Leseprobe
Kapitalverkehrskontrollen waren ein fester Bestandteil des in Bretton Woods geschaffenen Finanzsystems. Erst nach und nach, überwiegend in den 1970er-Jahren, lockerten die Länder durch Entscheidungen ihrer Regierungen und Parlamente die entsprechenden Bestimmungen. Diese Weichenstellungen wurden nicht durch äußere Umstände erzwungen. Die Kontrollmöglichkeiten wurden durch die fortschreitende technische Entwicklung eher vereinfacht als erschwert. Es ging vielmehr um politische Entscheidungen, die die Rahmenbedingungen der Wirtschaft weiter verbessern und die Finanzmärkte entwickeln sollten.
Dass unregulierter Kapitalverkehr in einem längerfristigen Prozess zur Teilentmachtung von Staaten führen kann, sahen und bezweckten schon damals manche, während andere Akteure solche Fernwirkungen eher ignorierten. Noch war die Macht der Staaten ungebrochen.
Kapitalmobilität als Demokratieproblem
Unbeschränkter Kapitalverkehr – das scheint auf den ersten Blick größtmögliche Freiheit zu bedeuten und eine Menge Bürokratie zu sparen. Grenzüberschreitende Vermögensdispositionen sind problemlos möglich, Anleger können weltweit die besten Renditechancen nutzen. Indem sie ihr Kapital international streuen oder rechtzeitig verlagern, schützen sie es außerdem vor länderspezifischen Risiken, solchen ihres Heimatlandes eingeschlossen. Politisch betonen wirtschaftsliberale Autoren, dass die Kapitalverkehrsfreiheit den Bürgern, über die demokratischen Wahlen hinaus, eine zusätzliche und sogar wirkungsvollere Einflussmöglichkeit auf den Staat eröffne – durch den Abzug von Kapital oder die Drohung damit. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur klingt das so, dass zur Voice-Option, die sowohl die Teilnahme an Wahlen als auch den Gebrauch der Meinungsfreiheit umfasst, die Exit-Option hinzutritt. Und doch liegt darin nicht nur ein politisches, sondern auch ein verfassungsrechtliches Problem.
Ursprünglich wurden die Kategorien von Voice und Exit für den Geschäftsverkehr entwickelt. Dort bedeutet Voice, Reklamationen anzubringen, wenn der Geschäftspartner schlecht leistet, sich zu beschweren, Nachbesserung oder Neubelieferung zu verlangen. Wer dagegen, vielleicht sogar nach einer längeren Geschäftsbeziehung, schlicht den Anbieter wechselt, realisiert die Exit-Option. Die Terminologie wurde schon bald von liberalen Wirtschaftstheoretikern auf das Verhältnis
von Staaten und Staatsbürgern übertragen. Hier umfasst die Voice-Option allerdings nicht nur die Möglichkeit, Forderungen zu stellen und seine Meinung zu äußern, sondern insbesondere auch das demokratische Wahlrecht. Hinzu kommt nun die Möglichkeit des Exits, d.h. die Option, bei grundsätzlicher Unzufriedenheit das Land zu verlassen und sich ein anderes zu suchen, in dem die Politik ein günstigeres Arrangement aus öffentlichen Leistungen und geforderten Gegenleistungen, insbesondere Steuern, bietet.
Der Bürger wird hier zum vergleichenden und gegebenenfalls den Anbieter wechselnden Konsumenten staatlicher Politik. Nicht immer klar unterscheidet die entsprechende Literatur jedoch, ob der Bürger selbst samt seiner Habe das Land wechselt, oder ob er nur Teile seines Vermögens in die Ferne schickt und selbst ortsfest bleibt.
