Gastbeitrag: Die griechische Tragödie und ihe Lösung

 Von Michael Bernegger*. Dieser Artikel liefert eine dem Konsens widersprechende Analyse der Wirtschaftskrise Griechenlands. Im Zentrum steht dabei die völlig falsche Charakterisierung der Wirtschaft als nicht wettbewerbsfähig und exportschwach, aufgrund falscher Zahlen, sowie die verheerende Kreditklemme durch einen Schuldenschnitt, in dessen Gefolge die dringend nötige Rekapitalisierung der Banken sich viel zu lange verzögerte.

Diese Griechenland-Krise scheint dem Skript einer antiken griechischen Tragödie zu folgen. Die Tragödie führt immer tiefer in einen Konflikt hinein, der für die beteiligten Personen unauflöslich wird und in einem Zusammenbruch, einer Katastrophe endet. Es gibt keinen Weg, nicht schuldig zu werden, ohne seinen inneren Werte zu verleugnen und sein äusseres Ansehen zu verlieren. Der Artikel versucht, für alle Beteiligten einen Weg aufzuzeigen, die Katastrophe zu vermeiden, ohne sich verleugnen zu müssen. In ausführlicherer Form wird diese Analyse in den nächsten Tagen als Occasional Paper bei Social Europe erscheinen.

Diese Analyse ist die nicht-technische Zusammenfassung eines vom Autor erhältlichen, längeren Hintergrundtextes, der die Hauptaussagen des Artikels ausführlich und detailliert belegt, unter anderem mit Graphiken und Tabellen.

 

Der Troika-Politik in Griechenland liegt ein fataler Statistik-Irrtum zugrunde

 

Vordergründig geht es in Griechenland um eine Staatsschuldenkrise. Sie resultiert scheinbar aus zu expansiver Finanzpolitik und einem Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit seit dem Start des Euro. Die Wettbewerbsschwäche sei zu stark gestiegenen Lohnkosten bei schwacher gesamtwirtschaftlicher Produktivitätsentwicklung zuzuschreiben. Griechenland sei international nicht wettbewerbsfähig, weil die internen Strukturen der Wirtschaft keine international wettbewerbsfähigen Industrien zuliessen oder unterstützten. Bürokratie, Fehlregulierung vor allem im Arbeitsmarkt, zu hohe Löhne und Kosten würden dies strukturell behindern. Deshalb anscheinend die periodischen Störungen, die das Land seit 2010 in immer kürzeren Intervallen an den Rand des Staatsbankrotts führen. Deshalb auch das strenge Austeritäts- und Deflationsprogramm, welches die Troika seit 2010 dem Land auferlegt.

 

Tatsächlich ist der Kernproblem ein ganz anderes: Griechenland ist ein Land mit sehr grosser und wettbewerbsfähiger Exportindustrie. Seine Handelsflotte ist seit den 1970er Jahren die grösste und leistungsfähigste der Welt. Der Tourismus hat innerhalb Europas eine sehr starke Positionierung. In den 2000er Jahren hat er sich erfolgreich vom Massen- zum Qualitätstourismus entwickelt, dies bei sehr wettbewerbsfähigen Preisen im oberen und vor allem im obersten Preissegment. Das Land verzeichnete einen Exportboom von 1999 bis 2008. Kein anderes Land Westeuropas mit der Ausnahme Norwegens erzielte auch nur annähernd vergleichbare Zuwächse im Export. Wegen konzeptionell falsch berechneter Zahlungsbilanz und Bruttoinlandprodukt wurde dieser Exportboom als wachsendes Leistungsbilanzdefizit und zu schwach wachsendes BIP ausgewiesen. In Wahrheit erzielte Griechenland bis 2008 hohe und steil anwachsende Überschüsse in der Leistungsbilanz, mehr als Deutschland. Dieser Exportboom war vor allem von der Handelsschifffahrt als dominierendem Wirtschaftszweig des Landes seit den 1960er Jahren getragen.

