Kurz bevor die Briten entscheiden dürfen, ob sie diese EU verlassen wollen, die im Verruf steht, demokratisch kontrollierte Regierungen zu entmachten, und dafür auf europäischer Ebene nur unkontrollierten Lobbyismus der Konzerne anzubieten zu haben, macht ihnen die EU-Kommission die Entscheidung leicht.. Sie will die Klageprivilegien für internationale Konzerne in den bei der Bevölkerung verhassten Abkommen CETA und TTIP mit kosmetischen Änderungen durchdrücken, möglichst an allen nationalen Parlamenten vorbei.
Der Deutsche Richterbund hat dazu zu sagen (Auszug):
„Das von der EU-Kommission geplante Investitionsgericht (ICS), das in ein System von Mediation und Konsultation eingebunden sein soll, wäre für Ansprüche wegen Verstößen gegen die Investorenschutz-Klauseln des Abkommens zuständig. Dabei umfassen Investments in der Definition des Textvorschlags jede Art von Rechten, einschließlich Aktien, Anteilen an Unternehmen, Rechte am geistigen Eigentum, bewegliche Gegenstände und Forderungen. Der rechtliche Schutz der Investition reicht damit vom Zivilrecht über das allgemeine Verwaltungs-recht bis zum Sozial- und Steuerrecht. Der Vorschlag der Kommission würde dazu führen, dass das ICS eine Rechtsprechungskompetenz in diesen Bereichen erhalten würde, um den Schutz des Investors umfassend sicherzustellen
Fehlende Rechtssetzungskompetenz
Der Deutsche Richterbund hat erhebliche Zweifel an der Kompetenz der Europäischen Union für die Einsetzung eines Investitionsgerichts. Durch das ICS würde nicht nur die Rechtssetzungsbefugnis der Union und der Mitgliedstaaten eingeschränkt, auch das etablierte Gerichtssystem innerhalb der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union würde geändert werden. Für eine solche Änderung durch die Union gibt es nach Ansicht des Deutschen Richterbundes keine Rechtsgrundlage. Wie der Europäische Gerichtshof in seinem Gutachten 1/09 vom 8. März 2011 zur Errichtung eines Europäischen Patentgerichts festgestellt hat, besitzt die Union „ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe gewährleisten soll“. Analog dem geplanten Patentgericht, welches damals zur Begutachtung anstand, wäre das ICS … „eine Einrichtung, die kraft Völkerrechts mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet“ wäre. Daher wäre eine das Unionsrecht verletzende Entscheidung des ICS „weder Gegenstand eines Vertragsverlet-zungsverfahrens“ noch würde sie zu „irgendeiner vermögensrechtlichen Haftung eines oder mehrerer Mitgliedstaaten führen“ können. Daher würde das ICS den „Gerichten der Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts sowie dem Gerichtshof seine Zuständigkeit, auf die von diesen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zu antworten, nehmen und damit die Zuständigkeiten verfälschen, die die Verträge den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten zuweisen und die für die Wahrung der Natur des Unionsrechts wesentlich sind.“
Der Deutsche Richterbund sieht keine Notwendigkeit für die Errichtung eines Sondergerichtes für Investoren. Bei den Mitgliedstaaten handelt es sich um Rechtsstaaten, welche allen Rechtsuchenden den Zugang zum Recht über die staatliche Gerichtsbarkeit eröffnen und garantieren. Die Einrichtung eines ICS ist daher der falsche Weg, Rechtssicherheit zu gewährleisten.
Der Deutsche Richterbund fordert den deutschen und den europäischen Gesetzgeber des Weiteren auf, den Rückgriff auf Schiedsverfahren im Bereich des internationalen Investorenschutzes weitgehend einzudämmen.
Unabhängigkeit der Richter
Weder das vorgesehene Verfahren zur Ernennung der Richter des ICS noch deren Stellung genügen den internationalen Anforderungen an die Unabhängigkeit von Gerichten. Das ICS erscheint vor diesem Hintergrund nicht als internationales Gericht, sondern vielmehr als ständiges Schiedsgericht.
Die Magna Charta der Richter des CCJE vom 17. November 2010 fordert die gesetzlich gesicherte Unabhängigkeit der Richter in fachlicher und finanzieller Hinsicht. Entscheidungen über die Auswahl, Ernennung und Laufbahn müssen auf objektiven Kriterien beruhen und von der Stelle getroffen werden, die die Unabhängigkeit gewährleisten soll. Beide Kriterien werden beim ICS nicht erfüllt. Bei den Entscheidungen, welche vom ICS getroffen werden müssten, spielen nicht nur Fragen des Zivilrechts, sondern auch des Verwaltungs-, Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts eine erhebliche Rolle. Eine Auswahl der Richter des ICS aus dem Kreis von Experten des internationalen öffentlichen Rechts und des internationalen Investitionsrechts mit Erfahrungen in der Beilegung internationaler Handelsstreitigkeiten verkürzt den Kreis der Kandidaten erheblich und lässt die unabdingbare Expertise im jeweils betroffenen nationalen Fachrecht außen vor. Die Richterschaft wird auf den Kreis von Personen beschränkt, die bisher schon weitgehend die internationale Schiedsgerichtsbarkeit besetzt haben. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass das Auswahlverfahren noch nicht näher skizziert ist.