Da man mit seiner Stimmabgabe nur sehr begrenzt Einfluss nehmen könne, sei die das Wahlrecht ergänzende Exit-Option, so ihre Verfechter, nicht nur begrüßenswert, sondern geradezu unverzichtbar. Entsprechend wollen sie sie vor jeder Reglementierung schützen und lehnen beispielsweise auch zwischenstaatliche Abkommen zur Verhinderung von Steuerflucht als staatliches „Kartellverhalten“ ab. Das Problem ist aber, dass im politischen Bereich die Exit-Option das Gewicht der Voice-Option und insbesondere des Stimmrechts bedeutend reduzieren kann. Hier konkurrieren diejenigen, die die Exit-Option instrumentalisieren, mit der Mehrheit der Staatsbürger, die mangels Kapital auf ihre Voice-Option beschränkt sind. Denn über ausreichend Kapital, das zudem mobil sein muss, um damit Einfluss auszuüben (das Einfamilienhaus zählt also nicht) verfügt bekanntlich nur eine Minderheit. So hat eine Forschergruppe des DIW ermittelt, dass die reichsten 45 Familien in Deutschland über ebenso viel Kapital verfügen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Das reichste Prozent der Bevölkerung kommt auf etwa 33 bis 35 Prozent.
Das Problem wird weiter noch dadurch verschärft, dass mit der Exit-Option eine unterschiedliche Besteuerung von mobilem und immobilem Kapital erzwungen werden kann, ebenso wie eine unterschiedliche Besteuerung von Kapital- und Arbeitseinkommen.
Ein theoretischer Überbau für unbeschränkten Kapitalverkehr
In der Realpolitik braucht man keine ausgefeilten theoretischen Begründungen, um die unbeschränkte Freiheit des Kapitalverkehrs durchzusetzen und aufrecht zu erhalten. Es reicht, dass man die Macht hat oder zumindest die Gunst eines historischen Moments zu nutzen weiß. Es kann genügen, die Kapitalverkehrsfreiheit zu einem Baustein politischer Freiheit zu erklären, sie schlicht als zeitgemäß zu bezeichnen oder auf Renditechancen hinzuweisen, die verbessert werden.
Man kann sich auf kosmopolitische Überzeugungen berufen, auf eine Welt möglichst ohne Grenzen. Und man kann, wenn man sich nicht scheut, widerlegt zu werden, auch suggerieren, die Auslandsreise des einfachen Bürgers würde ohne unbeschränkte Kapitalverkehrsfreiheit komplizierter. Es gibt aber auch eine radikal-liberale, für den sogenannten Neoliberalismus zentrale Begründung, warum die unbeschränkte Freiheit des Kapitalverkehrs – und damit das uneingeschränkte Recht, Kapital aus dem Land, in dem es erwirtschaftet wurde, abzuziehen – politisch unverzichtbar sei.
Kapital über Staatsgrenzen hinweg zu bewegen, insbesondere, wenn es aus versteuerten Einkünften stammt, ist in den Grenzen der Sozialbindung des Eigentums grundsätzlich Teil des Eigentumsrechts. Dass der Abzug großer Kapitalmengen eine Regierung unter starken Druck setzen kann, wird aus wirtschaftsliberaler Perspektive als positiv gesehen, ungeachtet der Tatsache, dass die betroffene Regierung demokratisch legitimiert ist. Denn zum einen wird der Einfluss, den der Bürger mit seiner Stimme und vielleicht darüber hinaus mit seinem Engagement und seinen Meinungsäußerungen auf die Politik nehmen kann, wie erwähnt als zu gering erachtet. Zum anderen wird die Politik der Kompromisse, die üblicherweise das Ergebnis demokratischer Prozesse ist, als ineffizient und kostspielig kritisiert.