 

Die griechische Wirtschaftsstatistik ist aus konzeptionellen und machtpolitischen Gründen in einer gravierenden Weise verfälscht. Es wird dies im Hintergrundtext gezeigt für die beiden hauptsächlichen Exportindustrien, die Handelsschifffahrt (engl. merchant shipping) und den Tourismus. Beide werden im Rahmen der Zahlungsbilanz-Statistik von der griechischen Zentralbank erhoben. Die Handelsschifffahrt ist konzeptuell spezifisch in der Zahlungsbilanz Griechenland falsch abgebildet, und zwar seit sie in den 1960er Jahren nach Griechenland zurückkehrte, also seit mehr als 50 Jahren. Griechenland unterscheidet sich diesbezüglich grundlegend von allen anderen wichtigen Ländern mit einer Handelsflotte. Es hat dies mit der Währungsexposition, der Regulierung und Besteuerung des Sektors in Griechenland sowie mit dem geldpolitischen Regime Griechenlands bis 1994 zu tun. Das Problem ist global seit den 1980er Jahren bekannt als Phänomen der ‚Fehlenden Flotte’ (engl. „the missing fleet“), welche die Leistungsbilanzen sogar weltweit und keineswegs nur diejenige Griechenlands erheblich verzerrt. Anders als im Rest der Welt wurden in Griechenland bis 1998 nicht die Frachteinnahmen der Reederei aus dem Ausland als Exporte der Handelsschifffahrt ausgewiesen. Diese Exporte umfassten nur die Überweisungen von den im Ausland gehaltenen Dollarkonti der Reeder nach Griechenland. Diese so genannten Rimessen deckten nur die inländischen Faktorkosten ab – Löhne der Seefahrer, Salärzahlungen inklusive staatlicher Pensionsfonds NAT in Griechenland, in Griechenland ausbezahlte Vorleistungen sowie die Unternehmereinkommen und Dividenden. Alle Einnahmen in der Handelsschifffahrt sind in USD (früher auch in GBP) denominiert, weil die Frachtraten weltweit so gehandelt werden. Sie erfolgten exklusiv auf diese Dollarkonti der Reeder im Ausland, weil Griechenland seit 1932 bis und mit 1994 ein Regime mit Kapitalkontrollen hatte, welche keinerlei internationale Kapitaltransaktionen zuliessen. Die wirklich grossen Kostenstellen der Handelsflotte wie Ankauf der Schiffe, Amortisation und Verzinsung der Schiffskredite, Ankauf von Kraftstoff, operative Auslagen wie Hafen- und Kanalgebühren, Personalkosten für Nicht-Griechen tätigten die Reeder exklusiv von ihren im Ausland gehaltenen Dollarkonti. Mit dem Beitritt zum Euro hat sich die statistische Erfassung der Handelsschifffahrt in Griechenland durch die Zentralbank oberflächlich verbessert. Die Zahlungseingänge bei griechischen Banken werden durch ein 1999 neu eingeführtes Reporting-System (engl. International Transaction Reporting System, kurz ITRS) umfassend erfasst, was vorher nicht der Fall war. Auch wurde neu und zunehmend ein Teil der Frachteinnahmen aus dem Ausland effektiv auf Konti in Griechenland verbucht. Dies war Bedingung der in Griechenland domizilierten Banken für die von ihnen vor allem ab 2005/06 an die Schiffseigentümer reichlich vergebenen Kredite. Der Anteil der in der griechischen Zahlungsbilanz erfassten Exporte der Handelsschifffahrt stieg dadurch von ungefähr 10% im Jahr 1999 auf rund 25% im Jahr 2008. Der Grossteil der Exporte des Sektors, je nach Berechnungsweise ungefähr drei Viertel bis vier Fünftel, aber bleibt statistisch in der Zahlungsbilanz und in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgeschlossen. Die griechische Zentralbank agiert aus einer innenpolitischen Machtkonstellation heraus zögerlich und defensiv. Die dominierenden Frachteinnahmen auf den Dollarkonti im Ausland sind nach wie vor unerfasst. Sie betreffen hauptsächlich die unter fremder Flagge fahrenden Schiffe der griechischen Schiffseigentümer. Konzeptionell gehören sie nach den Handbüchern des IWF der Zahlungsbilanzstatistik von 1977, 1993 und 2008 (BPM 4 / 5 / 6) eindeutig zu den Frachterträgen des operativen Zentrums, und dies ist Piräus oder Athen. Abgeschwächt gelten ähnliche Erhebungsprobleme im Tourismus. Die Erhebungspraxis dort wurde bei der Einführung des Euro auf ein neues System – das Frontier Travel System (FTS) – umgestellt. Dieses ist aufgrund gravierender Mängel in der Tourismus-Statistik nicht in der Lage, qualitative Veränderungen wie den spektakulären Ausbau der Fünf-Sterne Hotellerie in den 2000er Jahren zu erfassen. Als Folge werden durchschnittliche Hotelpreise und Pro-Tag Ausgaben der Touristen verzerrt. Dadurch werden auch die Tourismusexporte absolut gesehen und in der zeitlichen Dynamik falsch abgebildet. Der Tourismus hatte in den 2000er Jahren einen Boom, der in zahlreichen Indikatoren, aber nicht in der Leistungsbilanz erscheint.

