Eine deutschlandweit für fast alle Verkehrsmittel nutzbare Monatskarte wurde erstmals im Jahr 2022 als „9-Euro-Ticket“ eingeführt. Sie konnte an jedem Fahrkartenautomaten problemlos gekauft werden. Auf der Zeitkarte musste lediglich der Name eingetragen und ein Ausweisdokument mitgeführt werden.
2023 wurde diese Monatskarte in ein Abonnement mit dem Namen Deutschlandticket für 49 Euro umgewandelt und aus dem Angebot der Fahrkartenautomaten entfernt. Ein auf Papier ausdruckbares Deutschlandticket zu erwerben, wurde ausgesprochen schwer gemacht, weil die Deutsche Bahn und die meisten Verkehrsverbünde es nur noch über Handyapps verkauften. Nur mit viel Geduld beim Suchen konnte man wenige Anbieter finden, bei denen die Fahrkarte zwar auch nur im Internet aber ohne Handyzwang erwerbbar war.
Ein Anbieter war die Transdev Vertrieb GmbH unter www.deutschlandticket.de. Nach Abschluss des Abos erhielt man Sekunden später die Monatsfahrkarte als ausdruckbares PDF-Dokument per E-Mail zugeschickt und konnte auch ohne Handy reisen. Mit dem 1.5.2024 wurde diese Möglichkeit abgeschafft. Stattdessen wird auf die Nutzung einer im Google bzw. Apple App Store beziehbaren App des Unternehmens verwiesen, in der das Deutschlandticket zu speichern sei. In seinen Kundenhinweisen schreibt Transdev:
„Wieso kann ich mein Deutschlandticket nicht mehr in Papierform nutzen? / Ich habe kein Smartphone. Kann ich das Deutschlandticket auch weiterhin nutzen?
Die bundeseinheitlichen Tarifbestimmungen für das Deutschlandticket sehen vor, dass ab dem 01.05.2024 keine Tickets in Papierform als gültiger Fahrausweis mehr anerkannt werden. Daher übersenden wir dir in Zukunft vor Monatswechsel ein PDF-Dokument als Bescheinigung für dein aktives Abonnement auf Deutschlandticket.de. Diese Abobestätigung dient als Zahlungsnachweis für dein Deutschlandticket. Bitte beachte, dass dieses Dokument bei einer Ticketkontrolle nicht als gültiger Fahrausweis genutzt werden kann.“
Transdev verweist auf „bundeseinheitliche Tarifbestimmungen“, die seit Mai vorgäben, dass diese Monatskarte nur noch mit Handy oder Chipkarte nutzbar ist. Das ist mindestens unpräzise. Das Problem liegt tatsächlich in den „Speziellen Tarifbedingungen für das Deutschland-Ticket der Deutschlandtarifverbund GmbH“, die die allgemeinen „Tarifbedingungen für das Deutschland-Ticket“ ergänzen. Beide sind im gleichen Dokument zu finden.
In den speziellen Bedingungen, die ab 1. Mai gelten, heißt es unter Nr. 2.2 :
„Das Deutschland-Ticket der Deutschlandtarifverbund GmbH wird über deren Vertriebspartner ausschließlich als Handy-Ticket ausgegeben. Für das Deutschland-Ticket der Deutschlandtarifverbund GmbH werden keine Papiertickets mit Barcode ausgegeben“
Die Transdev gehört ebenso wie viele Verkehrsverbünde und sonstige Organisationen, die das Deutschlandticket vertreiben, zu den Vertriebspartnern der Deutschlandtarifverbund GmbH. Deren mit Abstand größter Anteilseigner ist die Bahn-Tochter DB Regio AG. Vorsitzende des Aufsichtsrats ist eine Transdev-Managerin.
Verkehrsverbünde, die nicht Vertriebspartner der Deutschlandtarifverbund GmbH sind können weiterhin eine Chipkarte als Alternative zum Smartphone-Ticket anbieten, müssen das aber nicht.
Transdev schreibt zu Chipkarten-Alternative:
„Kann ich mein Deutschlandticket als Chipkarte bekommen?