Auch die Dauer der Amtszeit von sechs Jahren mit der Möglichkeit einer weiteren Amtsperiode, ein Grundgehalt („retainer fee“) von ca. 2.000 € monatlich für Richter der ersten Instanz und 7.000 € für die des Appellationsgerichts sowie Aufwandsentschädigungen für den Fall des tatsächlichen Einsatzes lassen Zweifel daran aufkommen, ob die Kriterien für die fachliche und finanzielle Unabhängigkeit von Richtern eines internationalen Gerichts erfüllt werden.“
Noch Fragen, dann weiter mit dem, was eine Reihe von Organisationen gemeinsam zum ICS aufgeschrieben hat. (Den hier auszugsweise wiedergegebenen Text habe ich zuvor schon auf Englisch abgedruckt, nun ist er auf Deutsch verfügbar.):
„ICS, das „neue“ System der EU-Kommission, unterscheidet sich nur marginal vom „alten“ und im Rahmen des EU-Kanada-Abkommens CETA (Canada EU Trade Agreement) festgeschriebenen ISDS System (Investor State Dispute Settlement)– und ist genauso gefährlich für Demokratie, Politik im öffentlichen Interesse und öffentliche Haushalte. Mit Ausnahme einiger prozeduralen Verbesserungen – ein besseres Auswahlverfahren für SchiedsrichterInnen und die Einführung einer Berufungsinstanz – umfasst dieses ISDS unter neuem Namen im Wesentlichen dieselben Privilegien für Investoren, häufig in genau demselben Wortlaut wie im CETA-Abkommen.
Der neue Entwurf der EU-Kommission ermöglicht weiterhin Konzernklagen gegen nicht-diskriminierende, legale und legitime Maßnahmen zum Schutz von Gesundheit, Umwelt und anderen öffentlichen Interessen. Der ICS-Entwurf enthält dieselben weitreichenden Rechte für Investoren, die auch Konzerne wie Philip Morris (in einer Klage gegen Nichtraucherschutzgesetze in Uruguay) und TransCanada (in einer angekündigten 15 Milliarden US-Dollar-Klage gegen die USA wegen der Ablehnung der umstrittenen Keystone XLPipeline) nutzen.
Durch den Kommissionsvorschlag könnten Steuergelder in Milliardenhöhe in die Kassen von Konzernen fließen, darunter sogar Entschädigungen für erwartete zukünftige Gewinne (wie in einem Fall gegen Libyen, das zu 905 Millionen US-Dollar Schadenersatz an ein Unternehmen verurteilt wurde, obwohl dieses lediglich 5 Millionen US-Dollar investiert hatte). Auch Entschädigungszahlungen für neue Gesetze und Regulierungen im öffentlichen Interesse wären möglich. Die von der EU vorgeschlagenen Formulierungen zum Schutz der staatlichen Regulierungsfreiheit (right to regulate) verhindern die horrenden Schadenersatzurteile nämlich gerade nicht.
Der Kommissionsvorschlag erhöht das Risiko teurer Konzernklagen gegen öffentliche Maßnahmen, da er ausländischen Investoren sogar noch weitergehende Rechte zuerkennt als viele bestehende Investitionsverträge, die ihrerseits bereits zu hunderten Konzernklagen weltweit geführt haben.
a) Durch den Schutz der „legitimen Erwartungen“ von Investoren im Rahmen der sogenannten „fairen und gerechten Behandlung” schreibt die EU eine extrem weitgehende und umstrittene Auslegung dieses Schutzstandards fest. Danach haben Investoren quasi ein „Recht“ auf stabile rechtliche Rahmenbedingungen. Das wäre eine mächtige Waffe für Investoren, die damit gegen jegliche rechtliche Veränderung vorgehen könnten, selbst wenn diese Änderungen im Lichte neuer Erkenntnisse oder als Ergebnis demokratischer Entscheidungen erfolgen.
b) Die von der EU vorgeschlagene Schirmklausel (umbrella clause) würde allen schriftlichen Verträgen im Zusammenhang mit einer Investition einen völkerrechtlichen Status verleihen. Das vervielfacht das Risiko teurer Klagen. Das EU-Kanada-Abkommen CETA enthält keine solche Schirmklausel, vermutlich, weil Kanada sie als zu gefährlich abgelehnt hat.
