Beinahe täglich äußern sich Entscheidungsträger aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zu den Konsequenzen aus der Coronakrise. Dabei überwiegt nach wie vor das Primat der Industrie.Friedrich Merz, einer der Kandidaten für den CDU-Vorsitz und die Kanzlerschaft, wartete schon im Frühjahr mit der Empfehlung auf, dem produktiven Gewerbe nach Corona absolute Priorität einzuräumen. Die These des Freiburger Ökonomen Bernd Raffelhüschen blieb unwidersprochen, „wir leben nicht davon, dass wir uns gegenseitig umeinander kümmern, sondern davon, dass wir ökonomischen und technischen Fortschritt generieren“.
Besagen unsere Lockdown-Erfahrungen nicht etwas ganz anderes? Dass fast alles heruntergefahren werden kann, nur nicht die Arbeit, die mit der unmittelbaren Sorge für das tägliche Leben zu tun hat: die Gesundheitsversorgung, die Betreuung von Kindern und hilfebedürftigen Menschen oder die Sorge für die täglichen Nahrungsmittel und Hygiene.
Die Industrie- und Technikfixierung hat in Deutschland eine lange Tradition. 1994 formulierte der ehemalige Arbeitgeberpräsident Hans-Olaf Henkel, dass wir nicht auf Dauer davon leben könnten, dass wir uns gegenseitig die Haare schneiden. Abgesehen davon, dass niemand so etwas je behauptet hat, griff der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder diese verunglückte Metapher im Bundeswahlkampf 2002 bei einem Auftritt vor den Opelianern erneut auf, um die Vorrangstellung der Industrie zu betonen.
Wer in Deutschland Autos oder Parkhäuser baut, gilt folglich als Leistungsträger und speist sein Selbstbewusstsein aus der Überzeugung, dass ohne ihn aller Wohlstand im Orkus versänke. Wer sich um pflegebedürftige Alte kümmert, Kindern das Schreiben beibringt oder uns die Haare schneidet, den beschleicht das ungute Gefühl, dass er oder sie eine Art „sozialen Luxus“ produziert, der von den Auto- und Parkhausbauern mitfinanziert wird.
Das ist aber vollkommen falsch, wie uns doch diese Pandemie gelehrt hat: Die nicht oder schlecht bezahlte Care-Arbeit in privaten Haushalten, im öffentlichen Dienst und in Unternehmen bildet das Fundament unseres Wirtschaftssystems und muss endlich den Stellenwert erhalten, der ihr zukommt. In den ersten Monaten der Pandemie wurde uns schlagartig klar, wer hier eigentlich den Laden zusammenhält. Das allabendliche Klatschen vom Balkon war ehrlich gemeint. Doch was ist seither über solche Symbolik hinaus passiert? Herzlich wenig.
Deshalb ist eine Neukonzeption von Wirtschaft überfällig, in der die wechselseitige Abhängigkeit von (ver-)sorgenden Dienstleistungen und industrieller Produktion verankert wird. Und zwar auf Augenhöhe. Ein pandemieresistentes Wirtschaftssystem kommt um diese Erkenntnis nicht herum. Dazu müsste im Bundeskanzleramt ein Care-Gipfel stattfinden.
Beispiel Biontech – Ohne Care-Arbeit kein Impfstoff
Dem türkischstämmigen Ehepaar Ugur Sahin, 55, und Özlem Türeci, 53, gelang es in kürzester Zeit, einen Corona-Impfstoff zu entwickeln und dafür als Erste eine Zulassung zu erhalten. Deutschland, das sich nach wie vor schwer damit tut, ein Einwanderungsland zu sein und gezielt in die Potenziale von Kindern mit Migrationsgeschichte zu investieren, feiert die beiden zu Recht als Heldenpaar.
Doch damit wir mehr als eine aufbauende Heldengeschichte aus diesem Erfolg ziehen können, sollten wir mehr wissen, als wir bislang erfahren. Was braucht es, damit Migrantenkinder so erfolgreich sein können? Was braucht es generell für unternehmerische Höchstleistungen?
Sahin kam als Vierjähriger mit seiner Mutter nach Köln, wo sein Vater bei Ford am Fließband arbeitete. Wäre es nach Sahins Lehrer gegangen, hätte der Junge nach der Grundschule die Hauptschule besucht. „Erst durch das Einschreiten eines deutschen Nachbarn konnte ich aufs Gymnasium“, erzählt der Biontech-Gründer heute.
Türecis studierte Türeci Medizin – ebenso wie Sahin. 2002 heirateten sie und setzten ihre Wissenschaftskarriere fort. 2008 gründeten sie die Firma Biontech. Eine ehemalige Kollegin bezeichnete beide als „brillante Arbeitstiere“. Dazu passt Türecis Aussage über sich selbst und ihren Partner: „Unsere Arbeit hört nicht um 17 Uhr auf, wir gehen darin auf“, sagte sie.
Allerdings: Das Paar hat eine gemeinsame Tochter. Das wirft die Fragen auf: Wer hat sich um das Kind gekümmert und hat dadurch möglich gemacht, dass die Eltern bis in die Nacht arbeiteten? Gab es eine Großmutter, eine Kinderbetreuung, eine Haushaltshilfe, die sie entlastet, die gekocht und für blütenweiße Arztkittel gesorgt haben? Gab es einen Ganztagskindergartenplatz? Oder hat sich das Paar die Arbeit des Alltags fair geteilt? Wie geht das mit überlangen Arbeitszeiten im Labor?
Oder ganz generell: Was muss gegeben sein, damit Leute mit hohem Potenzial nicht darauf verzichten, dieses auszuschöpfen, etwa weil sich das schlecht mit familiären Pflichten vereinbaren lässt?
Es ist vielleicht verständlich, dass das Erfolgspaar seine Familieninterna nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten will. Dennoch sollte bei den Lehren aus dieser Erfolgsgeschichte Folgendes nicht ausgeblendet werden: Die verlässliche Hintergrundarbeit ist das unabdingbare Fundament dieser Erfolgsgeschichte.
Wenn wir mehr solche Erfolgsgeschichten hören wollen, müssen wir auch dafür sorgen, dass es kein Privileg von Menschen mit hohem Einkommen oder günstigen familiären Verhältnissen ist,
Uta Meier-Gräwe war bis 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Beraterin der Bundesregierung.