„Schwarzbuch Corona“: 2 Leseproben aus dem neuen Buch von Jens Berger

30. 06. 2021 | In der Medizin sagt man, die Therapie darf nicht schädlicher sein als die Krankheit. Überträgt man dies auf die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, müsste man wohl von einem der größten Kunstfehler der Geschichte sprechen. Diese These unterfüttert Jens Berger, Redakteur der Nachdenkseiten, im „Schwarzbuch Corona“, aus dem wir hier zwei Auszüge zum „verbotenen Grippevergleich“ und zum „Sterben in den Altenheimen“ als Leseproben präsentieren.

1. Der verbotene Grippevergleich

Als die Pandemie noch jung war, wurde die Gefahr durch Corona oft mit der Gefahr durch Grippe verglichen. Und dies nicht nur von einschlägig bekannten Querdenkern. Am 23. Januar 2020 warnte niemand anderes als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in einem RTL-Interview noch vor Panikmache. Er sah »keinen Anlass zu Unruhe oder unnötigem Alarmismus«. Am Abend desselben Tages mahnte er dann in den Tagesthemen eine »korrekte Einordnung« an: »Der Verlauf der Erkrankung in China [sei] schließlich milder als der Verlauf der Grippe in Deutschland.«

Vier Tage später bekräftigte die Sprecherin des Robert Koch-Instituts diese Einschätzung in einem Interview mit Radioeins und verglich die neue Krankheit mit der Grippe – Letztere sei jedoch »eine ganz andere Nummer« und »tatsächlich die ganz konkrete Gefahr, vor allen Dingen für bestimmte Risikogruppen«. So kann man sich täuschen. Bis Bergamo hielt sich auch in den Leitartikeln und Kommentaren der allermeisten deutschen Medien, wie der FAZ, der Süddeutschen oder der Welt der Trend, Corona nicht nur mit der Grippe zu vergleichen, sondern sogar den Standpunkt zu vertreten, die Grippe sei die schlimmere und gefährlichere Krankheit. Nach Bergamo kam es jedoch zur kompletten Kehrtwende. Nun war der Grippevergleich verpönt, und jeder, der auch nur in einem Nebensatz auf die Grippe hinwies, machte sich sofort verdächtig, ein Querdenker, Corona-Leugner oder noch Schlimmeres zu sein.

Dabei bietet sich ein Vergleich der beiden Viruserkrankungen förmlich an. Schließlich sind laut offiziellen Zahlen in den besonders schweren Grippewintern wie 2017/2018 immerhin rund 25 000 Menschen gestorben. Das reicht zwar nicht für eine »Gleichsetzung« mit Covid-19, zumal es niemals irgendwelche Maßnahmen zur Eindämmung der Grippe gab; ein Vergleich ist jedoch statthaft.

Hier ist allerdings Vorsicht geboten. Mit keinem Vergleich wurde im letzten Jahr wohl so viel Schindluder getrieben wie mit dem Vergleich von Grippe- und Corona-Toten. Selbst in der besonders schweren Grippesaison 2017/2018 betrug die Zahl der laborbestätigen Todesfälle durch ein Influenzavirus lediglich 1674. Da jedoch nur ein Teil der Grippeinfizierten durch eine direkt vom Virus ausgelöste Lungenentzündung (Influenzapneumonie) stirbt und zahlreiche durch das Virus bedingte sekundäre Erkrankungen (zum Beispiel bakterielle Lungenentzündungen) auf dem Totenschein entweder gar nicht ausgewiesen oder aber nicht als »Grippetodesfall« vermerkt werden und daher auch keine Auswertung der Proben veranlasst wird, gibt es hier eine hohe Dunkelziffer.

Die Experten streiten jedoch, wie hoch diese Dunkelziffer in der Realität ist. Die offiziellen Grippe-Todeszahlen sind daher vielmehr ein Produkt von statistischen Holzhammermethoden des RKI. Man schaut sich ganz einfach an, wie viele Menschen in einem bestimmten Zeitraum verstorben sind und wie viele es im langjährigen Schnitt eigentlich hätten sein sollen. Ist die reale Sterbezahl höher als die statistisch errechnete, und es ist gerade »Grippesaison«, wird die Differenz ganz einfach als Grippe-Tote ausgewiesen. Statistiker sprechen hier von der Exzessmortalität. Diese Zahl ist also mehr oder weniger ein »educated guess«, also eine Schätzung, die zwar methodisch irgendwie erklärbar ist, aber auf keinen Fall als belastbare Größe verstanden werden sollte, zumal die Schwankungen zwischen laborbestätigten, also nachgewiesenen, Grippe-Todesfällen und der durch die Statistiker geschätzten Todesfälle gewaltig ist. Hätten die RKI-Statistiker die Corona-Toten nach der gleichen Methode wie die Grippe-Toten auf Basis der Übersterblichkeit geschätzt, wären sie übrigens nicht auf 80 000, sondern nur auf 11.527 gekommen, wie ich im Kapitel »Ist die Angst vor Corona gerechtfertigt?« bereits dargelegt habe.