Durch den Kommissionsvorschlag könnten transnationale Konzerne sogar ihre eigene Regierung verklagen – wenn sie ihre Investition über eine Niederlassung im Ausland tätigen oder ein ausländischer Teilhaber klagt. Angesichts des enormen Volumens der durch US-Unternehmen gehaltenen Anteile an Unternehmen in der EU – 3,5 Billiarden US-Dollar – wäre dieses Risiko unter TTIP besonders groß. Es gibt kaum ein „europäisches“ Unternehmen ohne irgendeine US-Beteiligung, das nicht zu einer Klage gegen die EU oder einen Mitgliedstaat befugt wäre.
Der geplante Investitionsschutz der EU würde es Konzernen ermöglichen, politische EntscheidungsträgerInnen unter Druck zu setzen und so wünschenswerte politische Initiativen zu verhindern. Schon heute gibt es Belege dafür, dass geplante Gesetze zum Schutz von Klima und Gesundheit wegen einer teuren Konzernklage oder einer Klagedrohung fallen gelassen, aufgeschoben oder verwässert wurden. So haben beispielsweise Kanada und Neuseeland die Einführung von Nichtraucherschutzmaßnahmen aus Angst vor drohenden Konzernklagen verschoben.
Das von der EU geplante Streitschlichtungverfahren ist keinesfalls unabhängig, sondern einseitig zum Vorteil des Investors ausgerichtet. Da lediglich Investoren klagen können, gibt es für die SchiedsrichterInnen (im Entwurf der Kommission zu “RichterInnen” umbenannt) einen starken systemischen Anreiz, investorenfreundliche Urteile zu fällen, um in Zukunft weitere Aufträge, Honorare und Prestige zu bekommen. Fehlende Karenzzeiten, Schlupflöcher im geplanten Verhaltenskodex für die SchiedsrichterInnen und das bestimmte Personenkreise begünstigende Auswahlverfahren geben ebenfalls Anlass zur Sorge, dass die Schiedsgerichte auch in Zukunft mit genau denselben privaten AnwältInnen besetzt würden, die den teuren Boom der Investitionsschiedsverfahren mit losgetreten haben – indem sie Investoren zu Klagen gegen Staaten ermutigt und das Investitionsrecht äußerst investorenfreundlich ausgelegt haben.
Es gibt ernste Zweifel daran, dass der Entwurf zum Investitionsschutz mit EURecht vereinbar ist. Das stößt besonders unter RichterInnen zunehmend auf Bedenken. Der Kommissionsentwurf marginalisiert europäische Gerichte und ist diskriminierend, da lediglich ausländischen Investoren bestimmte Rechte eingeräumt werden. Diese Investoren können Gerichtsurteile genauso anfechten wie Regierungsakte und von Parlamenten verabschiedete Gesetze – von der lokalen bis zur EU-Ebene.
Anstatt ISDS zu begraben, droht die EU-Agenda zum Investitionsschutz, ISDS für immer festzuschreiben. Den EU-Mitgliedstaaten wäre es faktisch unmöglich, die Investorenprivilegien wieder aufzukündigen, wenn diese einmal Teil eines großen Handelsabkommens wie TTIP oder CETA geworden sind (da sie dafür faktisch die EU verlassen müssten). Der von der Kommission vorgeschlagene multilaterale Investitionsgerichtshof – quasi ein Gericht nur für Konzerne – könnte ebenfalls ein äußerst ungerechtes System verewigen, in dem nur eine Seite (üblicherweise große Konzerne und wohlhabende Privatpersonen) mit weitgehenden einklagbaren Rechten ausgestattet ist, während der anderen Seite (üblicherweise die Bevölkerung eines Landes) ausschließlich Pflichten auferlegt werden.
Veröffentlicht von: Corporate Europe Observatory (CEO), Association Internationale de Techniciens, Experts et Chercheurs (AITEC), Attac Österreich, Campact, ClientEarth, Ecologistas en acción, Forum Umwelt & Entwicklung, Instytut Globalnej Odpowiedzialności (IGO), PowerShift, Seattle to Brussels Network (S2B), Traidcraft, Transnational Institute (TNI), Umanotera, Védegylet, Vrijschrift, War on Want, 11.11.11.“
Mein Resümee: Ich bin neidisch auf die Briten, die darüber entscheiden dürfen, ob sie einem antidemokratischen Brüsseler Moloch die Tür vor der Nase zuschlagen wollen. Was erlauben sich diese Technokraten, so etwas gegen den offenkundigen Willen einer breiten Mehrheit der Bevölkerung durchdrücken zu wollen.