Als Unternehmen haben wir uns dazu entschieden, das Deutschlandticket nicht als Chipkarte auszugeben. Wir fokussieren uns auf eine die Ticketausgabe für digitale Medien, wie unsere Deutschlandticket.de App oder die Ticketablage in die Wallet.“ (Rechtschreibung wie im Original)„
Das bedeutet, dass es bei vielen Anbietern des Deutschlandtickets auf einen Handyzwang hinausläuft. Millionen Menschen, die sich kein Smartphone leisten, nicht damit umgehen können, oder Vorbehalte gegen die ständige Datenweitergabe durch diese Geräte und Apps haben, werden von dem Angebot ausgeschlossen.
Da viele Semestertickets für Studenten als rabattierte Deutschlandtickets ausgegeben werden, sind diese immer dann vom Smartphone-Zwang betroffen, wenn der Vertragspartner ein Vertriebspartner der Deutschlandtarifverbund GmbH ist. Das scheint die Regel zu sein.
Die Fahrkartenkontrolle kann kaum der Grund für die Umstellung sein, denn den Lesegeräten der Kontrolleure ist es gleichgültig, ab sie einen QR-Kode von Papier oder einem Handybildschirm ablesen. Ein Schaffner, den ich nach dem Sinn befragte, konnte sich diesen auch nicht erklären.
Die Abschaffung eines Deutschlandtickets in Papierform muss Betroffenen deshalb als Schikane und Nötigung zur Nutzung eines Smartphones beim Reisen erscheinen. Innerhalb von nur zwei Jahren wird von Verantwortlichen der Verkehrspolitik eine für alle am Fahrkartenautomaten erwerbbare Fahrkarte in einen vom Vertriebsanbieter verhängbaren Handyzwang verwandelt. Ob diese viele Menschen diskriminierenden Regelungen die vielbeschworene Verkehrswende befördern, darf bezweifelt werden.
Die Verantwortlichen
Wir haben das FDP-geführte Ministeriums für Digitalisierung und Verkehr gefragt, wie es die Neuregelung der Deutschlandtarifverbund GmbH beurteilt, über deren Vertriebspartner das Deutschlandtickets ausschließlich als Handy-Ticket ausgegeben wird. Insbesondere im Hinblick darauf, dass damit Millionen Menschen, insbesondere alte Menschen, die nicht mit Smartphones umgehen können und Menschen, die diese wegen Datenschutzbedenken ablehnen, vom Bezug eines Deutschlandtickets ausgeschlossen werden. Außerdem fragten wir, welche Rolle das Ministerium dabei spielte. Das Ministerium antwortete:
„Die Digitalisierung bietet die Chance, die öffentlichen Verkehrsdienstleistungen für die Menschen attraktiver zu gestalten. Gerade im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) besteht hier großer Nachholbedarf. Deshalb hat sich die Bundesregierung bei der Einführung des Deutschlandtickets dafür eingesetzt, dass dieses Ticket von Anfang ausschließlich in digitaler Form (Smartphone-App oder Smartcard) angeboten wird. Das Deutschlandticket hat der weiteren Digitalisierung der Branche damit einen deutlichen Schub verliehen.“
Mit anderen Worten: Die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger müssen hinter dem politischen Ziel der Digitalisierung zurückstehen. Wenn sich digitale Angebote nicht von selbst durchsetzen, werden sie den Bürgern aufgezwungen.
„Für Menschen, die kein Smartphone oder keinen Zugang zum Internet besitzen, deren digitale Möglichkeiten eingeschränkt sind oder die ihr Smartphone nicht für diesen Zweck benutzen möchten, besteht die Möglichkeit, sich an ein anderes Verkehrsunternehmen zu wenden und das Deutschlandticket als Chipkarte zu erhalten. Ein Smartphone ist somit keine Voraussetzung dafür, das Angebot zu nutzen.“
Die Millionen Menschen, „die kein Smartphone oder keinen Zugang zum Internet besitzen“ und somit bei der Bahn (Deutschlandtarifverbund GmbH) kein Deutschlandticket mehr bekommen dürfen, sollen also erst herausfinden, dass es die Möglichkeit von kartenbasierten Deutschlandtickets noch gibt. Und außerdem, bei welchen Verkehrsgesellschaften irgendeiner Region fernab ihres Wohnorts es diese noch gibt und ihr Deutschlandticket als Chip-Karte dort bestellen. Versuchen Sie das einmal ohne Smartphone und Internetzugang. Dieser Rat grenzt an offenen Zynismus gegenüber alten Menschen und Menschen ohne Internetzugang.