In der Grippesaison 2014/2015 gab es 274 laborbestätigte Todesfälle durch Influenzaviren. Da in diesem Winter aber mehr Menschen verstarben als im langjährigen Schnitt, errechneten die Statistiker die stolze Summe von 21.300 Grippe-Todesfällen. Im darauffolgenden Winter gab es mit 234 laborbestätigten Todesfällen nicht unwesentlich weniger nachgewiesene Grippe-Tote. Jedoch starben im Winter 2015/2016 weniger Menschen als im langjährigen Schnitt, sodass es eine negative Exzessmortalität zu verzeichnen gab. Da man in der Summe natürlich keine negativen Grippe-Todesfälle ausweisen kann, schließlich steht kein Grippekranker von den Toten auf, wird für diese Grippesaison gar keine Zahl der Grippe-Toten ausgewiesen.

Diese zwei aufeinanderfolgenden Jahre sind keine Ausnahme. Während die Zahl der laborbestätigten Grippe-Todesfälle in den letzten 15 Jahren zwischen 7 und 1674 schwankte, schwankte die Exzessmortalität zwischen 0 und 25.100, wobei dieser Wert in den betreffenden Jahren noch nicht einmal erkennbar mit den laborbestätigten Todesfällen korreliert.

Wie viele Menschen sterben also jedes Jahr durch die Grippe? Die ehrliche Antwort wäre: Wir wissen es schlichtweg nicht. Insofern verbietet sich auch ein direkter Vergleich mit den Corona-Zahlen.

Ähnlich verworren stellt sich die Lage dar, wenn man versucht, die individuelle Gefährdung durch Grippe und Covid-19 zu vergleichen. Der Grund dafür ist banal – bei beiden Krankheiten ist die Datenbasis ungenügend. Gesundheitsstatistiker bemessen die Infektionssterblichkeit anhand von zwei Größen – dem Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR) und dem Infizierten-Verstorbenen-Anteil (IFR). Ersterer ist der Quotient aus der Anzahl der Verstorbenen unter den diagnostizierten Fällen und der Gesamtzahl der diagnostizierten Fälle. Letzterer ist der Quotient aus der Anzahl der an der Infektion Verstorbenen durch die Gesamtzahl der Infektionen. Das Problem: Keine dieser Größen ist zweifelsfrei bekannt; weder bei der Grippe noch bei Covid-19.

Soll man beispielsweise für die Grippewelle 2017/2018 nur die laborbestätigten Fälle heranziehen? Dann müsste man 1674 laborbestätigte Todesfälle durch die 334.000 laborbestätigten Influenzafälle teilen und käme auf einen CFR von 0,5 Prozent. Das Problem: Beide Werte bilden bekanntermaßen nur einen kleinen Teil der Pandemie ab, und der Quotient ist daher nicht nur unzuverlässig, sondern sogar willkürlich. Man könnte auch die anhand der Übersterblichkeit geschätzte Zahl der Grippe-Toten durch die vom RKI ebenfalls geschätzte Zahl der Erkrankten teilen und käme dann auf einen IFR von 0,28 Prozent. Dieser Wert ist sicherlich schon etwas zuverlässiger, aber aufgrund der Schätzmethode der Todesfälle und des Umstands, dass hier Erkrankte und nicht Infizierte als Bezugsgröße herangezogen wurden, nicht mit den Zahlen von Covid-19 vergleichbar.

Für Covid-19 lässt sich bei 86.205 Todesfällen auf 3.584.934 Infektionen (beides laborbestätigte Größen Stand 15. Mai 2021) eine CFR von 2,34 Prozent berechnen. Ist Covid-19 nun also rund fünfmal so gefährlich oder, präziser, tödlich wie die Grippe? Wer weiß? Da die Zahlen derart vage sind, kann man eine solche Aussage nicht seriös treffen. So weiß zum Beispiel niemand, wie hoch die Dunkelziffer bei den meist symptomfreien Infizierten ist, die niemals labortechnisch getestet wurden. Alle Zahlen weisen jedoch darauf hin, dass Covid-19 in der Gesamtheit deutlich gefährlicher als die aggressiveren Varianten der saisonalen Influenza ist.