Die Vertreter dieser Ansicht betrachten die Voice-Option nicht zuletzt deshalb als zu schwach, weil es keine Möglichkeit gebe, die immer wieder eigennützig handelnden Politiker an die Erfüllung ihrer Wahlversprechen zu binden. Und geradezu empörend sei, dass in der Demokratie Mehrheiten aus weniger begüterten Menschen die Macht erhielten, Maßnahmen zu veranlassen, die von der reichen Minderheit überproportional mitfinanziert werden müssten, selbst wenn die reiche Minderheit an diesen Maßnahmen kein Interesse habe. Ein schlichtes Beispiel ist der Bau eines Freibads, an dem die reiche Minderheit wegen ihrer privaten Swimmingpools nicht interessiert ist, das sie aber trotzdem mitfinanzieren muss, und angesichts eines ansteigenden Steuertarifs sogar überproportional. Diese für eine Demokratie typische Konstellation führe zu einem übertriebenen und ineffizienten Ausgabeverhalten demokratischer Staaten. Die nötige Zähmung der Demokratie sei wegen der Majorität ärmerer Menschen nicht über Voice, sondern nur über eine wirkungsvolle Exit-Option möglich, die die demokratischen Staaten in einen direkten Wettbewerb zueinander bringe. Der Wettbewerb um Kapital zwinge sie dazu, ihre Attraktivität für die Eigentümer mobilen Kapitals in einem permanenten politischen Prozess zu optimieren.
Den mehr oder weniger immobilen Produktionsfaktoren, der Arbeit und dem ortsfesten Kapital, obliege es, um das mobile Kapital zu werben. Staaten, die für die Eigentümer mobilen Kapitals ungünstige Bedingungen böten, etwa bei den Steuern, dem Arbeitsrecht, den Arbeitszeiten oder der Bürokratie, würden dafür mit der Abwanderung von mobilem Kapital bestraft. Ihnen bleibe nichts Anderes übrig, als ihre Angebote an das mobile Kapital so lange zu verbessern, bis ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederhergestellt sei. Zurückkommend auf das Schwimmbadbeispiel bedeutet das, dass es weniger darum geht, wegen des Schwimmbads auszuwandern, als vielmehr darum, eine Position zu erlangen, aus der sich ein Schwimmbadbau verhindern lässt.
Der Staat, den es in dieser Weise zu domestizieren gelte, wird oft als Leviathan-Staat bezeichnet. Leviathan ist ein mythologisches Fabeltier mit unüberwindlichen Kräften. Das Bild wurde bereits 1651 von Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Buch verwandt, in dem er sich mit dem absolutistischen Staat beschäftigte. Diesem Leviathan, d.h. dem Expansionsdrang des Staates, der Politiker und der Bürokratie, werde durch die Unterwerfung unter das – ggf. durch Abwanderung zu vollstreckende – Urteil der Eigentümer des mobilen Kapitals ein wirkungsvoller Riegel vorgeschoben.
Manche wirtschaftsliberalen Theoretiker fordern sogar, den Staat als sogenannten „Nachtwächterstaat“ auf das allernötigste, insbesondere auf die Gewährleistung von Sicherheit, zu reduzieren. Denn das Streben aller gesellschaftlichen Gruppen nach ökonomischen Vorteilen
jenseits der Marktergebnisse sei so stark, dass es zu gefährlich wäre, wenn es einen großen Batzen Geld zu verteilen gäbe. Besser, man halte den Kuchen klein.
Außerdem, so werben die Verfechter unbeschränkter Kapitalmobilität, schaffe der zwischenstaatliche Wettbewerb Chancen zur Entdeckung neuer, unbekannter Möglichkeiten, wie öffentliche Leistungen kostengünstig angeboten werden könnten. Die Charakterisierung des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren geht auf Friedrich August von Hayek (1899–1992) zurück, den vielleicht prominentesten Vordenker des Neoliberalismus. Hayek betonte, dass die Wirkung des Wettbewerbs nicht nur darin bestehe, Preise von Waren und Dienstleistungen herunterzudrücken und schwache Anbieter aus dem Markt zu selektieren. Wichtiger sei noch, dass der Wettbewerb – in einer Welt unsicherer, unübersichtlicher und maximal verstreuter Informationen – die Teilnehmer dazu nötige, immer wieder neue Angebotsarrangements auszuprobieren.
Nur so könne der Schatz potenziell verfügbarer Informationen gehoben werden. Und nur der Wettbewerb könne erweisen, welche Arrangements am Ende die besseren seien. Nach Hayek gilt das nicht nur für das privatwirtschaftliche Angebot von Gütern und Dienstleistungen, sondern genauso für Staaten als konkurrierende Anbieter von Regelungs- und Politikkonzepten. Dazu sei ein scharfer Wettbewerb der Staaten erforderlich.