 

Die Exportindustrie Griechenlands ist sehr wettbewerbsfähig, sie ist auf überdurchschnittlich wachsende Sektoren der Weltwirtschaft ausgerichtet und somit gut positioniert. Aber sie ist zu wenig diversifiziert und vor allem dominiert von einem äusserst zyklischen Leitsektor, der Handelsschifffahrt. Im globalen Vergleich ist die griechische Flotte zudem auf die mit Abstand zyklischsten Segmente der Handelsschifffahrt, nämlich Tanker und Transportschiffe für feste Rohstoffen wie Eisenerz, Kohle konzentriert. Diese beiden Segmente sind seit 2008 einem extremen sektoralen Preiszerfall ausgesetzt, der alle Anbieter schwer trifft. Die gleiche Sequenz wie in den 1970er und frühen 1980er Jahre wiederholt sich: Starkes synchrones Wachstum der Weltwirtschaft, Vollauslastung der Kapazitäten, steiler Anstieg der Frachtraten, hohe Bestellungen sehr grosser Schiffe (frühe 1970er Jahre; zweite Hälfte 2000er Jahre), dann erster Erdölschock (1973;  2007/08), dann zweiter Erdölschock (1979/80;  2011-14), starke Verlangsamung der Nachfrage nach Seefracht und hohe Überkapazitäten, verbunden mit einem Zerfall der Frachtraten. Bei Tankern lagen 2014/15 die durchschnittlichen Frachtraten rund 30-40% unter dem Durchschnitt der 2000er Jahre, bei Transportern von Massenfrachtgütern rund 70-80%. Gegenüber den Spitzenwerten von 2008 beträgt der Rückgang sogar über 50% resp. 95%. Auch im Hotel- sowie im Restaurantbereich fielen die Preise um rund 20% gegenüber 2007/08. Der Zusammenbruch der Exporte Griechenlands ist ein zyklischer Exporteinbruch, der sektoral geprägt. Kein anderes Land hat, bedingt durch Konzentrationsrisiken, einen solchen Exporteinbruch erlitten. In diesen beiden Exportindustrien aber hat Griechenland schon in der Expansionsphase, und auch im Abschwung seit 2008 eindeutig die Wettbewerbsposition im internationalen Vergleich gestärkt. Als Volkswirtschaft ist Griechenland allerdings schwer geschwächt.

 

Ein extrem deflationärer Preisschock im Aussenhandel

 

