Noch nie gab es in den USA so viele Massenmorde wie in diesem Jahr. Bei 41 Attacken mit mindestens vier Opfern starben 2019 insgesamt 211 Menschen, ganz überwiegend durch Schusswaffen. Andernorts würde man nach so einer Nachricht erwarten, dass Forderungen nach schärferen Beschränkungen für Schusswaffen kräftigen Auftrieb bekommen. In den USA passiert typischerweise das Gegenteil, haben wissenschaftliche Studien ergeben…
Erst im November lief in den USA wieder einmal ein Jugendlicher in einer Schule Amok. Der Täter erschoss in der Saugus High School in der Nähe von Los Angeles zwei Jugendliche und verletzte andere zum Teil schwer. Wie nach jedem dieser Vorfälle wurden in den Medien und von zumeist demokratischen Politikern Forderungen nach schärferen Waffengesetzen laut. Die „New York Times“ schrieb resignierend, Kalifornien habe zwar relativ strikte Waffengesetze, aber das könne Waffen aus anderen Bundesstaaten nicht draußen halten.
Ausgerechnet am Tag des Amoklaufs hatte der demokratische Senator Chris Murphy versucht, einem Gesetz, das umfangreiche Hintergrundchecks bei allen Waffenkäufern vorschreibt, den Weg im Senat zu ebnen und scheiterte am Widerstand der Republikaner. Während er seine Protestrede hielt, kam die Nachricht von dem neuen Amoklauf. Eine Reihe von restriktiven Gesetzen wurde schon vor Monaten im Repräsentantenhaus verabschiedet. Diese werden aber vom republikanisch kontrollierten Senat nicht behandelt.
Fast nirgends gibt es so viele Waffen in der Bevölkerung wie in den USA und fast nirgends werden auch nur annähernd so viele Menschen Opfer dieser Waffen. Und doch gibt es nur immer mehr Waffen. Die Politik scheint dagegen machtlos oder desinteressiert.
Studie zu Reaktion der Politik auf Amokäufe
Drei Betriebswirte der Universitäten Harvard und UCLA haben mit einer ausgefeilten statistischen Analyse aufgeklärt, wie die Politik in den Bundesstaaten reagiert. Das Ergebnis ist spektakulär. Wenn die Demokraten im betreffenden Bundesstaat an der Regierung sind, passiert im Durchschnitt nach einem Amoklauf nichts, was die Waffengesetze merklich restriktiver oder lockerer machen würde. Wenn die Republikaner an der Regierung sind, werden die Waffengesetze gelockert.
In Kalifornien ist der Demokrat Gavin Newsom Gouverneur. Er sagte nach dem Amoklauf: „Ich verfolge den Vorfall sehr genau, und meine Verwaltung arbeitet eng mit den lokalen Polizeibehörden zusammen.“
Um zu ihrem überraschenden Ergebnis zu kommen, werteten Michael Luca, Deepak Malhotra und Christopher Poliquin Datenbanken aus und zählten die Gesetzesvorschläge (Bills). Sie stellten zunächst fest, dass nach einem Massaker in dem betreffenden Staat 15 Prozent mehr Gesetzesvorschläge zur Schusswaffenregulierung verhandelt werden als in „normalen“ Jahren. Je höher das Medieninteresse, desto größer nachher die Aktivität der Gesetzgeber. Tote aufgrund von Amokläufen haben der Analyse zufolge eine hundert Mal stärker antreibende Wirkung auf die Gesetzgeber als die ungleich zahlreicheren „normalen“ Waffenopfer. Rund 30.000 Bürger sterben in den USA pro Jahr durch Schusswaffen, davon 56 Prozent durch Selbstmord und 40 Prozent durch Mord und Totschlag. Der mit seinem Gesetz zu Hintergrundchecks gescheiterte Senator Murphy sagte, er glaube nicht, dass der Fall Saugus High etwas bewirken werde: „Ich wünschte, es wäre anders, aber das Interesse der Republikaner an Waffengesetzen wird nur von Opferzahlen über 15 geweckt.“ Man werde zwar irgendwann wieder über Hintergrundchecks reden, aber wohl erst nach dem nächsten großen Massaker.
