Wo wir den Hebel ansetzen sollen, um das bestehende System zu knacken

Mit Replik | 25. 07. 2023 | Hubert Thurnhofer hat auf ethos.at eine sehr freundliche Rezension zum ersten (größeren) Teil meines Buches „Endspiel des Kapitalismus“ und eine sehr kritische zum zweiten Teil geschrieben, in dem es darum geht, wie wir uns die Macht von den Kapitalisten zurückholen. Ich will auf die Kritik antworten, weil sie eine Frage stellt, die viele Menschen umtreibt, die mit den Zuständen unzufrieden sind: „Wo wir den Hebel ansetzen sollen, um das bestehende System zu knacken“.

Thurnhofer zieht in seiner Rezension, die eine gute und knappe Zusammenfassung meiner Thesen bietet, ein positives Zwischenresümee::

„Soweit die ersten drei Teile des Buches, mit denen Norbert Häring die Frage „Wie die Konzerne die Macht übernahmen… “ für jeden verständlich beantwortet. Diese Teile sollten zur Pflichtlektüre jedes gebildeten Menschen gehören. Stückwerk bleibt jedoch der dritte Teil mit der Beantwortung der Frage „… und wie wir sie zurückholen“.“

Die Kritik bezieht sich auf den letzten Teil, in dem ich aufzeige, dass der Kapitalismus nicht so alternativlos ist, wie er scheint. Thurnhofer bemängelt das Fehlen konkreter Handlungsempfehlungen zur (schnellen) Überwindung des Kapitalismus:

„Häring führt als Alternativen zu den gängigen, auf Profitmaximierung ausgerichteten Kapitalgesellschaften die Personengesellschaft, die Mitarbeitergesellschaft und die Genossenschaft mit gebundenem Kapital an. Er glaubt an ein „Geldsystem und Zentralbank im Dienst der Bevölkerung“, liefert Ideen wie die Bereiche Wohnen, Infrastruktur, Daseinsvorsorge künftig auf Basis einer wirksamen Wettbewerbspolitik gelöst werden können. Doch das sind nicht mehr als 20 bis 30 Puzzlestücke in einem Puzzle aus 999 Teilen mit ebenso vielen möglichen Antworten.

So erscheint die Implementierung der sozialen Marktwirtschaft, wie sie Häring fordert, oder eines anderen alternativen Systems, gegen die drei großen M (Macht, Medien und Moneten) als Mission Impossible. Anders als in Hollywood gibt es im wirklichen Leben keinen Superhero, der die Probleme für uns löst. Wer wirklich will, dass wir einen grundlegenden Wandel herbeiführen, muss den Lesern auch verraten, wo wir den Hebel ansetzen sollen, um das bestehende System zu knacken. Ansonsten bleibt es bei kosmetischen Reformen und marginalen Zugeständnissen der Mächtigen.“

Ich sehe das anders. Unmöglich lasse ich nicht die Mission einer Ablösung des derzeitigen kapitalistischen System durch eine soziale Marktwirtschaft erscheinen. Im Gegenteil: mir geht es darum erst einmal deutlich zu machen, dass es diese bessere Alternative gibt. Unmöglich ist aber die schnelle Ablösung des gegenwärtigen Systems durch ein ganz anders, besseres. Das ist eine Lebensaufgabe aller Unzufriedenen und keine Mission, die einige Progressive erfüllen können, indem sie eine Schwachstelle des Systems identifizieren und einen langen Hebel ansetzen, um es zu Fall zu bringen. So funktioniert das nicht.

Thurnhofer zitiert meinen wichtigen Satz aus dem Vorwort der Taschenbuchausgabe, tut diesen aber als „locker formulierte Behauptung“ ab (Fettung im Original):

„Schon im Vorwort zur Taschenbuchausgabe schreibt Häring: „ohne dass eine Mehrheit vom Glauben an das System und die Alternativlosigkeit des Kapitalismus abfällt, wird es keinen grundlegenden Wandel geben.

Der Satz ist durchaus mit Bedacht formuliert. Der Kapitalismus konnte sich nur durchsetzen und kann sich nur halten, weil eine große Mehrheit seine Prämissen akzeptiert und ihn – bei allen erkennbaren Problemen – als bestes oder gar als alternativloses System betrachtet. Das wurde im Lauf der Jahrhunderte durch sehr viel Propaganda und Repression alternativer Ideen und Modelle erreicht. Das lässt sich nicht innerhalb weniger Jahre ausradieren.

Man kann zwar eine Revolution versuchen und die Mächtigen des alten Systems durch die eines neuen Systems ersetzen. Aber selbst wenn diese gelingen sollte, droht – wenn die Revolutionäre und die Bevölkerung im alten Denken und Fühlen verhaftet sind – nur eine neue Form der Repression. Die Geschichte liefert in dieser Hinsicht vor allem abschreckende Beispiele.

Die erfolgversprechendere und erstrebenswertere Variante ist die, bei der das alte System den Rückhalt in der Bevölkerung verliert, ohne den es nicht auskommt. Das findet bereits statt, zum Beispiel in der vielbeklagten Leistungsverweigerung durch die Generation Z, der Work-Live-Balance wichtiger ist als Karriere, oder bei den vielen, die sich gesellschaftlich engagieren oder aus dem System aussteigen. Auch die Klimaschutzbewegung gehört dazu.