Dies gilt jedoch nicht für eine bestimmte Altersgruppe – die der Kinder. Für sie ist, nach bisherigem Wissensstand, die Influenza deutlich gefährlicher als Covid-19. Während der Grippesaison 2017/2018 wurden 116 Todesfälle bei Kindern labormedizinisch bestätigt. Dies entspricht rund jedem vierzehnten nachgewiesenen Todesfall durch die Influenza. Während der Corona-Pandemie konnten in Deutschland bislang lediglich zwölf Todesfälle bei Kindern unter zehn Jahren registriert werden – das entspricht gerade mal rund einem zehntel Promille aller labortechnisch bestätigten Todesfälle. Während im Namen der Volksgesundheit wegen Corona Schulen und Kitas schließen mussten, käme bei der für Kinder weitaus gefährlicheren Grippe wohl kein Politiker auf diese Idee.

Vergleicht man das Ausmaß und die Kollateralschäden der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus mit der Passivität, mit der die Politik den saisonalen Grippewellen entgegentritt, so tut sich hier zweifelsohne ein Widerspruch auf. Dies soll um Himmels willen nicht als Empfehlung verstanden werden, nun auch in jeder Grippesaison das halbe Land stillzulegen und die Grundrechte auszusetzen. Im Gegenteil. Die unterschiedlichen Standards bei der politischen Reaktion auf diese beiden gefährlichen Viruserkrankungen zeigen jedoch, mit welch unterschiedlichem Maß hier kommuniziert und agiert wird. Aber wer weiß? Vielleicht erinnert sich die Politik bei der nächsten Grippewelle daran, wie erfolgreich die Maßnahmen zur Eindämmung waren – nicht bei Corona, aber dafür bei der Influenza. Dies war nämlich der wohl einzige »Kollateralnutzen« der Anti-Corona-Maßnahmen.

Während der Wintersaison 2020/2021 konnten die an das Robert Koch-Institut meldenden Labors lediglich 541 Fälle von Influenza feststellen. Im Jahr zuvor waren es noch 185.893. Dieser Effekt ist übrigens weltweit von Australien über Hongkong bis in die USA zu beobachten. Das veranlasste US-Wissenschaftler bereits, in der Fachzeitschrift Scientific American zu fordern, man solle doch nun in jedem Jahr zur Grippesaison Maßnahmen wie die Maskenpflicht, Abstandsregeln oder das Verbot von Großveranstaltungen verabschieden, um auch der Grippe Herr zu werden. Viel Gehör fanden diese Forderungen zum Glück jedoch (noch) nicht.

Es gäbe viele weitere Beispiele, wie die Politik die Gesundheit unserer Bürger besser schützen und Menschenleben retten könnte. Wie wäre es beispielsweise mit einer Höchstgeschwindigkeit auf deutschen Autobahnen? Was spricht gegen ein Verbot krebserregender Pflanzenschutzmittel? Würden nicht weniger Menschen sterben, wenn das Gesundheitssystem adäquat finanziert würde? Und nicht zu vergessen: Der größte Faktor für ein frühes Ableben ist und bleibt die Armut. Während einem 65-jährigen Mann mit hohem Einkommen statistisch noch 21,2 Lebensjahre zur Verfügung stehen, kommt ein Gleichaltriger mit einem niedrigen Einkommen auf nur noch 15,7 Lebensjahre. Das sind mehr als fünf Jahre Unterschied. Bei Frauen ist der Unterschied der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich mit 3,5 Jahren etwas geringer, aber dennoch signifikant. Da könnte man die Bundesregierung doch einmal beim Wort nehmen und eine Erhöhung des Mindestlohns oder die Erhöhung niedriger Rente als gelebten Beitrag zur Verbesserung der Volksgesundheit fordern. Doch diese Forderungen würden selbstverständlich auf taube Ohren stoßen.

