Das sittenwidrige Service Level Agreement, mit dem die Bahn IT-Prozesse und Risiko an ihre Kunden auslagert

14. 11. 2024 | Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing setzt auf „digital only“, um Deutschland bei der Digitalisierung „voran“ zu bringen. Das staatliche Monopolunternehmen Bahn ist eines der wichtigsten Instrumente, die er sich dafür auserkoren hat.  IT-Prozesse werden zwangsweise auf die Kunden ausgelagert, die für deren 100-prozentige Verlässlichkeit sorgen sollen. Gelingt das nicht, blühen den Kunden Vertragsstrafen oder gar Strafverfolgung.

Von Gastautor.* Wenn eine Firma ein IT-Verfahren aufsetzt, muss es normalerweise entweder eigene Rechenzentren nutzen oder die benötigte Kapazität bei einem geeigneten Anbieter einkaufen. Die Verfügbarkeit der eingekauften Ressourcen ist dabei üblicherweise in einem Service-Level-Agreement (SLA) geregelt. So verspricht z. B. die Verfügbarkeitsklasse 1 eine Verfügbarkeit von 99%. Wird die vereinbarte Verfügbarkeit nicht eingehalten, wird eine Vertragsstrafe fällig.

Die Bahn und der Verkehrsminister haben sich für ihre „digital only“-Strategie eine Alternative ausgedacht, bei der ein großer Teil der benötigten Rechenleistung kostenlos vom Kunden zu erbringen ist. Sie lagern Teile der IT-Prozesse einfach zwangsweise auf die Geräte der Bahn-Kunden aus. Haben diese nicht die benötigten Geräte, müssen sie sich diese kaufen. Gleichzeitig schreibt das durch die Beförderungsbedingungen definierte implizite Service Level Agreement eine Verfügbarkeit der Kunden-IT von 100% vor.

Abkommen mit einer garantierten Verfügbarkeit von 100% mit professionellen Anbietern gibt es nicht, weil das in der Praxis nicht dauerhaft gewährleistet werden kann. Bahnkunden können im Vergleich zu professionellen Anbietern nur eine wesentlich niedrigere Verfügbarkeit sicherstellen. Trotzdem haften Bahnkunden – im Gegensatz zu einem professionellen IT-Anbieter – nicht nur zivilrechtlich, sondern zusätzlich auch strafrechtlich gemäß §265a StGB (Erschleichen von Leistungen). Wenn sie das Beförderungsentgelt zwar bezahlt haben, das aber nicht nachweisen können, weil ihre IT die von der Bahn verlangte unrealistisch hohe Verfügbarkeit nicht einhalten kann, begehen sie eine Straftat.

Die Strafbarkeit entfällt zwar, wenn die Bahn den erfolgten Bezahlvorgang im Nachhinein in ihren Systemen auffinden und richtig zuordnen kann. Aber erfahrungsgemäß liegt die Zuverlässigkeit der Bahn-IT bei weit unter 100%, ein Wissen, das dem Beschuldigten jedoch vor einem der staatstragenden deutschen Gerichte nicht hilft.

Mit den eigenen Pflichten geht das in den Beförderungsbedingungen der Bahn implizit enthaltene SLA wesentlich nachsichtiger um. Die Verfügbarkeit pünktlicher Zugverbindungen lag im September 2024 gemäß offizieller Bahnstatistik nach vielen statistischen Tricksereien mit 67,9% „Reisendenpünktlichkeit“ sehr weit unter 100%, wobei Reisende mit 14:59 Minuten Verspätung erstaunlicherweise noch als pünktlich angekommen gezählt werden. Erst bei einer Verspätung von mehr als einer Stunde wird eine Vertragsstrafe in Höhe von 25% des gezahlten Beförderungsentgelts fällig, falls der Entschädigungsbetrag mindestens vier Euro beträgt. Das gilt nur bei nachweisbarem Verschulden der Bahn. Strafbar machen sich die Verantwortlichen aber auch dann nicht. Der zivilrechtliche Anspruch der Bahn und die strafrechtliche Verfolgung, wenn die IT der Kunden nicht funktioniert, sind dagegen verschuldensunabhängig.