Von Hayek stammt zudem die Bezeichnung von Demokratien, die nicht durch Wettbewerb domestiziert werden, als „totalitäre“ und „Schacherdemokratien“, die Ergebnisse hervorbrächten, die niemand gewollt habe. Hayek geht von einem Scheitern des demokratischen Ideals aus: Die Demokratie führe im Ergebnis immer zu einer Befriedigung von Gruppeninteressen auf Kosten des Allgemeinwohls. Sie sei sowohl ineffizient als auch ausbeuterisch.
Die Angst vor einer Ausbeutung der reichen Minderheit durch eine arme Mehrheit in der Demokratie hat eine lange Tradition. Der unter Ökonomen sehr bekannte Knut Wicksell warnte 1896:
„Wenn einmal die unteren Klassen definitiv in Besitz der gesetzgebenden und steuerbewilligenden Gewalt gelangt sind, wird allerdings die Gefahr vorliegen, dass sie ebenso wenig uneigennützig verfahren werden wie die Klassen, welche bisher die Macht in den Händen hatten, dass sie mit anderen Worten die Hauptmasse der Steuern den besitzenden Klassen auflegen und dabei vielleicht in der Bewilligung der Ausgaben, zu deren Bestreitung sie nunmehr nur wenig beitragen, so sorglos und verschwenderisch verfahren, dass das bewegliche Kapital des Landes bald nutzlos vergeudet und damit die Hebel des Fortschritts zerbrochen sein werden.“
Roland Vaubel, einen führenden deutschen Vertreter der Gruppierung ultra-liberaler Ökonomen, bis 2016 Professor an der Universität Mannheim und ferner Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, hat das dazu gebracht, seine Sympathie für ein parlamentarisches Zweikammersystem zu erklären, das finanzielle Belastungen der Bürger nur im Konsens zwischen Arm und Reich zulasse. Beide Kammern des Parlaments müssten jeweils allen Finanzierungs- und Ausgabenentscheidungen zustimmen. Beide Kammern würden zwar von allen Bürgern gewählt. Für eine der beiden Kammern müsse sich allerdings das Stimmgewicht der Wähler an ihrem Vermögen orientieren.
Das ist für einen Beamten und Regierungsberater insofern bemerkenswert, als es dem nach Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes unabänderlichen Kernbereich der parlamentarischen Demokratie widerspricht. Vielleicht aus pragmatischen Gründen gibt Vaubel am Ende dann der Einhegung der Demokratie durch einen bewusst zu fördernden und zu sichernden zwischenstaatlichen Wettbewerb gegenüber seinem Traum von einer Ständedemokratie den Vorzug. Er endet mit der Feststellung: „Heute sprechen wir von der Globalisierung, und darin liegt die große Chance der Leistungseliten.“
Der Einwand, diese „Domestizierung“ nehme dem demokratischen Staat wesentliche Regelungsbereiche und entkerne die Demokratie, liegt nahe. Einmal abgesehen davon, dass das ja gerade ein wesentliches Element des Programms ist, wird dagegen vorgebracht, der Politik verblieben noch immer genügend Bereiche, die sie steuern könne und müsse. Die Politik solle ja gerade durch die Setzung von wirtschaftsfreundlichen Regeln, durch die Bereitstellung von Infrastruktur, die Heranbildung einer qualifizierten und motivierten Arbeitnehmerschaft usw. erkunden und im Wettbewerb erproben, welche Arrangements das mobile Kapital am wirkungsvollsten ins Land lockten.
Und je attraktiver das Angebot ausfalle, desto höhere Preise, zum Beispiel in Form von Steuern, könne der Staat dafür nehmen. Die Situation sei mit jener von Städten und Gemeinden vergleichbar, die die Ansiedlung von Gewerbe kreativ und kompromissbereit förderten, indem sie Steuertarife moderat gestalten, Grundstücke günstig bereitstellen, die gewerbebezogene Infrastruktur verbessern und sich in vielerlei Hinsicht für die örtliche Wirtschaft einsetzen.