Was Griechenland zunächst in die Knie gezwungen hat, ist ein extremer deflationärer Preisschock im Aussenhandel. Nicht nur für seine Handelsflotte, sondern für die griechische Wirtschaft insgesamt stellen nämlich die beiden Erdölschocks von 2007/08 und 2011-14 enorme Belastungen dar. Griechenland gab in den 1990er Jahren jährlich rund 1% des nominellen BIP für die Erdölrechnung (netto Energieimporte minus Energieexporte aus). In den Jahren 2006-14 stieg dieser Prozentsatz auf durchschnittlich über 4% des nominellen EDP-BIP an. In den Spitzenjahren überstieg dieser Anteil sogar 5%. Zusätzlich kommen noch die Auslagen für Kraftstoff der Handelsflotte hinzu, die weltweit und kaum je in Griechenland betankt wurde. Diese Auslagen sind nicht in der griechischen Handelsbilanz enthalten. Sie sollten in der Dienstleistungsbilanz, unter der Position Importe (Vorleistungen) von Schifffahrts-Dienstleistungen aufgeführt sein. Würden alle Frachteinnahmen der griechischen Reederei korrekt erfasst, und nicht nur rund ein Viertel, so stiege die Energierechnung effektiv auf rund 15-20% des korrekt berechneten nominellen BIP. Keine andere fortgeschrittene Volkswirtschaft hat eine derartige massive Abhängigkeit vom Erdölpreis wie Griechenland. Diese Abhängigkeit ist Ausdruck der maritimen Exposition des Landes. Griechenland hat Tausende Inseln, viele davon Tourismusziele und weit vom Festland entlegen, die im Schiffsverkehr oder im Flugverkehr zu erreichen sind, was hohe Transportkosten impliziert. Elektrizität und Heizwärme werden auf den Inseln nur mit Öl-/Gas-Verbrennung in Wärmekraftwerken erzeugt. Griechenland hat auch die grösste Handelsflotte der Welt. Bei dieser repräsentieren die Auslagen für Kraftstoff den grössten Teil der Ausgaben für Reisen (engl. Voyages) und – bei Erdölschocks wie seit 2011 – sogar der totalen Kosten. Was Griechenland also massiv getroffen hat wie keine andere Volkswirtschaft, ist ein doppelter Preisschock im Aussenhandel: Ein Preiszerfall bei den Exportpreisen seit 2008, und parallel dazu eine Preisexplosion bei den Import- oder Vorleistungspreisen. Die Erdölpreise haben sich in Dollar gemessen versechsfacht. Deshalb der extreme deflationäre Druck von der Aussenwirtschaft her. Die offizielle Leistungsbilanz der griechischen Zentralbank gibt entsprechend ein falsches Bild ab, weil sie Frachteinnahmen und Energieausgaben nur zu einem kleinen Teil erfasst: Die Exporte dürften für 2008 um rund 60 Mrd. Euro unterschätzt worden sein. Korrekt berechnet hat sich die Leistungsbilanz von 1999 bis 2007/08  aktiviert, und seither drastisch passiviert. Die offizielle Leistungsbilanz zeigt genau das Gegenteil der effektiven Entwicklung an, mit desaströsen Konsequenzen für die Interpretation der Wirtschaftsprobleme und für die Formulierung der Politik-Antwort.

 

Im Kern handelt es sich um einen zyklischen Preisschock im Aussenhandel, identisch mit demjenigen der frühen 1980er Jahre. Er hat erst 2008 eingesetzt, nachdem vorher die Austauschverhältnisse im Aussenhandel Griechenlands Leistungsbilanz extrem begünstigt hatten. Es ist die genau gleiche Konstellation wie in den frühen 1980er Jahren: Ein Zerfall der Frachtraten kombiniert mit dem zweiten Erdölschock von 1979/80, der damals bis 1985 anhielt. Es ist ein klassischer Preisschock im Aussenhandel bei Weltmarktpreisen (engl. terms of trade), der nichts mit der internen Preis- und Kostendynamik in Griechenland zu tun hat. Griechenland ist für diese Güter bzw. Dienstleistungen ein reiner Preisnehmer. In den 1980er Jahren antwortete die Politik Griechenlands im Prinzip in einer korrekten Weise, nämlich mit expansiver Finanzpolitik. Das verhinderte in den 1980er Jahren das Abrutschen in eine schwere Rezession oder Depression. Was damals falsch lief, waren zwei Dinge:

 

  • Die Arbeitsmarktpolitik und Lohngestaltung im Kernsektor, der Handelsschifffahrt. Stark steigende Löhne der griechischen Seeleute, bedingt durch eine falsche Wahl der Referenzwährung für die Lohnzahlungen nach 1977, führten zu einem dramatischen Arbeitsplatzverlust der Seefahrt in Griechenland in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Dieser hatte gravierende Konsequenzen für die Rimessen der Reeder und die damalige Leistungsbilanz und begünstigte einen Zerfall der griechischen Drachme.
  • Die Fiskalexpansion wurde nicht als temporäre konjunkturpolitische Massnahme eingesetzt. Sie wurde unter anderen konjunkturellen Vorzeichen unverändert fortgeführt und setzte den Weg frei für eine klientelistische Parteiendemokratie mit den bekannten Folgewirkungen für Budgetdefizit und Staatsverschuldung.