Der Gesundheitsschutz der Bürger ist nämlich nur dann die oberste Leitlinie der Politik, wenn ihr dies als Rechtfertigung gelegen kommt, um Dinge zu beschließen, die beim Wähler nicht sonderlich populär sind. Geht es indes um die Interessen der Wirtschaft und mächtiger Lobbyverbände, steht die Gesundheit in steter Regelmäßigkeit hintan. Wenn Olaf Scholz es »zynisch« findet, auch nur darüber zu diskutieren, »dass gesundheitliche Fragen hintanstehen und wirtschaftliche Fragen vorangehen sollten«, muss man der Regierungspolitik der letzten Jahrzehnte wohl einen hohen Grad an Zynismus attestieren. Denn dass die Gesundheit im Zweifel den Wirtschaftsinteressen untergeordnet wird, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Und dies soll nun bei Corona anders sein? Die Botschaft hör ich wohl – Sie wissen schon. Selbstverständlich ist Covid-19 eine sehr gefährliche Krankheit. Die Beispiele aus diesem Kapitel haben jedoch gezeigt, dass es zahlreiche andere Krankheiten gibt, die, zumindest wenn es um den »Body Count« geht, nicht nur mit Covid-19 mithalten können, sondern sogar mehr Menschenleben als das »Killervirus« fordern – und dies Jahr für Jahr. Auf eine politische Agenda schaffen es diese Todesursachen nicht. Warum auch? Dass es der Regierung bei ihrer Corona-Politik an allererster Stelle um den Schutz der Gesundheit ging und geht, ist daher mehr als unwahrscheinlich. Zu groß ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn man den Fokus einmal von Covid-19 auf andere Themenfelder ausweitet, die maßgeblich für das Thema Gesundheitsschutz sind.

2. Das Sterben in den Heimen

Wenn es um die Frage geht, wo sich Menschen mit dem SARS-Cov-2-Virus anstecken, tappt das RKI nach wie vor weitestgehend im Dunkeln. Nur in jedem sechsten Infektionsfall kann man den Ausbruch zuordnen, und hier spielen die Bereiche, die durch die Lockdown-Maßnahmen beeinflusst werden, kaum eine Rolle. Während also Kindergärten, Schulen und der gesamte Freizeitbereich in den Statistiken des RKI fast bedeutungslos sind, waren Alten- und Pflegeheime während der zweiten Welle der mit Abstand größte Infektionsherd, und hier ist Infektion nicht gleich Infektion. Es macht nun einmal einen himmelweiten Unterschied, ob sich ein Kind mit dem Virus infiziert, für das die Infektion in nahezu allen Fällen keine ernsthafte Bedrohung darstellt, oder ob sich ein vorerkrankter Hochbetagter infiziert, der mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu vier die Krankheit nicht überleben wird.

Seit Beginn der Pandemie wusste die Politik, dass Covid-19 eine Krankheit ist, die vor allem für die Hochbetagten und insbesondere die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen lebensgefährlich ist. Und passiert ist so gut wie nichts. Schnelltests, die seit dem März 2020 zur Verfügung standen, wurden erst ein gutes Jahr später großflächig eingesetzt. Vonseiten der Politik hieß es immer, vorher hätten diese Tests gar nicht zur Verfügung gestanden. Das ist eine glatte Lüge. Bereits am 12. Mai 2020 appellierte der Virologe Alexander Kekulé in seinem Podcast4 an das RKI und die Politik, diese »schon zur Verfügung stehenden« (sic!) Tests großflächig einzusetzen. Dies sei die »einzig zur Verfügung stehende Alternative« dazu, sich »von Lockdown zu Lockdown zu hangeln, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht«. Im Nachhinein muss man ihm sicher recht geben.

Wie kommt das Virus eigentlich in die Heime? Hauptsächlich wohl durch das System, das ich in einem Artikel im März 20205 das »Karussell« getauft habe. Dabei geht es um eine in der Praxis leider häufig vorkommende Unart, die eine indirekte Folge der Privatisierung der Heime und deren Unterfinanzierung ist. In zahlreichen Altenheimen ist die Personaldecke derart dünn, dass vor allem pfle­ge­intensive Patienten gerne mal für ein paar Tage im Krankenhaus »geparkt« werden. Entsprechende Überweisungen sind schnell geschrieben. Gerade bei multimorbiden Altenheimbewohnern findet sich fast immer ein Grund für eine Einweisung – und sei es der obligatorische Dekubitus, also die Schädigung der Haut und des darunter liegenden Gewebes, im Volksmund auch »Wundliegen«. Er entsteht, wenn bettlägerige Bewohner vom Pflegepersonal über längere Zeit nicht umgelagert wurden.