Das Konzept zwischenstaatlichen Wettbewerbs ist insbesondere auch ein gegen Umverteilung gerichtetes Konzept. Über das Ausmaß sinnvoller Umverteilung kann man streiten. Wer aber Umverteilung grundsätzlich ablehnt und fragt, warum reiche Menschen mehr an den Staat zahlen sollen, als es ihrer unmittelbaren Inanspruchnahme staatlicher Leistungen entspricht, ignoriert die Tatsache, dass es ohne die nur mit progressiven Steuern finanzierbare staatliche Infrastruktur viel weniger wohlhabende Menschen gäbe und dass der Wohlstand der Reichen ohne diese Infrastruktur nicht zustande käme. Es bliebe nur eine kleine Gruppe reicher Oligarchen. Und er sieht über die Tatsache hinweg, dass es für Menschen mit zunehmendem Wohlstand leichter wird, noch mehr Geld zu verdienen; umso mehr, wenn wirtschaftlicher Erfolg zu wachsender Handlungsmacht führt.
Gesunde Schlankheitswettbewerbe?
Wer der Demokratie ihre Schwächen vorhält, erfährt oft viel Zustimmung. Nehmen wir Hayeks Vorwurf der „Schacherdemokratie“, die Ergebnisse erzeuge, die keiner gewollt habe. Ein Beispiel dafür lässt sich schnell finden: In einer Gemeinde gibt es die Ortsteile Kirchdorf und Blumental. Kirchdorf will unbedingt eine Umgehungsstraße zur Entlastung der geplagten Anwohner der Hauptstraße, Blumental endlich ein Dorfgemeinschaftshaus, weil es dort nach dem Abriss des Gasthofs keinen Versammlungsort mehr gibt.
Die aus Kirchdorf kommenden Mitglieder des Gemeinderats betrachten das Dorfgemeinschaftshaus gleichwohl als verzichtbar und umgekehrt die Ratsmitglieder aus Blumental den Bau der Umgehungsstraße. Weil keine Seite ihr Projekt ohne die Stimmen der Gegenseite durchsetzen kann, werden schließlich beide Vorhaben beschlossen, wenn auch vielleicht zeitlich gestreckt. Man hat also geschachert, und es gibt womöglich kein Ratsmitglied, das beide Projekte aus vollem Herzen befürwortet. Trotzdem wird es gemacht.
Ähnlich verhält es sich, wenn in einer Umfrage gefragt wird, wo Bürger eine Verschwendung staatlicher Gelder sehen. Da wird viel zusammenkommen. Jedem von uns fällt spontan einiges ein. Das Problem ist nur, dass wir zwar alle gemeinsam empört sind und damit vielleicht sogar einen wohltuenden Moment der Zusammengehörigkeit erleben.
Nur können wir uns anschließend leider oft nicht darauf einigen, welche Projekte denn die überflüssigen sind. Betrifft das die Stelle für die stellvertretende Frauenbeauftragte, die Kosten der Durchführung der Baumschutzsatzung, die neue Straße, die Konzerthalle oder das neue Logo für das Stadtmarketing?
Natürlich gibt es zahlreiche Fälle, wo es unabhängig von politischen Zielkonflikten zu Pleiten, Pech und Pannen kommt. Beispielsweise haben wir ein öffentliches Bau- und Vergaberecht, welches – in dem honorigen Bestreben, Begünstigungen zu verhindern und das wirtschaftlichste Angebot zum Zuge kommen zu lassen – dazu führt, dass ein vernünftiger Bauprozess oft nicht gelingt. Pfusch, Prozesse und die Insolvenz von Auftragnehmern sind vorgezeichnet. Hier und an anderen Stellen gibt es viel zu tun.