Regelmäßige Bahnkunden, deren Smartphone keine 100% Verfügbarkeit gewährleisten kann (alle), müssen rein statistisch betrachtet früher oder später mit einer Anzeige gemäß § 265a StGB rechnen, mindestens aber eine als „Bearbeitungsgebühr“ bezeichnete Vertragsstrafe in Höhe von sieben Euro bezahlen, wenn die von der Bahn kostenlos genutzte Kunden-IT nicht die von der Bahn verlangte Verfügbarkeit erreicht. Die „Bearbeitungsgebühr“ wird sogar fällig, wenn die Kunden-IT einwandfrei funktioniert, die IT-Systeme der Bahn aber nicht korrekt arbeiten.

Mir erscheint es grob sittenwidrig, dass das Monopolunternehmen Bahn und der Minister für Zwangsdigitalisierung die Bahnkunden in solche Knebelverträge zwingen, deren Folgen diese in der Regel nicht richtig abschätzen können, und durch die sie sich der Strafverfolgung aussetzen, wenn ihre private IT-Ausrüstung die völlig überzogenen Vorgaben der Bahn nicht erfüllen kann. Die Bahn hätte durchaus nicht allzu aufwendige Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass Kunden keine Strafe zahlen und sich nicht strafbar machen, wenn ihre IT einmal nicht funktioniert. Aber das Management spart sich gern den Aufwand und Wissing ist es erkennbar egal.

Kleiner Service für Bahnkunden

Für ein Unternehmen, das seine Kunden in die Digitalisierung zwingt, ist die Leistung der Bahn auf dem Gebiet der IT unzureichend. Die Software für die Fahrplanauskunft und Buchung lässt viele Wünsche offen. So kann man bei der Verbindungssuche auf bahn.de die Ergebnisse nur entweder auf Direktverbindungen oder auf beliebig viele Umstiege einschränken. Bei Fahrten, für die es keine Direktverbindung gibt, bekommt man teilweise fast alberne Resultate angezeigt, zum Beispiel teure Verbindungen mit fünf Umstiegen obwohl es auch günstigere und schnellere Verbindungen mit zweimaligem Umsteigen gibt, die allerdings nicht in der Auswahl auftauchen.

Um zu vermeiden, dass man eine attraktive Verbindung nicht zu sehen bekommt, die vielleicht nur wenige Minuten länger dauert als eine viel teurere mit mehr Umstiegen, empfiehlt es sich grundsätzlich, die Suche nicht nur mit der Standardeinstellung zu tätigen, sondern zusätzlich noch einmal mit Deaktivierung der Einstellung „schnellste Verbindung anzeigen“.

Resümee

Digitalisierung hat das Potenzial vieles einfacher und angenehmer zu gestalten. Wenn das bei einer konkreten Anwendung der Fall ist, wird das Neue gern angenommen. Geht man dagegen wie Wissing und die Bahn an die Sache heran, und beseitigt die althergebrachten, nichtdigitalen Verfahren, dann muss sich das Neue nicht bewähren. Egal wie schlecht es gemacht ist, oder wie einseitig es dafür genutzt wird, die Gewinne großer Konzerne zulasten der Bevölkerung zu mehren, die Menschen müssen es nutzen. Die Digitalstrategie der Regierung, die Wissing vorantreibt, geht davon aus, dass mehr Digitalisierung immer besser ist. Das ist Unsinn. Ob Digitalisierung gut oder schlecht ist, hängt davon ab, wie sie konkret umgesetzt wird. So wie Wissing und die Bahn sie umsetzen, ist sie schlecht.

*Der Autor ist Diplom-Informatiker und war beruflich lange Jahre mit Sicherheit und Benutzerfreundlichkeit von Netzanwendungen befasst.

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