Kann man Chinas Wachstumsraten glauben?

China war lange Wachstumsweltmeister mit oft zweistelligen Wachstumsraten. Das ist kein kleiner Erfolg für ein Volk von 1,5 Milliarden Menschen. Die Wachstumsraten sind allerdings ungewöhnlich stabil und regelmäßig sehr nah an den Planungen der Partei. Geht das mit rechten Dingen zu?

In den Neunziger- und Nullerjahren wuchs die chinesische Wirtschaft preisbereinigt mit zweistelligen Jahresraten. Aus dem Armenhaus der Welt wurde so innerhalb weniger Jahrzehnte ein Mitteleinkommensland. Das ist eine Errungenschaft, die niemand in Zweifel zieht, weil der allgemeine Wohlstandsgewinn und die stürmische technologische Entwicklung des Landes zu offensichtlich sind. Für die konkreten jährlichen und vierteljährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts gilt das allerdings nicht.

Seit einem Zwischenhoch von 10,6 Prozent im Jahr 2010 geht es stetig abwärts, auf zuletzt 6,6 Prozent 2018. Nicht nur, dass die Jahresergebnisse regelmäßig sehr nahe am von der Regierung ausgegebenen Wachstumsziel liegen, macht misstrauisch. Auch die große Stetigkeit der Abwärtsbewegung ist verdächtig. Wachstumsschwankungen im Konjunkturverlauf, wie sie bei uns normal sind, kommen in China seit 2010 laut Statistik nicht mehr vor. Abgesehen von einem Jahr mit konstantem Wachstum war die Rate jedes Jahr wenige Zehntel Prozentpunkte niedriger als im Vorjahr.

Auch das Wachstum von 6,2 Prozent gegenüber Vorjahr im zweiten Quartal 2019, vom Statistikamt am 15. Juli verkündet, hielt sich genau an die Vorgaben der Regierung und die damit übereinstimmenden Erwartungen der Analysten. Die Regierung hatte das Jahresziel im April auf sechs bis 6,5 Prozent gesetzt. Analysten erwarten derzeit 6,3 Prozent. Im Vorjahr hatte die Regierung 6,5 Prozent angepeilt, und es kamen 6,6 Prozent heraus.

Da schwer zu glauben ist, dass sich eine Marktwirtschaft in einem Riesenreich wie China derart genau steuern lässt, liegt die skeptische Frage nahe, wie echt das Wirtschaftswunder Chinas ist. Wie viel davon steht vielleicht nur auf dem Papier?

Regionale Offizielle manipulieren gern

Wei Chen, Xilu Chen, Chang-Tai Hsieh und Zheng Song von der Chinese University of Hong Kong und von der Universität Chicago haben den offiziellen Wachstumszahlen in einem aktuellen Fachaufsatz auf den Zahn gefühlt. Ihre Beschreibung, wie das Bruttoinlandsprodukt in China ermittelt wird, lässt deutlich werden, wo die Angriffspunkte für mögliche Manipulationen liegen. Sie liegen nicht so sehr bei der Zentralregierung, die in der Vergangenheit immer wieder ihre Unzufriedenheit mit der Qualität der Daten kundgetan hat.

Zuständig für die Datensammlung sind die lokalen Büros des nationalen Statistikamts NBS. Formell sind diese lokalen Büros zwar Teil des Statistikamts. De facto unterstehen sie aber den Regionalregierungen, die vor allem auch über Besetzungsfragen entscheiden. Die Regionalregierungen wiederum sind gehalten, die Wachstums- und Investitionsziele der Zentralregierung zu erfüllen. Offenbar nutzen sie dafür auch ihren Einfluss auf die regionalen Statistikämter. Das scheint auch das NBS so zu sehen. Es hat Zugang zu den Rohdaten der regionalen Ämter und korrigiert die Daten, die diese veröffentlichen, bei der Aufsummierung regelmäßig nach unten. Die Summe der Wirtschaftsleistungen der Regionen ist also regelmäßig deutlich größer als die am Ende veröffentlichte Wirtschaftsleistung der Nation.

Der Unterschied hat zwei Hauptquellen: die Industrieproduktion sowie die in China traditionell sehr hohen Investitionen des Staates und der privaten und öffentlichen Unternehmen.

Seit 2008 wird übertrieben

Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die Übertreibungen durch die Regionalregierungen seit 2008, also seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise der westlichen Welt, deutlich größer geworden sind – das nationale Statistikamt habe diese größeren Übertreibungen aber nicht durch höhere Abschläge kompensiert. Sie schätzen, dass das jährliche Wirtschaftswachstum seit 2010 um knapp zwei Prozentpunkte zu hoch angesetzt sei und die Investitions- und Sparquote 2016 um etwa sieben Prozentpunkte niedriger war als die ausgewiesenen rund 40 Prozent.

Auch wenn der Wachstumsrückgang seit 2010 dieser Schätzung zufolge stärker gewesen wäre als offiziell ausgewiesen, tun diese Forschungsergebnisse der Wachstumswunderstory Chinas keinen Abbruch. In den Neunzigern mit ihren im Durchschnitt zweistelligen Wachstumsraten bestand dieses Problem nämlich offenbar noch nicht. Damals war die Summe der regionalen Wirtschaftsleistungen nach Berechnungen der Autoren sogar um fünf bis sechs Prozent niedriger als die nationale Rate, die das nationale Statistikamt schließlich veröffentlichte.

Dass die regionalen Statistikbüros sich offenbar bei ihren Meldungen nach den zentralen Plänen richten, haben bereits im vergangenen Jahr Changjiang Lyu, Kemin Wang, Frank Zhang und Xin Zhang gezeigt. Sie stellten fest, dass Meldungen knapp unterhalb der Pläne sehr viel seltener vorkommen als Meldungen, die genau den Plänen entsprechen oder etwas darüberliegen. Als Ursache machten sie aus, dass zum einen die regionalen Regierungen ihre Investitionssteuerung nach den Plänen richten; zum anderen werden die Daten entsprechend zurechtmassiert.

Die Größenordnung stimmt

Mit einer etwas anderen Methodik als in der aktuellen Studie waren auch Emi Nakamura, Jón Steinsson und Miao Liu im Jahr 2015 zu dem Ergebnis gekommen, dass die offiziellen Statistiken eine in der Größenordnung korrekte, aber stark geglättete Version der Realität abbilden. Offenbar bemüht sich das Statistikamt redlich, die Übertreibungen der regionalen Büros zu kompensieren und sich dem wahren Wert anzunähern. Dass es die Freiheitsgrade, die dabei entstehen, auch nutzt, um ein politisch gefälliges Ergebnis zu veröffentlichen, wäre kaum verwunderlich. Wenn es so wäre, könnte die Regierung intern bekannte Abweichungen vom Wachstumsziel bei der Festlegung des nächsten Ziels berücksichtigen und so verhindern, dass sie sich langfristig allzu sehr kumulieren.

[4.9.2019]

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