Lieber Herr Häring,
es ist fraglos ein interessantes und wichtiges Buch, das Sie hier vorstellen. Entlarvend die Aussagen von Frau Reschke, die ich früher geschätzt habe.
Mir stellt sich inzwischen allerdings die Frage, inwieweit es diesen Informationsjournalismus je gegeben hat bzw. wann er uns abhanden kam. Vermutlich nahm er in dem Maße ab, wie sich die politische Landschaft von zwei Lagern zu einem Einheitsbrei gewandelt hat. Ein wesentlicher Faktor ist vermutlich auch der jeweilige Alarmzustand, in den wir versetzt werden.
Waren die Krisen früher eher punktuell, wie bei dem angeführten Beispiel der Schuldenkrise, sieht es inzwischen so aus, daß sich der Alarm zum Dauerzustand entwickelt und mit ihm die Ablösung des Journalismus durch permanente, zuweilen unerträgliche, die Intelligenz beleidigende Propaganda.
Daß das Switchen von Information zu Propaganda im Alarmzustand keineswegs ein neues Phänomen ist, wurde mit gerade wieder deutlich, bevor ich ihre Buchvorstellung gelesen habe. Als Zeugen dafür möchte ich Peter Scholl-Latour anführen, der für mich eine Art Refugium des Informationsjournalismus darstellt. Glücklicherweise hat er eine Menge Bücher hinterlassen und eines davon habe ich heute zu Ende gelesen. Es ist 1999 erschienen, heißt „Allahs Schatten über Atatürk“ und enthält ein Kapitel über den Kosovo-Konflikt, aus dem ich zitieren möchte:
„Was nun die Kriegsberichterstattung betraf, so wunderten sich diverse deutsche Truppenkommandeure über das Desinteresse der meisten aus der Heimat angereisten Reporter am strategischen und taktischen Geschehen, sogar an der Entstehungsgeschichte dieses Balkan-Konfliktes. Gefragt waren nur noch ‚human interest stories‘ und die Schilderung möglichst grausiger Einzelschicksale. Es entstand die seltsame Kategorie des ‚humanitären Korrespondenten‘, nachdem sich sogar deutsche Minister zu Vergleichen zwischen Kosovo und Auschwitz verstiegen hatten und Konzentrationslager erfanden [Scharping mit seinem Foto im Bundestag, T.S.], die sich nach Auskunft der KFOR-Truppen als gezielte Irreleitung Jamie Sheas erwiesen. Die Wirklichkeit ist grauenhaft genug und bedarf keiner Übertreibung.
Schon während meines Bosnien-Aufenthalts 1992 und 1994 war mir bewußt geworden, daß die Heimatredaktionen an einer Berichterstattung über die historisch-religiösen Hintergründe des Jugoslawien-Konfliktes, seine tragische Zwangsläufigkeit, ja nicht einmal an einer Auflistung der kriegerischen Optionen ernsthaft interessiert waren. Gewünscht waren ‚crime and horror‘. Wer sich überschlug in der Darstellung von Scheußlichkeiten, der hatte die Nase vorn, der brachte, so nahmen die Manipulatoren der öffentlichen Meinung wenigstens an, die hohen Einschaltquoten, um die sich alles drehte. …, daß der Voyeurismus auf der ganzen Linie triumphiert und die Würde der betroffenen Menschen oft durch eine rücksichtslose Kameraführung oder Befragung zutiefst verletzt wird, das wollten sich offenbar nur die wenigsten eingestehen. Im Kosovo-Konflikt reichte die schreckliche Realität der Massenvertreibung wohl nicht aus.
Wer nicht das Schwergewicht seiner Berichterstattung auf anklagende Betroffenheit und deklamatorische Empörung ausrichtete, fand wenig Beifall. Der Abgrund, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft auf europäisch-balkanischem Boden auftat, wurde im erhabenen Tonfall der ‚political correctness‘ oder im stammtisch-ähnlichen Tollhaus der Talkshows abgehandelt. … In einem psychologischen Umfeld, das jahrelang durch große deutsche Zeitungen im Sinne des k.u.k-Geprahles ‚Serbien muß sterbien‘ konditioniert worden war, geriet Peter Handke, der auf dem Balkan wirklich nicht seine beste schriftstellerische Leistung erbrachte, zwangsläufig in die Rolle des Don Quixote, des ‚Ritters von der traurigen Gestalt‘.“
An anderer Stelle weist Scholl-Latour noch darauf hin, daß niemand großes Interesse am Flüchtlingstreck von 200.000 aus der Krajina vertriebenen Serben gehabt habe.
Storytelling, regierungsnah, einseitig, manipulativ, Feindbild und Auschwitz (wer es nicht glaubt, der hitlert), alle diese Elemente werden in diesem kurzen Abschnitt beschrieben, waren also schon vor dreißig Jahren gängige Praxis. Insofern wundert es mich inzwischen, daß man Scholl-Latour erst im vergangenen Jahrzehnt wegen unbotmäßiger Einschätzungen nicht mehr zu den Propagandastammtischen eingeladen hat.
Viele Grüße
Thomas Seng