TTIP-Overdrive – Die EU-Kommission hat den Verstand verloren

Hinweis vom 22.3.2016: „Der Autor Fritz Glunk weist darauf hin, dass die EU-Kommission zwischenzeitlich einen neuen Textvorschlag zur Regulatorischen Zusammenarbeit veröffentlicht hat (siehe hier). Der folgende Text kommentiert somit einen inzwischen überholten Sachstand.“  

Von Fritz Glunk. Nach den neuesten Vorstellungen der EU-Kommission soll sich die EU verpflichten, künftige Leitlinien unbekannten Inhalts, erstellt von einer unbekannten Anzahl unbekannter und  ungenannter Gruppen, umgehend in politisches Handeln umzusetzen. Kein Mensch bei Verstand würde so etwas vorschlagen, geschweige denn umsetzen.Das geplante EU-USA-Freihandelsabkommen TTIP soll auch ein Kapitel über regulatorische Zusammenarbeit enthalten. Danach sollen sich die Regulierungsbehörden der beiden Parteien miteinander über die Einführung neuer Standards und technischer Normen abstimmen, noch bevor die (nationalen) Parlamente davon informiert oder damit befasst werden. Die öffentliche Empörung führte sogar bei der ansonsten TTIP-freundlichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu einem Protestartikel („Amerika soll bei unseren Gesetzen mitreden“, 27. Januar 2015).

Zu diesem Regulierungs-Kapitel hat nun die EU-Kommission im Mai 2015 einen Textvorschlag in die Verhandlungen eingebracht, mit dem noch viel Abenteuerlicheres geplant ist (EU-KOM 2015). An versteckter Stelle tauchen dort nämlich im Artikel 2 c „international bodies“ auf. Im Original (EU-KOM 2015): „international bodies or fora in which both Parties‘ regulators and competent authorities at central level participate, including as observers, and which provide requirements or related procedures, recommendations or guidelines on the supply or use of a service, such as for example authorization, licensing, qualification or on characteristics or related production methods, presentation or use of a product.“ 

Offenbar sind damit möglichst viele Gruppen und Netzwerke gemeint, denn die Definition ist weit: Sie umfasst alle „bodies“ oder „Foren“, an denen die EU und die USA beteiligt sind, sei es auch nur als Beobachter, und die Anforderungen, Empfehlungen oder Leitlinien liefern, die sich irgendwie auf das Angebot, die Genehmigungen, die Produktionsmethoden und Darbietungsformen von Waren und Dienstleistungen beziehen. Lediglich als illustrierende Beispiele werden in einer Fußnote die OECD oder die unten beschriebene ICH genannt .

 Diese „bodies“ liefern – wiederum sehr allgemein gefasst: – „documents“, die in der TTIP dann als Rechtsakte gewertet werden, als „international instruments“. Diese „instruments“ müssen dann (so Artikel 10 2 b 1, präziser noch Artikel 13 2) von den vertragschließenden Parteien umgesetzt werden („implemented“). Im Original: „The Parties reaffirm their intention to implement within their respective domestic systems those international instruments they have contributed to, as provided for in those international instruments.“

 Die „bodies“ oder Gruppen, deren Empfehlungen von den USA und der EU umgesetzt werden sollen, sind nicht benannt, eine Liste (gar eine abschließende Aufzählung) fehlt. Die Definition umfasst sichtbar nicht nur gegenwärtige bestehende „bodies“, sondern auch erst künftig einzurichtende. Der genaue Inhalt der zu befolgenden „documents“ wird ebenfalls nicht angegeben.

 Die Zahl dieser „bodies“ in denen solche außerparlamentarischen Regel- und Normsetzungen heute schon entstehen, ist in den letzten zwei Jahrzehnten von einigen Hundert auf heute über zweitausend gestiegen. Einen genauen Überblick hat niemand, eine Liste aller dieser Gruppen existiert nicht. Selbst neuere, ausführliche Handbücher sind nur in der Lage, beispielhafte Übersichten zu erstellen. Im Folgenden solle eine derartige Gruppe und ihre Arbeitsweise kurz beschrieben werden, die International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH).