Auch für die Krankenhausbetreiber ist dies ein lukratives Geschäft, solange man die betroffenen Patienten möglichst schnell wieder in die Heime entlassen konnte. In Zeiten der Fallpauschalen und des Kostendrucks drückt man daher bei so manchen »windigen« Diagnosen auch gerne mal beide Augen zu. So entstand aus dem Pflegenotstand heraus eine Art »Karussell« mit multimorbiden Patienten. Durch Covid-19 wurde dieses Karussell jedoch der Kern einer echten Katastrophe.

Krankenhäuser sind eine Risikozone für die Verbreitung von Infektionen jeglicher Art. Covid-19 ist in diesem Zusammenhang besonders problematisch, da sich auch das Personal bis zum Frühjahr 2021 nicht gegen die Krankheit impfen lassen konnte und Hygienevorschriften hier oft im täglichen, durch Personalknappheit gekennzeichneten Arbeitsalltag ignoriert werden. Schon die dokumentierten Fälle aus der chinesischen Provinz Hubei haben gezeigt, dass vor allem Ärzte und Krankenschwestern tragischerweise häufig als »Super-Spreader« das Virus unter den häufig immungeschwächten Patienten verbreitet haben. Deutschland hat daraus wenig gelernt.

Die unverständlich lasche Testpraxis in den Krankenhäusern hat die tödlichen Auswirkungen des »Karussells« unterstützt. Bis tief in den Herbst 2020 hinein wurden dort Neuzugänge ohne eindeutigen Corona-Verdacht wie ehedem von der Aufnahme direkt in die Mehrbettzimmer auf Station verlegt. Dort wurde dann je nach freien Kapazitäten am ersten oder zweiten Tag ein PCR-Test vorgenommen, dessen Ergebnis jedoch auch meist erst zwei Tage später vorlag – schließlich war einer der ersten Sparmaßnahmen im Krankenhaussystem das Outsourcen von Labordienstleistungen. Im Haus können zumindest bei kleinen und mittelgroßen Krankenhäusern nur noch Routineaufgaben wie das Erstellen eines Blutbilds vorgenommen werden.

Auch das Personal der deutschen Kliniken, das nicht auf den Intensivstationen täglich mit Covid-Patienten in Kontakt stand, wurde bis in die zweite Welle hinein nur in Ausnahmefällen auf das Coronavirus getestet. Es war also klar, dass das Virus seinen Weg auf die Normalstationen der Krankenhäuser finden sollte, die im Windschatten der ganzen Debatte rund um die Intensivstationen ihre ganz normale Arbeit ohne besondere Schutzmaßnahmen fortführten.

Jeder Patient, der sich beim »Karussell« im Krankenhaus infiziert, aufgrund der Inkubationszeit aber noch symptomfrei bleibt und in sein Pflege- oder Altenheim zurück überwiesen wird, ist eine tickende epidemiologische Zeitbombe. Denn in den Heimen wurden die aus den Krankenhäusern zurückkehrenden Bewohner natürlich auch meist weder getestet noch isoliert. Wer möglicherweise infizierte Patienten in die Altenheime zurückschickt, trägt das Virus mitten in eine Petrischale voller Risikopatienten.

Dass man gleichzeitig mit rigiden Maßnahmen tiefe Einschnitte in das öffentliche und wirtschaftliche Leben des Landes vornimmt und auf der anderen Seite die Risikogruppen, um die es ja eigentlich gehen sollte, derart stiefmütterlich am Rande behandelt, ist ein Skandal. Ein wirkungsvoller Schutz der Alten- und Pflegeheime wäre ohne horrende Kosten und vor allem ohne nennenswerte Kollateralschäden jederzeit möglich gewesen. Damit hätte man sehr viele Menschenleben retten können.

Es kam jedoch anders. Die Hygienekonzepte der Alten- und Pflegeheime sind oft das Papier nicht wert, auf dem sie stehen, und werden in der Praxis ignoriert – wen wundert dies, fehlt das nötige Personal doch an allen Ecken und Kanten und ist die Betreuungssituation doch auch in normalen Zeiten schon prekär. Auf eine finanzielle Kompensation der Mehrkosten können die Betreiber solcher Einrichtungen meist nicht zählen. Und Ordnungsämter und das Gewerbeaufsichtsamt sind derweil mit der Kontrolle der AHA-Regeln im öffentlichen Raum voll ausgelastet. Von einer lückenlosen Kontrolle der Hygienekonzepte in den Heimen kann überhaupt nicht die Rede sein.

