaupt Hinweise auf das Treffen, finden Interessierte nicht etwa auf den Netzseiten der Bundesregierung, wie man es in einer der öffentlichen Sache verpflichteten Republik für normal erachten würde, sondern nur bei der Presse. Weitere Reden, wie von Richterin Baer sind im Wortlaut bisher gar nicht bekannt.
Gerhard Strate, bekannter Strafverteidiger und Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, bewertet das Treffen laut WELT wie folgt:
„Der Abend war ausgerichtet auf einen inoffiziellen Meinungsaustausch über ein Thema, zu dem 424 Verfassungsbeschwerden anhängig waren.“
Missachtung des Prinzips der Gewaltenteilung
Entgegen der Feststellung Strates scheinen die Eliten aus Politik und Justiz kein ausreichendes Problembewusstsein für ihr Handeln zu besitzen. Beziehungsweise handeln sie sogar wider eigener Bedenken, wie an der schon erwähnten kritischen Anmerkung der Regierung an der Themawahl ersichtlich wird. Und das kann als der eigentliche Skandal an diesem Vorgang bezeichnet werden! Es herrscht oft ein erschreckender Mangel an Respekt vor der Gewaltenteilung und gleichzeitig eine viel zu enge personelle Nähe zwischen Justiz und Parteipolitik.
Mit nur etwas Grundverständnis von Gewaltenteilung verbietet sich ein solches informelles Treffen, erst recht bei laufenden Verfahren. Darüber hinaus ist zu hinterfragen, ob das ganze Format informeller, inoffizieller und nicht öffentlicher Treffen mit einer Republik und Demokratie vereinbar ist? Bizarrerweise wird das fragwürdige Treffen im Nachgang mit seiner eigenen Tradition gerechtfertigt. Merkel erfand dieses Gesprächsformat ganz im Sinne ihres sehr speziellen Politikverständnisses im Jahr 2007. Seitdem fanden mehrere solcher informellen Treffen statt.
Die kritische Betrachtung eines Lobbyismus Harbarths gegenüber seinen RichterkollegInnen zeigt außerdem, wie der Durchgriff der Parteien auf Staatsorgane mittels Drehtüreffekten die Gewaltenteilung aufheben kann. Niema Movassat, Abgeordneter von Die Linke und Mitglied des Richterwahlausschusses im 19. Bundestag, äußerte sich 2018 zur Wahl Harbarths im Deutschlandfunk:
„Meine Grundkritik ist, dass aktive Berufspolitiker nicht an das Bundesverfassungsgericht gehören. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet ja unter anderem über die Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen mit der Verfassung, und das sind meistens Gesetze, die Politiker, die im Bundestag sitzen, mit entworfen haben, mit diskutiert haben…“
Drehtüreffekte zur Sicherung des Parteienmonopols
Movassat ist hinzuzufügen, dass die Parteien mit solchen Drehtüreffekten ihr Parteienmonopol absichern. Der Staat ist mittlerweile zu einem Parteienstaat mutiert, in dem den Parteien bei Themen wie Parteienfinanzierung bis hin zum Wahlsystem kein wirkliches Korrektiv gegenüber steht. Wie soll noch Recht gewahrt werden, wenn Parteikader als Richter am Bundesverfassungsgericht auf nicht öffentlichen Treffen für die Regierungspolitik lobbyieren, oder wenn sie die Regierungspolitik sogar in den Medien verteidigen, wie Harbarth das getan hat.
Die gesamte Tragweite der Personalie Harbarth erschließt sich erst über die Vorgeschichte seiner Nominierung für das Amt des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Das betrifft die seltsamen Umstände seiner ungewöhnlich hochbezahlten Anwaltstätigkeit neben dem Bundestagsmandat, seiner Berufung in den Beirat einer bedeutenden Rechtszeitschrift und der Verleihung einer Honorarprofessur. Diese Begünstigungen im Vorfeld und zum Vorteil seiner Nominierung als Verfassungsrichter setzen hinter sein jüngstes Wirken weitere Fragezeichen.
Das Problem der Drehtüreffekte gilt auch für das Bundespräsidentenamt. Bis auf eine Ausnahme wurde das Amt ausschließlich mit ehemaligen Mitgliedern von Bundes- oder Landesregierungen besetzt. Die Parteien sichern auch hier per Drehtür und personeller Verflechtung ihr Machtmonopol ab.
In beiden genannten Fällen für Drehtüreffekte handelt es sich um systemisch, strukturell bedingte Vorrechte der Parteien, die mit entsprechenden Ausschlusskriterien für Bewerber dieser Ämter leicht und wirksam behoben werden könnten.
Auch die mit Republik und Demokratie unvereinbare Merkelsche „Tradition“ bei informellen Gesprächen zwischen Rindergeschnetzeltem und Schokoladenmousse die Gewaltenteilung zu verwischen, sollte mit diesem Treffen Geschichte sein. Mit dem Ende der Kanzlerschaft Merkels sollte auch deren gastronomische „Tradition“ abgeschafft und durch das allseits bekannte formelle, offizielle und öffentliche Format einer Fachtagung ersetzt werden.