Die Frage nach einer direkten oder indirekten Beteiligung des Ministeriums an der Entscheidung der Deutschlandtarifverbund GmbH, keine Chipkarten und keine Deutschlandtickets in Papierform mehr auszugeben, beantwortete das Ministerium nicht. Der mit Abstand größter Anteilseigner der GmbH ist die DB Regio AG, eine Tochter des Staatsunternehmens DB AG unter der Aufsicht des Bundes.
Auf die Frage hin, wie es sein könne, dass Transdev bis April 2024 das Deutschlandticket in Papierform ausgab, obwohl das in den Tarifbestimmungen des Deutschlandtickets mit Beginn des Jahres ausgeschlossen wurde, verwies das Ministerium auf die Zuständigkeit der Länder für die Kontrolle der Einhaltung dieser Bestimmungen.
Die DB antwortete nicht auf unsere Anfrage, wie sie den Smartphonezwang beim Deutschlandticket beurteilt, den ihre Tochter DB Region mitbeschlossen hat und welche Rolle sie selbst dabei spielte.
Was kann man tun?
Die Bahn hatte mit Zustimmung des Ministeriums für Digitalzwang und Verkehr zuvor auch geplant, die BahnCard25 und BahnCard50 nur noch für das Smartphone anzubieten. Nachdem dieser Blog über die Pläne berichtet hatte, machten viele Leser den politisch Verantwortlichen Druck. Das hat gefruchtet: Die Bahn machte einen Rückzieher:
Für viele Menschen, insbesondere Pendler und Einkommensschwache ist das Deutschlandticket wichtiger als die BahnCard. Die öffentliche Empörung über die um ihre Mandate und Posten bangenden Politiker sollten also beim Deutschlandticket mindestens ebenso groß sein.
Als Vertreter des Anteilseigners Bund sitzen im Aufsichtsrat der Bahn:
- Anja Hajduk, Staatssekretärin im grün geführten Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz,
- Susanne Henckel, Staatssekretärin im FDP-geführten Bundesministerium für Digitales und Verkehr,
- Michael Sven Puschel, Leiter der Abteilung Bundesfernstraßen im FDP-geführten Bundesministerium für Digitales und Verkehr,
- Bernd Reuther, MdB (FDP)
- Stefan Gelbhaar, MdB (Grüne),
- Dorothee Martin, MdB (SPD).
Verkehrs- und Digitalisierungs(zwang)minister ist Volker Wissing (FDP). Er ist auch Abgeordneter des Bundestags und kann somit über Abgeordnetenwatch.de befragt werden, wie er es rechtfertigt, dass das politische Ziel der Digitalisierung zum Preis des Quasi-Ausschlusses von Millionen Bürgern von Angeboten der Daseinsvorsorge durchgesetzt werden soll.
Geschäftsführer der Transdev ist Christian Kleinenhammann. Vorstandsvorsitzender der DB AG ist Richard Lutz. Vorstandsvorsitzende der DB Regio AG ist Evelyn Palla.
Die Seniorenverbände sind bisher bemerkenswert zahm, wenn es darum geht, gegen die eklatante und zunehmende Diskriminierung nicht digitalaffiner alter Menschen zu protestieren. Lediglich eine Pressemitteilung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) zum Start des Deutschlandtickets war auffindbar, in dem dieser höflich anregt, auch ein Papierticket anzubieten und den „Geheimtipp“ parat hat, dass man die Chipkarte auch bei Verkehrsverbünden aus anderen Regionen bekommen könne. Vielleicht kommen die Verbände ja in die Gänge, wenn ihre Mitglieder sie daran erinnern, dass sie für diese arbeiten und nicht für die Regierung.
Mitarbeit: Norbert Häring