Schaut man sich allerdings an, wieviel auch privaten Bauherren misslingt, wird man die Erwartungen in einem realistischen Rahmen halten müssen. Ähnliches gilt, wenn man die Chance hat, einen Insiderblick in große Unternehmen zu werfen und erkennt, welche Kosten dort auf Machtkämpfe und zweifelhafte Karrierestrategien zurückgehen. Dringlich ist es zudem, bessere Regularien zu entwickeln, die Korruption erschweren. Hier muss auch die Wissenschaft ihren Beitrag leisten. Trotz allem aber werden Demokraten an Winston Churchills Meinung festhalten, dass die Demokratie vielleicht eine schlechte, aber die beste aller verfügbaren Regierungsformen ist.
Setzt man statt des schwachen Wählers den internationalen Investor als Schiedsrichter der Politik ein, sind die daraus erwachsenden Entscheidungen, allen angepriesenen Entdeckungsverfahren zum Trotz, in vielen Fällen vorgezeichnet. Denn begüterte Menschen haben oft eine Präferenz für niedrige Staatsausgaben und reduzierte soziale Sicherungssysteme. Ihnen steht vor Augen, dass sie viele öffentliche Einrichtungen entweder gar nicht nutzen oder sich die Leistungen privat, speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten, günstiger beschaffen können.
Sie schauen auf ihren – wenn auch inzwischen verminderten – Spitzensteuersatz und übergehen dabei gerne die nur ihnen offenstehenden Steuergestaltungsmöglichkeiten und die Tatsache, welche Summen auch die übrigen Gruppen der Gesellschaft, nicht zuletzt über indirekte Steuern, aufbringen.
Entscheiden vermögende Investoren darüber, wie staatliche Leistungen ausfallen, ist der Sozialstaat substanziell gefährdet. Denken die Investoren über den Horizont ihrer kurzfristigen Renditeziele hinaus, was bei Managern keineswegs und auch bei Eigentümern nicht immer sichergestellt ist, werden sie womöglich jene staatlichen Maßnahmen tolerieren und mitfinanzieren, die für das Angebot eines gesunden, gut ausgebildeten und nicht übermäßig konfliktbereiten Arbeitskräfteangebots erforderlich sind.
Auch dann werden sie allerdings bestrebt sein, ihren finanziellen Einsatz zu minimieren und die Kosten soweit wie möglich den ortsfesten Arbeitskräften und den Eigentümern von immobilem Kapital, zum Beispiel Hausbesitzern, zu überlassen. Die Einsetzung des mobilen Kapitals zum Schiedsrichter über „gute“ und „schlechte“ Politik verschiebt die Perspektive, aus der politische Leistungen betrachtet werden, grundsätzlich.
So werden, um ein Beispiel zu nehmen, auch die Eigentümer des mobilen Kapitals vom Staat Sicherheit als eine wesentliche staatliche Leistung verlangen, die nicht allein durch private Sicherheitsdienste geboten werden kann. Aber sie werden bei diesem Bedürfnis wahrscheinlich selektiv vorgehen und Kosten und Nutzen in ihrem Sinne abwägen. Im Extremfall werden dann die Innenstädte, die guten Wohnviertel und die Verbindungswege zwischen ihnen und dem Flughafen von der Polizei geschützt, aber problematische Viertel aus Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten tendenziell sich selbst überlassen, jedenfalls solange deren Bewohner Straftaten nur untereinander begehen.
Durch unbeschränkte Kapitalmobilität verringert sich die Fähigkeit des Staates, Unternehmen und Investoren soziale Verpflichtungen aufzuerlegen. Die Besteuerbarkeit des Kapitals nimmt ab, weil die Kapitaleigner relativ frei zwischen konkurrierenden Investitions- und Anlagestandorten wählen können. Die Lasten der Finanzierung der Infrastruktur und der sozialen Sicherung müssen folglich in deutlich stärkerem Maße von den weniger mobilen Teilen der Gesellschaft, von Arbeitnehmern, Konsumenten, Immobilienbesitzern und regional verankerten kleinen Gewerbetreibenden, getragen werden.