Ich werte die vielen Anzeichen von Chaos, Desorientierung und (scheinbarer) Dekadenz als kräftige Indizien, dass der Niedergang des Systems in vollem Gange ist.

Der Hebel ist daher das falsche Werkzeug, um das System zu „knacken“. Sich abwenden ist wirksamer. Gegen Hebel kann man sich wehren und dabei noch stärker werden. Gegen Liebesentzug und Teilnahmslosigkeit nicht. Daran kann sich jeder nach seiner Art und Vorliebe beteiligen, wobei es durchaus nicht für alle ohne Kampf und Widerstand abgeht.

Wer Öffentlichkeitswirksamkeit hat, kann Alternativen aufzeigen, Prämissen des alten Systems offenlegen und angreifen und seine Menschenfeindlichkeit anprangern. Wer parteipolitisch aktiv ist, kann daran arbeiten, auf dieser Ebene Alternativen aufzuzeigen. Wer nicht Teil der Maschinerie sein will, kann aussteigen. Die, denen das zu schwer oder zu riskant ist, können auf Dienst nach Vorschrift schalten und sich bei allem, was sie tun sollen, fragen, ob das Ziel vollen Einsatz und nötigenfalls Verleugnung der eigenen Mitmenschlichkeit wirklich wert ist, ob es die Welt wirklich besser macht oder nur das Bankkonto reicher Menschen noch praller füllt.

Je mehr Menschen die falschen Prämissen und Versprechungen des Systems durchschauen, desto mehr werden mindestens passiven Widerstand leisten.

Nicht weniger wichtig: Jeder kann jeden Tag die Welt zu einem besseren Ort machen, indem er sich seinen Mitmenschen und der belebten und unbelebten Welt gegenüber auf eine Weise verhält, die den Prämissen des Systems widerspricht: großzügig, hilfsbereit, solidarisch, uneigennützig, bescheiden, einfühlsam – mit einem Wort: verbunden. Aber ohne sich dazu zwingen zu müssen und es als Verzicht zu erleben, sondern freudig. Je öfter die Menschen bei ihren Mitmenschen diese Haltung erfahren oder beobachten, desto weniger werden sie in der Lage sein, als Teil des Systems ein gegensätzliches Verhalten richtig zu finden. Da wir alle nicht als Engel geboren wurden und viele Prämissen des Systems verinnerlicht haben, haben wir reichlich Ansatzpunkte, die Welt besser zu machen.

Replik von Hubert Thurnhofer (27.7.)

Die „locker formulierte Behauptung“ habe ich nicht abwertend gemeint. Ich hätte mit Anspielung an Milan Kundera wohl besser geschrieben „die mit unerträglicher Leichtigkeit formulierte Behauptung“, denn sie impliziert, so wie der Held im Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, das bestehende System kreativ, ansatzweise anarchistisch, immer aber auch mit Humor zu unterwandern. (Das ist etwas anderes, als dem System bloß ausuzuweichen.)

Als Philosoph kann ich die Formulierung „ohne dass eine Mehrheit vom Glauben an das System und die Alternativlosigkeit des Kapitalismus abfällt, wird es keinen grundlegenden Wandel geben“ durchaus unterschreiben, allerdings nachdem man explizit herausarbeitet, welche Fragen diese Aussage impliziert:

– Wie gewinnt (überzeugt) man die Mehrheit, ohne sie mit den Mitteln der Mächtigen zu manipulieren?

– Was ist ein Glaube? (Bedeutungsspektrum: Vertrauen, Hoffnung, Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis vs Wissen als Herrschaftswissen und Wissenschaft als Instrument der Mächtigen).

  • Wie bilden und verändern sich Glaubenswahrheiten?
  • Unter welchen Bedingungen fallen (oder wenden sich) Menschen von ihrem Glauben ab?
  • Wie lassen sich diese Bedingungen herstellen?
  • Was ist ein grundlegender Wandel?
  • Wie nimmt man den Menschen die Angst vor einen grundlegenden Wandel und vor notwendigen politischen Veränderungen?
  • Wo, wann und wie muss der grundlegende Wandel beginnen?
  • Wie neutralisiert man das derzeitige politische Personal, das nur noch als Marionette der Mächtigen auftritt?
  • Was ist das Fundament des grundlegenden Wandels, auf dem das künftige System, eine echte soziale Marktwirtschaft, errichtet werden kann?

Als Philosoph glaube ich, so wie Sie, an die Möglichkeit von Veränderungen und eine bessere Zukunft, denn ich bin Optimist aus Prinzip. Als Homo Politicus bin ich Pessimist aus Erfahrung, die ich in den vergangenen Jahren gemacht habe in Gesprächen mit dutzenden basisdemokratischen Kleingruppierungen und hunderten Menschen, die alle in ihren Bereichen bereits gute Ideen abseits vom Mainstream realisieren, die aber lediglich vereinzelt und isoliert „ihr Ding“ durchziehen.

Eine Personengesellschaft oder andere Organisationen zu gründen, ist schon mal ein guter Anfang. Aber wenn wir keinen Weg finden, tausende Personen und später tausende Organisationen so zu vernetzen, so dass sie die Power von einem Konzern kompensieren, dann werden wir das bestehende System nicht knacken (ich habe bewusst nicht geschrieben, dass wir es „sprengen“ müssen).

Foto: Sebastian Rentsch
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