Waffen sind das Thema der Republikaner
Tatsächlich kommt es stark auf die Republikaner an. Die zusätzliche Gesetzesaktivität nach Massakern findet vor allem dort statt, wo sie regieren. Von den über 20.000 relevanten Gesetzesvorschlägen im Untersuchungszeitraum 1990 bis 2014 wurden 3.200 Gesetz.
Die Zahl der verabschiedeten Waffengesetze steigt nach Amokläufen in republikanischen Staaten um ein Drittel, in demokratisch kontrollierten nur um sieben Prozent. Besonders interessant, weil unerwartet, ist die Richtung: Republikanische Regierungen steigern die Anzahl von Gesetzen, die Waffenrestriktionen lockern, nach Massakern um über 100 Prozent, demokratische senken deren Anzahl nur geringfügig. Gesetze, die die Waffenregulierung verschärfen, gibt es nach Massakern nicht systematisch mehr oder weniger, unabhängig davon, wer regiert.
Das überraschende Ergebnis erklären die Autoren mit Rückgriff auf etablierte politikwissenschaftliche Erkenntnisse. Waffengesetze sind ein Thema, bei dem die Republikanische Partei – anders als die Demokraten – bei ihren Anhängern im Ruf steht, darin kompetent und erfolgreich zu sein. Deshalb betont sie es und wird aktiv, wenn die Öffentlichkeit nach einem aufsehenerregenden Amoklauf wieder einmal fordert, dass etwas geschehen muss. Sie hat eine Wählerbasis, die mehrheitlich für freizügiges Waffenrecht ist, und – wider alle Evidenz – der These anhängt, gegen Waffen in den Händen der bösen Menschen hülfen vor allem mehr Waffen in den Händen von guten Menschen.
Diese Pro-Schusswaffen-Fraktion in der Bevölkerung ist auch viel besser organisiert, vor allem in der mächtigen National Rifle Association, einer Organisation für das Sportschießen und Training an Schusswaffen. Sie ist auch viel eher geneigt, das Waffenrecht zur Grundlage für ihre Wahlentscheidung zu machen. So kommt es denn, dass öffentliche Aufregung über Amokläufe regelmäßig in Gesetze zur Lockerung der Waffengesetze mündet. Typische Gesetze dieser Art sind die Erlaubnis für Lehrer und andere Freiwillige, in der Schule Waffen zu tragen, oder die Aufhebung des Verbots, auf Schulparkplätzen Gewehre zu lagern.
„Ich habe zu viele solche Vorkommnisse als Gouverneur erleben müssen, ich bin dieses Sterben in Texas leid.
Typisch war die Reaktion des Gouverneurs von Texas, Greg Abbott, auf den Amoklauf in Odessa im September. „Ich habe zu viele solche Vorkommnisse als Gouverneur erleben müssen, ich bin dieses Sterben in Texas leid“, sagte er. Abbott unterzeichnete eine ganze Reihe von Gesetzen und Verfügungen zur Lockerung von Waffenrestriktionen. Er ergriff aber keine der Maßnahmen, die Kriminologen für wirksam halten. Dazu gehört die Beschränkung der erlaubten Waffenmagazingrößen, damit weniger oft in kurzer Zeit geschossen werden kann ohne nachzuladen.
Das alltägliche Sterben ist uninteressant
Kriminologen beklagen, dass die Fokussierung von Medien und Politik auf Amokläufe dazu führe, dass bekannte Maßnahmen nicht einmal diskutiert werden, die die Opferzahlen des zahlenmäßig viel wichtigeren alltäglichen Schusswaffengebrauchs wirksam eindämmen könnten. Das Argument, Waffen würden ihre Inhaber schützen und Leben retten, stimme allenfalls in Einzelfällen, wie Frederic Lemieux von der George Washington University aus der Forschung weiß.