 

Die offizielle Datenlage und die vorherrschende Analyse der wachsenden Defizite der Leistungsbilanz seit Einführung des Euro sind falsch. Korrekt berechnet hat Griechenland zwischen 1999 und 2008 nie Defizite verzeichnet, sondern steigende Überschüsse. Ebenso falsch ist die Behauptung ungenügender Produktivitätsgewinne und erst recht zu stark gewachsener Lohnkosten. Das BIP wird allein dadurch, dass die Handelsschifffahrt nur zu einem kleinen Teil erfasst wird,  für die Jahre 2007 und 2008 um rund 15 bis 20% unterschätzt. Im Gegenteil, die Löhne sind von 2003 bis 2008 gemessen an den effektiv erzielten Produktivitätsgewinnen zu wenig gewachsen. Die Reallöhne sind, korrekt gemessen, schon im Aufschwung gesunken, obschon die Wirtschaft den grössten Boom in Westeuropa verzeichnete. Auch waren Budgetdefizite und der Stand der Staatsschuld relativ zum effektiven BIP nicht annähernd in der ausgewiesenen Grössenordnung der EDP-Prozedur. Richtig ist einzig, das die von der griechischen Zentralbank veröffentlichten Daten der Zahlungsbilanz, und davon abgeleitet, die Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung die Interpretation gestiegener Lohnstückkosten und zu expansiver Finanzpolitik oberflächlich in einer hoch aggregierten Betrachtungsweise stützen.

 

… wird durch eine fehlgeleitete Politik interner Deflation verstärkt …

 

Deshalb hat die Troika eine falsche Antwort formuliert, nämlich eine präzedenzlose interne Deflation als Antwort auf eine externe Deflation von seltenem Ausmass in einer kleinen offenen Volkswirtschaft. Die Konzeption der internen Abwertung, wie sie genannt wird, ist aus mehreren Gründen unangebracht:

  • Die Exportwirtschaft Griechenlands profitiert gar nicht von massiv tieferen Löhnen und Preisen. Es hat dies mit ihrer Struktur zu tun. Einnahmen wie Ausgaben der Handelsschifffahrt, der mit Abstand grössten Exportindustrie, sind fast ausschliesslich dollarbasiert und haben wenig bis nichts mit griechischen Arbeitskosten zu tun. Die Reederei beschäftigt im Unterschied zur Situation anfangs der 1980er Jahre nur noch wenige griechische Seeleute. Das Gros der Seefahrer sind Philippinos und Inder, die in ihren Heimwährungen bezahlt werden. Die Handelsflotte ist ausserdem extrem kapitalintensiv, dies im Unterschied zur Struktur vor einigen Jahrzehnten. Im Tourismus sind viele der Exportbetriebe Familienbetriebe mit geringer Intensität familienfremder Beschäftigter. Die grösseren Betriebe der Fünf- und Viersterne Hotels hingegen sind kapitalintensiv. Für die präzedenzlose Expansion der Fünf-Sterne Hotellerie seit 2003 waren die Löhne kein Hindernis, im Gegenteil. In beiden Bereichen ist ohnehin billige Schwarzarbeit von illegalen Immigranten/Innen eine bedeutende Form der Beschäftigung.

  • Die Politik der internen Abwertung berücksichtigt die vorangegangene kräftige Kreditexpansion und Verschuldungssituation privater Haushalte und Unternehmen nicht. Durch massiv abgesenkte Löhne, Renten und Preise wie auch durch die hohe Arbeitslosigkeit werden die nominellen Einkommen reduziert. Bei unveränderter ausstehender Schuld gegenüber dem Bankensektor wie gegenüber dem Staat steigen die laufende Belastung durch Zinsen, Amortisation und Steuern wie der Wert der ausstehenden Schulden real immer weiter an. Eine Situation der Schuldendeflation ist so entstanden. 

