Helge Peukert. Die Definition von „Klimaneutralität“ ist oft überraschend schwammig. Durch den starken Fokus auf Treibhausgase geraten andere Bedrohungen wie der Verlust der Artenvielfalt aus dem Blick. Es lassen sich einige Argumente für Kompensationsprojekte anführen (Kosteneffizienz, Experimentiervarianten). Oft dienen solche sich zurzeit explosionsartiger Beliebtheit erfreuende Projekte aber eher dem Aufbau eines grünen Images. So werden Unternehmen in der öffentlichen Wahrnehmung von einem Teil des Problems zu einem Teil der Lösung. Es gibt aber starke und berechtigte Bedenken gegen solche Projekte. Zum Beispiel: Sind sie wirklich zusätzlich und hätten ohne Subventionierungen nicht stattgefunden?
Emissionshandel und Ablasshandel
Beim Emissionshandel mit Zertifikaten werden künstlich Märkte geschaffen. Sie sind bei Ökonomen sehr beliebt und entsprechen einem liberalen Weltbild, sind aber mit hohem bürokratischen Aufwand verbunden und gingen bisher mit solch niedrigen und stark schwankenden Preisen einher, dass sie keine wesentlichen technologischen Innovationen induzierten. Politökonomisch gesehen stellt sich Klimapolitik als Ergebnis widerstreitender Interessengruppen mit unterschiedlichem Durchsetzungspotenzial dar, das meist wenig mit dem ökologisch eigentlich Notwendigen zu tun hat.
Auch für Privatpersonen ist es ohne größeren Aufwand möglich, für weniger als einen US-Dollar pro Tonne CO2 Klimakompensation vorzunehmen – sogar mit vom UN-Sekretariat (UNFCCC) beurkundeten Zertifikaten. Die für Kompensation notwendige Zusätzlichkeit und eine durch den Kauf der Gutschriften bewirkte sonstige Minderung der Einspeisung fossiler Energieträger sind oft fraglich und kaum nachweisbar.
Am Pariser Abkommen nehmen fast alle Länder dieser Erde teil, aber um den Preis des Fehlens klarer, einheitlicher Regelungen. Jedes Land kann unverbindlich einen beliebigen Strauß an kaum vergleichbaren Maßnahmen vorschlagen. So ist das proklamierte, aber schwammig formulierte 2- bis 1,5-Grad-Ziel nicht erreichbar. Sanktionen bei länderspezifischen Zielverfehlungen gibt es nicht. Die für den ungebremsten Wirtschaftsglobalismus entscheidende Schifffahrt und der Flugverkehr blieben außen vor. Eine weltweite Kohlenstoffsteuer stand nicht zur Debatte. Um das Ziel des Abkommens zu erreichen, müssten 80% der förderbaren fossilen Ressourcen im Boden bleiben. Stattdessen läuft ungeachtet des Abkommens nicht nur die Ölförderung auf Hochtouren.
Der die Stromerzeugung und verarbeitende Industrie betreffende europäische Emissionshandel setzt mit dem Ziel von 43% bzw. neuerdings 55% Treibhausgas-Minderung bis 2030 deutlich ehrgeizigere Ziele als die internationalen Vereinbarungen. Auch sind keine problematischen Kompensationsprojekte im Ausland mehr vorgesehen. Es sollen aber innereuropäische Kompensationsprojekte anrechenbar sein, deren Details hinsichtlich qualitativer Anforderungen usw. noch nicht feststehen. 11.000 Unternehmen nehmen an europaweiten, regelmäßigen Auktionen für Verschmutzungsrechte teil, deren Einnahmen den Ländern zufließen. Nur 57% der Zertifikate werden versteigert, der Rest wird kostenlos an die exportorientierte Industrie verteilt, die in den letzten Jahren nur geringe Minderungen der Treibhausgase vorzuweisen hat. Der Preis pro Tonne CO2 liegt Ende 2020 bei rund 30 Euro. Dennoch ist die festgelegte Kappungsmenge für 2020-2021 enttäuschend, da die Emissionen (vor Corona) 2019 bereits unter dieser Menge lagen. Spekulation ist durch die Nichteinschränkung der an Auktionen teilnehmenden Akteure weiterhin möglich.