 Kein Produktionssektor ist so weitgehend reguliert wie die Pharmaindustrie. Der entscheidende „standard-setter“ ist hier die ICH. Zu Beginn (1990) hatte die ICH nur sechs Mitglieder: die Regulierungsbehörden der USA (Federal Drug Association, FDA), der EU-Kommission (Europäische Arzneimittelagentur, EMA, ex-EMEA) und Japans (Gesundheitsministerium, MHLW) sowie die entsprechenden Spitzenverbände der Pharmaindustrie (die Pharmaceutical Research and Manufacurers of America, PhRMA; die European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations, EFPIA, mit 33 Verbänden und über 40 Unternehmen und die Japan Pharmaceutical Manufacturers Association, JPMA). Das Gründungstreffen fand auf Einladung des europäischen Pharmaverbands EFPIA statt, der analog zur Schaffung des Gemeinsamen Marktes in Europa eine weitergehende Harmonisierung der Standards in der Pharmaindustrie anstrebte. Zur ICH gehört ein Lenkungsausschuss, in dem jedes der sechs Mitglieder zwei Stimmen hat; weitere Mitglieder im Lenkungsausschuss sind heute: der Weltverband International Federation of Pharmaceutical Manufacturers and Associations, IFPMA (ohne Stimmrecht, mit Industrieverbänden aus Lateinamerika, Argentinien, Australien, Bangladesch, Belgien, Bosnien/Herzegowina, Brasilien, Chile, China, Kanada, Österreich und Weißrussland) sowie die Kontrollbehörden Swissmedic (Schweiz) und Health Canada. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat dort Beobachterstatus. Das fünfköpfige ICH-Sekretariat in Genf wird personell allein von der Pharma-Industrie besetzt.

Die Aufgabe der ICH ist die Festlegung von Standards der Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten. Dies geschieht in einem mehrstufigen Konsens-Verfahren. Zuerst entwickelt eine Expertengruppe den Entwurf einer Richtlinie; danach geht der Entwurf zur Stellungnahme an die Regierungen der Mitglieder; aus deren Kommentaren wird sodann ein neuer Konsens hergestellt und dieser dem Lenkungsausschuss mitgeteilt, der dann die entsprechende Leitlinie beschließt. Die Leitlinien haben keine rechtliche Bindewirkung, werden aber als de-facto-Regeln auch von nicht-beteiligten Regierungen akzeptiert (in der EU und Japan wurden einige Richtlinien direkt in gesetzliche Vorschriften übernommen).

 Es wurde früh bemerkt, dass die Pharma-Industrie unverhältnismäßig stark in der ICH vertreten ist, Patienten-Organisationen oder andere Stakeholder jedoch fehlen. Zudem wird befürchtet, dass bei der Festlegung von z.B. Prüfverfahren die Wünsche der Industrie nach einer schnellen und kostengünstigen Zulassung überwiegen. Ausgeprägt ist das beherrschende Gewicht der Industrieländer (d.h. die generischen Medikamente mancher Entwicklungsländer werden aus dem Markt gedrängt, und vor allem sind viele Testverfahren für sie zu aufwendig und zu teuer, fördern gleichzeitig aber die neueste technische Entwicklung der Industrieländer). Insbesondere wird kritisiert, dass die ICH keiner Aufsicht unterworfen ist, also niemandem gegenüber verantwortlich oder rechenschaftspflichtig ist (so wird beispielsweise die finanzielle Situation der ICH auch nicht veröffentlicht).

 Besonderes Gewicht hat der Vorwurf, hier werde – obwohl von den Befürwortern immer wieder als „Soft Law“ bezeichnet – ein global bindendes System von Vorschriften entwickelt, das dann in der Rechtsprechung zu berücksichtigen ist.

 Im Fall der Aufnahme des oben geschilderten Textvorschlags in das TTIP-Schlussdokument bedeutet das: Mit diesem Blankoscheck zerstört die EU-Kommission einen Kernbestand der Demokratie. Die verfassungsmäßige Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz ist damit aus dem Grundgesetz herausgebrochen. Eine von solcher Bindung befreite Exekutive arbeitet nun Hand in Hand mit unbekannten „bodies“. In den unkontrollierten „Selbstgesprächen“ dieser Gremien mit der Exekutive werden die Maßnahmen festgelegt, mit denen dann öffentliche Gewalt ausgeübt wird. Die Verfassung ist nur noch ein „primus inter pares“, der Staat eine Schwundstufe seiner selbst.

 Nichts im TTIP-Mandat oder in den EU-Verträgen berechtigt die  Kommission, Gesetzgebungskompetenzen (d.h. Volkssouveränität) einfach  an andere Gremien durchzureichen, insbesondere wenn diese nicht einmal genannt werden. Die Unterschrift unter ein solches Abkommen wäre eine Verabschiedung des Parlaments und die Herrschaft einer gesichtslosen Governance über ein entdemokratisiertes Europa.

 Eine etwas längere Version dieses Textes ist erschienen in Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2015.

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