  • Diese Schuldendeflation wird durch die systemische Bankenkrise massiv verschärft, sie wirkt als finanzieller Akzelerator der Wirtschaftskrise. Mit der vermeintlichen Staatsschulden-Krise 2010 setzte ein Abzug ausländischer Interbank-Depositen ein, der einen Kreditstopp des Bankensystems in Gang brachte. Die Troika verstärkte diesen Prozess ungewollt. Die Geldpolitik wurde ultrarestriktiv, weil das Eigenkapital des Bankensystems durch den 2011 von der Troika auferlegten Schuldenschnitt vorübergehend vernichtet wurde. Es ist seither nie wieder adäquat aufgebaut worden. Die Banken mussten aufgrund dieses Kreditereignisses sofort extrem hohe Abschreibungen tätigen. Dies vernichtete einen grossen Teil ihres Eigenkapitals. Die Rekapitalisierung kam aber erst mit Verspätung in den Jahren 2012 und 2013. Aufgrund des vorübergehend massiv reduzierten Eigenkapitals mussten die Banken die Kreditvergabe einstellen. Durch den absoluten Kreditstopp sind die Bauinvestitionen fast auf Null zusammengebrochen. Die vom Bankensystem ausgehende Liquiditätskrise hat auf weite Teile der realen Wirtschaft übergegriffen und Zehntausende von Unternehmen und Haushalte in den Bankrott getrieben und Hunderttausenden von Beschäftigten die Einkommen gekostet. Als Folge der allgemeinen Liquiditätskrise explodierten die nicht bedienten und faulen Kredite der Banken. Diese faulen Kredite müssen mit viel höheren Eigenmitteln unterlegt werden, so dass die Banken selbst nach der zeitlich verspätet erfolgten Rekapitalisierung nicht mehr aus der Situation ungenügenden Eigen- oder Risikokapitals hinauskamen. Die über das Bankensystem ausgeübte  massive Deflationspolitik ist neben dem Preisschock im Aussenhandel (Zerfall der Exportpreise bei explodierenden Ölpreisen) der Kernpunkt der griechischen Krise. Die vorübergehende Vernichtung des Eigenkapitals der Banken hat eine systemische Bankenkrise ausgelöst, die sich in einer fast vollständigen Kreditklemme und einer über die ganze Wirtschaft sich erstreckenden Liquiditätskrise ausdrückt.

  • Die Rolle der Finanzpolitik für sich alleine in der Krise wird über- oder nicht korrekt eingeschätzt. Zwar war eine Konsolidierung notwendig. Aber die Prioritäten sind von der Troika falsch gesetzt worden. Die Fiskalkonsolidierung war nicht nur zu brüsk, sie hatte konjunkturpolitisch extrem negative verzerrende Effekte. Wer bisher Steuern zahlte – regulär beschäftigte Arbeitnehmer und Haushalte – zahlt noch viel mehr und erhält weniger staatliche Leistungen. Die Kombination steuerlicher Massnahmen – vor allem die scharf erhöhten Mehrwert-, Einkommens- und Gewinnsteuersätze  – und von Ausgabenkürzungen hat die Anreize zur Steuerhinterziehung im gewerblichen Sektor massiv verstärkt. Wer bisher keine oder zu wenig Steuern zahlte, zahlt deshalb immer noch keine oder zu wenig. Viele Selbständige und Unternehmen allerdings können der Wirtschaftslage wegen gar nicht mehr zahlen. Ohne solchen volkswirtschaftlichen Schaden hätten dagegen leicht beträchtliche Summen an entzogenen Steuern auf den im Ausland parkierten Offshore Konten aufgetrieben werden können.

     

    … was in eine Schulden-Deflationsspirale führt

     

    Der vorliegende Artikel charakterisiert die Krise deshalb als Schulden-Deflationsspirale. Denn zur aussergewöhnlichen externen Schuldendeflation im bedeutendsten Sektor der Wirtschaft, der Handelsschifffahrt, addiert die Politik der internen Abwertung eine interne Schuldendeflation und setzt einen umfassenden und kumulativ sich verstärkenden Prozess der gesamtwirtschaftlichen Schuldendeflation in Gang. Die vier charakteristischen Elemente sind die Vernichtung des Eigen- beziehungsweise Risikokapitals des Bankensystems, ein Preiszerfall der Immobilien und Schiffe als wichtigsten Sicherheiten für die Kredite der Banken, steil ansteigende faule Kredite und periodische Abzugspaniken bei den Depositen des Bankensystems. Die Banken können keine Kredite mehr vergeben und stürzen die Wirtschaft in eine umfassende Liquiditätskrise. Die Bankenkrise wirkt als finanzieller Akzelerator eines kumulativ sich verstärkenden Wirtschaftseinbruchs. Die Schuldendeflation beinhaltet scharf fallende nominelle Einkommen und Preise bei unveränderter nomineller Verschuldung gegenüber den Banken und rasch steigender nomineller Verschuldung gegenüber dem Staat. Real steigen die Zinsen und die Steuerlast aufgrund des nominellen Einkommenszerfalls drastisch an, so dass Schulden und Schuldendienst untragbar werden. Die manifeste Staatsschuldenkrise offenbart nur einen viel tiefer liegenden Prozess einer umfassenden Schuldendeflation.

