Philipp Heimberger.* Am 30. September machte die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) in einer Rede eine wichtige Nebenbemerkung, die kaum mediale Beachtung fand. Dabei enthielt sie ein vernichtendes Urteil über zentrale Bestandteile der EU-Haushaltsüberwachung im letzten Jahrzehnt.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde räumte nämlich ein, dass die Modelle, die als Grundlage zur Beurteilung der nationalen Haushaltspolitiken dienen, systematisch die wirtschaftliche Unterauslastung, auch Outputlücke genannt, unterschätzen. Die Modelle interpretierten den Produktionsrückgang im Zuge des Konjunktureinbruchs nach der Finanzkrise ab 2008 fälschlicherweise in eine „strukturelle“ Verringerung des Produktionspotenzials um.
Windige Schätzgröße im Zentrum der Haushaltsaufsicht
Das Produktionspotenzial ist eine Schätzung, wie viel eine Volkswirtschaft produzieren kann, ohne dass die Inflation steigt. Eine Differenz zwischen der tatsächlichen Wirtschaftsleistung und dem errechneten Produktionspotenzial zeigt Unterauslastung der Produktionsfaktoren an: Es könnte mehr produziert werden, ohne dass die Gefahr von Überhitzung und Inflation bestünde.
Eine große Outputlücke gilt als Indikator dafür, dass finanzpolitische Maßnahmen sinnvoll sein könnten, um die Wirtschaft anzukurbeln. Deshalb fließt die Outputlücke in die Beurteilung der Finanzpolitik ein. Wer eine größere Outputlücke hat, darf auch höhere Defizite haben.
Die EZB-Präsidentin verwies auf Forschungsergebnisse, die nahelegen, dass die EZB und die EU-Kommission im Nachgang der Finanzkrise von 2007/08 aufgrund systematisch klein gerechneter Outputlücken zu sehr auf Haushaltskonsolidierung drängten. In Italien und Spanien besagten damals die Modellberechnungen, dass fast die gesamte Arbeitslosigkeit „strukturell“, also nicht durch Konjunkturfaktoren verursacht sei. Die Folge waren übermäßige Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen mit der Folge von weniger Wachstum, mehr Arbeitslosigkeit und geringeren Steuereinnahmen.
In Italien sah die Kommission vor Corona trotz einer nahe bei zehn Prozent liegenden Arbeitslosenquote und sehr geringer Inflation keine Outputlücke. Das gesamte Budgetdefizit galt ihr als „strukturell“. Die italienische Regierung musste weitere staatliche Ausgabenkürzungen beschließen, um die EU-Budgetziele nicht zu verletzen.
Künstlicher Spardruck auch für Deutschland
Was geht das Deutschland an? Trotz der in der Forschung wohlbekannten Probleme ihres Schätzmodells hat die EU-Kommissionefiniert in ihrer jüngsten Konjunkturprognose die durch die Coronakrise bedingte Unterauslastung der Produktionskapazitäten in einen Rückgang des Produktionspotenzials umdefiniert. Das Produktionspotential wird der Kommission zufolge im Jahr 2021 um sage und schreibe 77 Milliarden Euro geringer sein als bei der letzten Schätzung vor Corona angenommen.
Daraus resultiert ein Kleinrechnen der Unterauslastung der Produktionskapazitäten – mit der Folge, dass die Schätzung des „strukturellen“ Budgetdefizits für kommendes Jahr um 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nach oben schnellt. Immerhin 42 Milliarden Euro des prognostizierten Budgetdefizits werden plötzlich nicht mehr der Konjunkturschwäche zugerechnet, sondern gelten als „strukturell“.
Das ist wichtig, weil die mittelfristigen Ziele in den EU-Budgetregeln in Form von Grenzwerten des „strukturellen“ Defizits formuliert sind. Wenn die Kommission in Krisenzeiten das Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft nach unten revidiert, steigt das „strukturelle“ Defizit. Der Spardruck erhöht sich damit für die betroffene Regierung.
Effektive Konjunkturpolitik wird verhindert
Damit droht die Verhinderung effektiver Konjunkturpolitik, die für ein Gelingen der wirtschaftlichen Erholung nach der Krise essenziell ist. Auch in Deutschland sollten daher die Alarmglocken läuten. Derzeit sind die EU-Fiskalregeln krisenbedingt ausgesetzt. Doch sobald sie reaktiviert werden, schränken die „strukturellen“ Budgetdefizite, die durch den systematischen Schätzfehler aufgeblasen werden, den Spielraum ein, den die Budgetpolitik zur weiteren Unterstützung des Aufschwungs jedoch bitter nötig hätte.
Das Kommissionsmodell ist auch für die Berechnung entscheidender Schätzgrößen in der deutschen „Schuldenbremse“ maßgeblich. Dort ist die Kreditaufnahme des Bundes auf ein „strukturelles“ Defizit von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung beschränkt; für die Bundesländer gilt sogar ein Verbot der strukturellen Neuverschuldung. Die Schätzungen mit dem Kommissionsmodell stellen im Rahmen der „Schuldenbremse“ eine noch stärker bindende Vorgabe dar als auf EU-Ebene.
Es ist höchste Zeit, dass sich die deutsche Politik für vernünftige Schätzungen des strukturellen Defizits starkmacht.
*Philipp Heimberger ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche und am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft, Linz.
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Die EU-Budgetregeln machen auf flexibel, sind es aber in Wahrheit nicht