Von den Medien wurden zielgerichtete Ansätze vor allem von denjenigen kritisiert und belächelt, die der Wahnvorstellung anhängen, man könne das Virus durch flächendeckende Lockdowns »ausrotten«. Genau dieser Ansatz wird offenbar auch von den Beratern der Bundesregierung verfolgt und sollte doch eigentlich als gescheitert gelten. Diese Diskussion hätte man – dann aber nicht auf nationaler, sondern mindestens auf europäischer Ebene – vielleicht im Februar 2020 führen können. Nachdem das Virus in Europa nicht mehr endemisch, sondern flächendeckend und pandemisch auftrat und die Infektionen nicht mehr gezielt nachverfolgbar waren, hätte man sich auf den Schutz der Risikogruppen fokussieren müssen. Das ist nicht geschehen.

Forderungen nach einem wirkungsvollen Schutz der Risikogruppen spielten während der gesamten Debatte – auch nach Zehntausenden Todesfällen in den Alten- und Pflegeheimen – bestenfalls eine Nebenrolle. Lieber diskutiert man über die angeblich infektionstreibenden Kinder in den Kindergärten und Schulen, oder man mokiert sich über Jugendliche, die sich in öffentlichen Parks treffen, um zumindest ein Mindestmaß an sozialen Kontakten zu genießen. Die sterbenden Altenheimbewohner tauchten in den Medien meist nur als Nummer in einer Statistik auf, die dann instrumentalisiert wurde, um noch mehr und noch härtere Maßnahmen zu fordern, die wieder einmal alle außer die eigentlichen Risikogruppen treffen. Die meisten Medien verfolgen nach wie vor die Vorstellung, man könne die Alten am besten dadurch schützen, dass man die Kontakte der Jüngeren minimiert. Und die Politik nickt brav und setzt eine sinnlose Maßnahme nach der anderen um.

Wer darauf hinweist, kommt sich jedoch schnell vor wie das Kind im Märchen »Des Kaisers neue Kleider«. Schlimmstenfalls wird man sogar als »Corona-Leugner« oder »Corona-Verharmloser« verun­glimpft. Das ist paradox. Sind nicht eher diejenigen, die die vulnerablen Gruppen vergessen, für die Corona oft tödlich ist, die eigentlichen »Verharmloser«?

Das »große Sterben« der Alten ist zum Glück seit dem Ende der zweiten Welle Vergangenheit. Mussten noch 64.000 meist Hochbetagte die zweite Welle mit ihrem Leben bezahlen, forderte die ab der elften Kalenderwoche 2021 laufende dritte Welle nur noch (Stand 23. Mai 2021) rund 9000 Menschenleben, und hier ist sogar davon auszugehen, dass sehr viele dieser Opfer eigentlich der zweiten Welle zugerechnet werden müssten, da zwischen Infektion, Erkrankung, schwerem Verlauf, Hospitalisierung, Intensivstation und im schlimmsten Falle am Ende dem Tod oft viele Wochen liegen.

Jedoch war es keine Maßnahme der Regierung und erst recht nicht der Lockdown, der dem Sterben ein Ende bereitet hat. Am 25. März konnte das RKI vielmehr vermelden, dass mit einer Impfquote von 95 Prozent die Bewohner der Alten- und Pflegeheime nun faktisch durchgeimpft seien. Es waren also in der Sprache der Epidemiologen nicht die »nicht-pharmakologischen Interventionen«, ein Begriff, der die Lockdown-Maßnahmen zusammenfasst, sondern die »pharmakologischen Interventionen«, die die Lage deutlich entspannten. Kein Grund für die Politik, sich auf die Brust zu klopfen.

Zum Stand der Drucklegung dieses Buches lag die Inzidenz der 75- bis 85-Jährigen bei unter 30 und somit auch außerhalb der Alten- und Pflegeheime in einem Bereich, der hohe Sterbezahlen ausschließt. Aus der statistischen Über- wurde eine Untersterblichkeit. Heute vermeldet das Robert Koch-Institut nicht mehr 1000, sondern nur noch durchschnittlich 200 Todesfälle pro Tag, und da dies eine stark nachlaufende Größe ist, werden die Ziffern in absehbarer Zeit noch weiter sehr deutlich sinken. Ist das das Ende der Pandemie?

Jens Berger: „Schwarzbuch Corona. Zwischenbilanz der vermeidbaren Schäden und der tolerierten Opfer“. 208 Seiten, 18 Euro, Westend Verlag, 28.6.2021

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