     

    Handlungsspielräume und Möglichkeiten der Wirtschaftspolitik

     

    Es gibt keinen Zwang zur Katastrophe wie in der antiken griechischen Tragödie. Die gezielte Überprüfung der statistischen Grundlagen der Leistungsbilanz und Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung offeriert allen Beteiligten eine Lösung. Sie können ihren fundamentalen Konzepten treu bleiben und auch das Gesicht wahren. Diese Überprüfung macht deutlich, dass Griechenland ein viel grösseres Potential hat als durch seine offiziellen Daten suggeriert wird. Doch angesichts der aufs Äusserste bedrohlichen Situation einer Endphase der Schuldendeflation sind rasche und weit reichende Massnahmen nötig.

     

    Am Schluss des Artikels werden die grossen Politik-Optionen diskutiert und sowohl der Austritt aus dem Euro wie eine Fortsetzung der internen Abwertung verworfen. Der Austritt aus dem Euro würde Schifffahrt und Tourismus irreversibel schädigen. Für den Seetransport bringt eine Abwertung nichts, weil er ausgaben- und einnahmenseitig dollarbasiert ist. Diese beiden Hauptexportindustrien sind zudem sehr kapitalintensiv. Beim Tourismus bieten vor allem die Fünf- und Viersterne Hotellerie Potential, welche wie der Seetransport hohe Kapitalaufwendung erfordert. Nur mit der Zugehörigkeit zum Euro und mit einem Bankensystem, das ein elastisches Kreditangebot bei niedrigen Zinsen bieten kann, kann das Potential beider Wirtschaftszweige sich entfalten. Eine Rückkehr zur Drachme würde hohe und volatile Zinsen mit schwankenden Risikoprämien bedeuten. Das Bankensystem wäre von Kapital- und Kreditkontrollen eingeschränkt.

     

    Im Zentrum stehen nicht ‚Reform’-Massnahmen der bisherigen Art, aber auch nicht punktuelle sozialpolitische oder finanzpolitische Massnahmen. Die ‚Reformen’ der Troika vertiefen nur die Schuldendeflation der Binnenwirtschaft. Angesichts der präzedenzlosen Bankenkrise müssen das Bankensystem sofort rekapitalisiert und der Kredit-Mechanismus wiederhergestellt werden. Nur so kann die katastrophale akute Liquiditätskrise des Landes entschärft werden. Alleine eine weitere Finanzierung des öffentlichen Haushalts genügt nicht und verschärft, wenn begleitet durch weitere Lohn- und Rentensenkungen oder gar Mehrwertsteuer-Erhöhungen, nur die Schuldendeflation. Die wichtigsten Punkte betreffen eine rasche und grosszügige Rekapitalisierung der Banken, ein Übertrag der notleidenden und faulen Kredite an eine korrekt konzipierte ‚Bad bank’, die Abschaffung der Quellenbesteuerung auf Zinserträge inländischer Bankdepositen und eine Modifikation der Regulierung der Handelsschifffahrt. Nur wenn die Reeder ihre Liquidität grossenteils in Griechenland statt auf Offshore-Konten im Ausland halten, sollten sie die steuerliche Privilegierung beibehalten dürfen. Nur so lässt sich die Depositenbasis des Bankensystems wieder aufbauen. Diese Massnahmen kosten anfänglich, können aber bei einer späteren Privatisierung des Bankensystems wieder eingespielt werden.

 


 

* Adresse des Autors: michael.bernegg@gmail.com

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