Flugverkehr
Der weltweite Flugverkehr steigt exponentiell, nicht zuletzt dank massiver Subventionen der Flughäfen und Fluggesellschaften sowie Nichtbesteuerung. Wie der Schiffsverkehr wird er weder im Kyoto-Protokoll noch beim Pariser Abkommen einbezogen. In Europa ist er mittlerweile Teil des EU-ETS. Entgegen ursprünglichen Plänen, wird ausschließlich der innereuropäische Flugverkehr berücksichtigt, so dass nur ⅓ der Emissionen der in Europa startenden und landenden Flüge erfasst werden. Außerdem wird nur der CO2-Ausstoß einberechnet und keine sonstigen klimawirksamen Aspekte des Fliegens. Es gibt außerdem zahleiche Ausnahmen, z.B. für Militär- und Regierungsflüge. Auf Grundlage der Benchmark der Flüge von 2004-2006 (nicht 1990) werden in dieser Höhe kostenlos Zertifikate an die Flugzeugbetreiber entsprechend ihrer Flottengröße im Jahr 2010 verteilt. Wegen des zurzeit bestehenden Überangebots dürfte diese Nachfrage aber nicht so stark ins Gewicht fallen, dass sie zu einer Emissionseinsparung an anderer Stelle führt. Auch sind synthetische und Biokraftstoffe ausgenommen.
Auf internationaler Ebene soll das von der International Civil Aviation Organization (ICAO) vorbereitete Abkommen CORSIA ab 2020 zu „kohlenstoffneutralem Wachstum“ des Flugverkehrs führen. ICAO ist eine UN-Sonderorganisation mit 191 Mitgliedern, die hauptsächlich als Lobby der Flugbranche auftritt. Als Basisjahr gilt jetzt 2019. In der Höhe der Emissionen dieses Jahres werden kostenlose Zertifikate auf die Fluggesellschaften nach ihren historischen Emissionsanteilen verteilt. Darüberhinausgehende Emissionen des Gesamtsektors können ‒ anders als beim EU-ETS ‒ durch Kompensationsprojekte ausgeglichen werden. Zu diesen Projekten gibt es hinsichtlich klimapolitischer Qualität (noch) keine Vorgaben. International liegt bereits jetzt aber ein Überangebot vor, so dass die Preise für solche Projekte minimal sein werden. Darüber hinaus sind 118 weniger entwickelte Länder ausgenommen und bis 2026 ist die Teilnahme freiwillig (u.a. China und Russland sind einstweilen nicht dabei), nur CO2 wird eingerechnet, nachhaltige Treibstoffarten (synthetische und problematische Biokraftstoffe) sind ausgenommen und es gibt keine Sanktionen bei Austritten. CORSIA dient wohl eher zur Ablenkung effektiver Maßnahmen. Als solche lassen sich anführen: Festlegung maximaler Emissionen aus dem Flugverkehr, Verbot von Neubauten und Rückbau von Flughäfen, Beenden des innereuropäischen und nationalen Flugverkehrs, Einführung einer Kerosinsteuer und einer progressiv steigenden Vielfliegerabgabe, Förderung neuer Flugtechniken (Zeppeline).
Klimaneutralität leicht gemacht
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bezeichnet sich trotz intensiver Reisetätigkeiten in „Entwicklungsländer“ und zwischen den beiden Standorten Bonn und Berlin als erstes klimaneutrales Ministerium. Der bürokratische Erhebungsaufwand ist immens. Neben nicht unerheblichen Minderungen von Treibhausgasen an den deutschen Standorten wurden mit Emissionsgutschriften aus Projekten in Nepal und Ruanda „unvermeidliche“ Emissionen kompensiert. Die Preise für die Gutschriften bleiben geheim, sie müssten bei rund 8 Euro liegen und den Etat des BMZ mit 0,0004% belasten.
