Arm gegen noch ärmer, die US-Variante

Die USA sollten mehr Geld für die eigenen Armen ausgeben und weniger für jene in den Entwicklungsländern. Diese provokante America-first-Forderung stammt von Princeton-Professor Angus Deaton, einem der führenden ökonomischen Armutsforscher. Für seine „Analyse von Konsum, Armut und Wohlfahrt“ erhielt er 2015 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis der Schwedischen Reichsbank, auch kurz Ökonomie-Nobelpreis genannt. Seine Analyse ist erstaunlich schwach.

Deaton argumentiert in der New York Times, es gebe in den USA Millionen Menschen, die ebenso arm und bedürftig seien wie Menschen in Entwicklungsländern, die unter extremer Armut litten. Nach der Definition der Weltbank ist das der Fall, wenn eine Person nicht mehr als 1,90 Dollar pro Tag zur Verfügung hat, bereinigt um Kaufkraftunterschiede.

In den USA gebe es über drei Millionen Menschen auf diesem extrem niedrigen Einkommensniveau, stellt Deaton zunächst fest. Er beruft sich auf eine Datenbank der Weltbank zur Anzahl von Menschen, die in verschiedenen Ländern in absoluter Armut leben. In dieser Datenbank sind seit Oktober auch die Industrieländer enthalten. „Aber es gibt Lebensnotwendigkeiten in reichen, kalten, verstädterten und individualistischen Ländern, die in armen Ländern weniger essenziell sind“, wirft Deaton ein. Er kommt deshalb zu dem Schluss, dass man in den USA eher vier Dollar am Tag braucht, um ähnlich knapp seine Grundbedürfnisse nach Wohnung, Wärme und Essen zu befriedigen, wie es in den warmen Ländern des Südens mit 1,90 Dollar möglich ist. Setze man dieses höhere Bedarfsniveau an, dann lebten sogar über fünf Millionen US-Amerikaner nach globalen Standards in absoluter Armut.

Rhetorische Tricks eines Laureaten

Um seinen Punkt zu machen, scheut Deaton nicht vor trickreichen Formulierungen zurück. So weist er darauf hin, dass es Regionen in den USA gebe, in denen die Lebenserwartung geringer sei als in Bangladesch. Die beiden Regionen, die er nennt, das Mississippi-Delta und die Appalachen, sind jedoch dünn besiedelte ländliche Regionen. Und in Bangladesch ist die Lebenserwartung mit 72 Jahren deutlich höher als in anderen Ländern mit ähnlich niedrigem Einkommensniveau. Es ist nur sechs Jahre geringer als das der durchschnittlichen US-Amerikaner.

Für heftigen Widerspruch aus dem entwicklungspolitischen Lager sorgen jedoch nicht solche rhetorischen Tricks, sondern schon der Kern seines Arguments.  Charles Kenny und Justin Sandefur vom Center for Global Development in Washington halten ihm vor, dass er den Hinweis der Weltbank ignoriert, wonach diese davon ausgeht, dass es in den reichen Industrieländern praktisch keine extreme Armut gibt. Den scheinbaren Widerspruch zu ihrer Datenbank erklärt die Weltbank damit, dass diese für die USA das Einkommen verwende, für die armen Ländern jedoch normalerweise den Konsum.

Der Unterschied kann beträchtlich sein. Man kann ohne Einkommen sein – und von seinen Ersparnissen leben. Oder man kann von öffentlichen Sachleistungen oder privaten Hilfen leben, die in den Erhebungen nicht als Einkommen erfasst werden.  Die Weltbank schreibt sogar ausdrücklich: „Die USA sind ein gutes Beispiel: Nach manchen Schätzungen leben dort ein bis vier Prozent der Bevölkerung unter der Zweidollar-Armutslinie, gemessen am Einkommen.“ Wenn man die Wohlfahrt aber am Konsum messe, meldeten die reichen Länder meist null absolute Armut, „weil die Armen in diesen Ländern normalerweise Zugang zu kostenlosen öffentlichen Diensten und Transfers haben, die nicht als Einkommen gemessen werden, aber sicherstellen, dass das Konsumniveau über der Armutsschwelle liegt“.

Irreführende Zahlen

Die Weltbank muss sich vorhalten lassen, dass sie derart Verschiedenes in einer Datenbank vermischt, was dazu einlädt, falsche Vergleiche zu ziehen. Aber einem führenden Armutsforscher sollte ein solcher Fehler eigentlich nicht unterlaufen. Laurence Chandy, heute Direktor für Daten, Forschung und Politik beim UN-Kinderhilfswerk Unicef, hat schon 2013 für die Brookings Institution zusammen mit dem Datenspezialisten Cory Smith einen Bericht verfasst, in dem er den großen Unterschied zwischen den beiden Messgrößen darlegte. Nur 0,07 Prozent der Amerikaner, das wären etwa 230.000, haben nach ihren Schätzungen ein Konsumniveau unter 1,90 Dollar pro Tag – sehr viel weniger als die 3,3 Millionen, die Deaton nennt.

Deaton ist sich des Unterschieds bewusst. „In reichen Ländern sind mit wenigen Ausnahmen Trinkwasser und Essen zum Konsum geeignet“, räumt er ein, „es gibt überall Toiletten und eine Form der Gesundheitsversorgung ist für jeden erhältlich.“ Er räumt dann aber mit einem weiteren rhetorischen Trick den Einwand ab. All diese Dinge seien für arme Amerikaner weniger zugänglich, fügt er hinzu, so als könne man diese Vorzüge deshalb für internationale Vergleiche zwischen den extrem Armen ignorieren. Doch denen, die in Afrika mit weniger als 1,90 Dollar am Tag auskommen müssen, droht viel eher der Tod durch Unterernährung oder Krankheit als gleich armen Amerikanern, die im Krisenfall die Notaufnahme eines modernen Krankenhauses oder Essensgutscheine in Anspruch nehmen können.

An Deatons Befund, dass viel zu viele Amerikaner in extremer Armut leben müssen, haben Kenny und Sandefur nichts auszusetzen, nur an seinen Vergleichen und seinem Vorschlag, Gelder der Entwicklungshilfe ins Inland umzulenken.  „Amerika ist reich, es kann sowohl seine Armen besser unterstützen als auch die noch Ärmeren im Ausland“, lautet ihr Gegenresümee.

Dass arme Menschen in reichen Ländern besondere Probleme haben, das Grundbedürfnis nach einem Dach über dem Kopf zu befriedigen, zeigt die Krise der Obdachlosigkeit an der Westküste, wo die Tech-Branche die Mieten hochtreibt.  Nach der Zählung von Anfang 2017 waren in den USA etwa 500.000 Menschen obdachlos, mit Schwerpunkt an der Westküste. Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher sein. Die Nachfrage nach Notunterkünften für Obdachlose übersteigt in Kalifornien die Kapazitäten um ein Vielfaches.

[16.3.2018]

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