Sozialpolitik ist nur noch möglich, soweit sie als positiver Faktor in der Standortkonkurrenz gerechtfertigt werden kann. Die Ausgaben für bedürftige, alte oder längerfristig kranke Menschen gehören kaum dazu. Infolge der Ausrichtung des Staates an den Bedürfnissen der vermögenden Minderheit nehmen die Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme zu, während die zur Verfügung stehenden Mittel abnehmen.
Die Exit-Option, konsequent ausgespielt, ermöglicht es der Kapitalseite aber nicht nur, sich jeder „Umverteilung“ zu entziehen, sie erlaubt es auch, sogar die Finanzierung von produktivitätssteigernden Infrastrukturmaßnahmen bis zu einer auszutestenden Schmerzgrenze den immobilen Steuerzahlern zu überlassen, die damit für die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze letztlich einen Teil ihres Lohns an die Unternehmen zurückgeben.
Im Kapitel 2 wurde dargestellt, dass ein freier internationaler Handel mit Waren und Dienstleistungen im Grundsatz allen beteiligten Ländern zugutekommt, dass der Handel aber innerhalb der Länder Gewinner und Verlierer schafft. Diese länderinternen Probleme mögen hinnehmbar sein, wenn es gelingt, die Verlierer aus den zusätzlichen Einnahmen der Gewinner zu entschädigen, wobei den Gewinnern auch bei einer vollständigen Entschädigung immer noch ein Plus verbleibt.
Eine entsprechende Umverteilung ist nur durch den Staat denkbar. Im Falle eines forcierten Wettbewerbs um Kapital droht dem Staat jedoch der Verlust gerade dieser Fähigkeit. Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass die Vorteile des internationalen Handels weitgehend durch die Eigentümer des mobilen Kapitals beansprucht werden. Zusätzlich muss beachtet werden, dass nicht nur der umverteilende, ausgleichende Staat durch den Wettbewerb um mobiles Kapital unter Druck gerät, sondern auch der regulierende Staat, der zum Beispiel Normen zum Schutz der Umwelt und der Bevölkerung erlässt.
Von den Kapitaleigentümern werden die Belastungen aus entsprechenden Vorschriften in Geld umgerechnet und gehen in eine Gesamtbetrachtung mit der Steuerbelastung und der angebotenen Infrastruktur ein. Ein Staat, der strenger reglementiert als konkurrierende Staaten, muss dann auf anderen Feldern mehr bieten, um wettbewerbsfähig zu sein.
Deutlich wird, wie zweifelhaft es ist, wenn der Staat, der den Wettbewerb in sozialverträgliche Bahnen leiten soll, zugleich selbst in einem scharfen Wettbewerb gefangen ist. Wenn es schon ein Risiko bedeutet, dass Wirtschaftsprüfer oder technische Prüfstellen miteinander konkurrieren und von Aufträgen der Geprüften abhängen, und wenn dieser Umstand im Grunde eine zusätzliche, darüberstehende Aufsicht der Aufsicht erfordert – wieviel problematischer ist dann der Wettbewerb der Staaten untereinander…
Rolf Klein: „Demokratien im inszenierten Standortwettbewerb Politik für die unteren 90 Prozent.“ 2021, 348 S., brosch., 28,– €, ISBN 978-3-8288-4594-7. Inhaltsverzeichnis
Nachbemerkung von Norbert Häring: Ich hatte erwähnt, dass ich die nähe zum ökonomischen Maisntream (auch) für eine Schwäche halte. Am größten ist sie dort, wo Klein den untauglichen Kapitalbegriff des Mainstreams übernimmt. Aus dieser Sicht ist Kapital ein Produktionsfaktor. Tatsächlich hilft Kapital nicht bei der Produktion, sondern verbrieft nur Rechte auf den Gewinn aus der Produktion. Aber damit ist Klein ja nun wahrlich nicht allein. Für eine andere Perspektive auf das Kapital:
Das wahre Wesen des Kapitalismus: 1. Kapital als geronnene Macht