Mittlerweile gibt es auf den Finanzmärkten hunderte von grünen Investitionsangeboten. Eine kritische Durchsicht zeigt, dass diese von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen entweder sehr teuer (Verwaltungskosten), zu wenig diversifiziert (Branchenindizes), sicher und gut, aber ohne Rendite, oder bei breiter Aufstellung meist klimapolitisch sehr verwässert und ausgesprochen problematisch sind. Die Unterstützung einzelner grüner Projekte durch den Kauf von Anteilen geht mit der Gefahr des Totalverlustes bei Insolvenz einher. Nach wie vor gibt es keine klaren Qualitätsanforderungen und der durchschnittliche Kaufinteressent hat kaum einen Überblick. Offen ist, ob von einer Geldanlage auf den Kapitalmärkten (Dekarbonisierung) ausreichende Signale zu einer klimapolitischen Transformation ausgehen können. Diversifizierte, wirklich grüne Angebote für den Durchschnittsbürger sind eine „Marktlücke“.
Die Weltgesellschaft – oder zumindest große lokale Blöcke wie die EU – braucht eine ehrliche Begrenzungsdebatte über die maximal zulässigen Emissionen und einen Ausschluss oder zumindest eine Einschränkung des „Luxuskonsums“. Gleichzeitig muss der Ressourcenverzehr um absolut mindestens 2/3 abgesenkt werden und eine maximal tragbare Senkenbelastungen gewährleistet sein. Um ein grünes Paradox zu vermeiden und nicht etwa die Nichtteilnehmer zu belohnen, bedarf es eines Post-Kyoto-Superkartells, d.h. eine Vereinbarung innerhalb einer Koalition der Willigen mit den Besitzern fossiler Ressourcen, damit der Hauptanteil der noch förderbaren Öl-, Gas- und Kohlevorräte im Boden bleibt. Ferner müsste u.a. ein weltumspannendes Biodiversitätsnetzwerk etabliert werden, das 50% der Erde (Land und Wasser) umfasst, in dem sich der Mensch nur minimal bemerkbar machen darf.
Begleitende Maßnahmen nötig
Die notwendigen Schrumpfungen werden kurzfristig zu hoher Arbeitslosigkeit führen. Als Auffangbecken sollte ein öffentlicher, sozial-ökologischer Arbeitsmarkt mit angemessenen (Mindest-)Löhnen geschaffen werden, der die Sicherung des Lebensunterhalts ermöglicht und ein bedingtes gesichertes Grundeinkommen garantiert. Um die Abhängigkeit von einem sowieso zu verkleinernden Finanzsektor zu vermeiden und nicht auf vom Wachstum abhängige Steuern angewiesen zu sein, sollte ein erheblicher Teil der Staatsausgaben durch Direktfinanzierung der Zentralbank, die auch in Verbindung mit den Banken eine gewisse ökologische Kreditlenkung betreiben sollte, sichergestellt werden. Um Schlendrian zu vermeiden, sollte über die Verwendung dieser Gelder möglichst auf kommunaler Ebene über Bürgerhaushalte demokratisch entschieden werden. Schließlich sind natürlich auch fundamentale Veränderungen unseres persönlichen Lebenswandels nötig, womit wir bereits heute beginnen können.
Helge Peukert: „Klimaneutralität jetzt! – Politiken der Klimaneutralität auf dem Prüfstand: IPCC-Berichte, Pariser Abkommen, europäischer Emissionshandel und Green Deal, internationale freiwillige Klimakompensationsprojekte und die deutsche Klimapolitik„. Metropolis. 514 Seiten. 19,80 Euro oder als eBook 16,24 Euro.