Kritik eines Verrisses und Gegenbesprechung von „Der Sektor“

31. 01. 2017 | Es macht mich immer wieder traurig, wenn Progressive mit sektiererischem Eifer auf andere Progressive losgehen, um den Finanzsektor gegen Kritik zu verteidigen. Deshalb will auch ich auf Zurückhaltung verzichten und ausdrücklich Heiner Flassbeck widersprechen und ihn dafür kritisieren, dass er seinen Tunnelblick derart aggressiv gegen den besprochenen Autor wendet.

Erst nach ziemlich genau der Hälfte seines Verrisses von Hudsons Buch schreibt Flassbeck den verräterischen Satz: „So blieb mir nichts anderes übrig, ich musste mir das Buch anschauen.“

Bis dahin haben ihm ein paar Sätze aus einem Interview zum Buch für seine Tirade gereicht. Und als er dann ins Buch schaut, erkennt er auch dort schon auf den ersten Seiten Hudsons „Schuldenphobie“, über die er sich dann weiter mokieren kann, ohne auch nur den Ansatz eines Versuchs zu unternehmen, sich in Hudsons Gedankenwelt einzufinden. Das verlangt eine gewisse geistige Flexibilität, denn zu Hudsons These gehört es, dass der Finanzsektor es geschafft hat, den eigenen extraktiven Charakter unsichtbar zu machen. Das geschieht unter anderem durch statistische Konventionen, die alles, was der Finanzsektor tut, als produktive Dienstleistung deklarieren.

Herr Flassbeck wird das Folgende als Affront auffassen, aber es ist nicht provokant gemeint, sondern ehrliche Einschätzung. Er scheint der neokeynesiansich-neoklassischen Fehldeutung anzuhängen, dass Schulden keine Rolle spielen, weil des einen Schulden ja immer des anderen Vermögen sind und sich im Aggregat daher immer zu Null addieren. Diese Sichtweise hat es dem Mainstream verwehrt, das große und gefährliche Problem zu sehen, das die kreditgetriebenen Immobilienblasen in den USA, Spanien, Irland, Griechenland etc. darstellten, ebenso wie vorangegangene kreditgetriebene Blasen an anderen Vermögensmärkten. Hudson hat das Problem identifiziert und gewarnt, bevor es knallte, Flassbeck meines Wissens nicht.

Nur weil es viele gibt, die mit schlechten Argumenten gegen Staatsschulden wettern, heißt das nicht – wie Heiner Flassbeck zu meinen scheint – dass alle, die in ausufernden Schulden generell ein Problem sehen, dies mit ebenso schlechten Argumenten und der gleichen Agenda tun. Hudsons Hauptargument lautet: Viele Kredite – die meisten sogar – dienen nicht produktiven Zwecken, sondern dazu, bestehende Assets zu kaufen, Immobilien, Aktien, Unternehmen etc. Diese Kredite erhöhen zwar die Schulden (und Vermögen), nicht aber die Produktivität, oder allenfalls am Rande. Dem erhöhten Schuldenstand gegenüber dem finanziellen Sektor steht damit keine erhöhte Schuldenrückzahlungsfähigkeit gegenüber, was irgendwann zu einer Schuldenkrise führen muss und auf dem Weg dahin die Wirtschaft belastet. Ja, anders als Herr Flassbeck zu meinen scheint, ist der Gläubiger der Finanzsektor, weil dieser nicht einfach Ersparnisse an „Investoren“ vermittelt, sondern Kredite per Computereintrag einfach schafft. Flassbecks enger Mitstreiter Paul Steinhardt hat das erst vor kurzem wieder aufgeschrieben.

Hudson muss auch nicht behaupten, wie Flassbeck meint, dass das Geld einfach verschwindet, das der Finanzsektor an Schuldendienst einnimmt. Es reicht, wenn die Schulden der Schuldner schneller wachsen als die Wirtschaftsleistung, genauer: als der Anteil der Wirtschaftsleistung, auf den die Schuldner Zugriff haben, damit seine Argumentation sinnvoll ist.

All das heißt nicht, dass Hudsons Buch ohne Schwächen wäre. Dazu gehört die Länge, die unter anderem vielen Wiederholungen von Argumenten geschuldet ist. Auch ist manches, was er schreibt diskussionswürdig, aber das kann gar nicht anders sein, wenn sich jemand weitgehend im Alleingang so weit vom irregeleiteten Mainstream wegbewegt. Da kann nicht alles bis ins Detail auf Anhieb sitzen.

Nach dieser Vorrede hier meine schon vorher verfasste, freundliche Rezension von Hudsons Buch, die mindestens eines zeigen sollte: Wenn man bereit und in der Lage ist, sich auf seine Argumentation einzulassen, kann man sehr viel von ihm und seinem Buch lernen. Ich jedenfalls meine, sehr viel von Hudson gelernt zu haben. Wem irgendwo ab der Mitte des Buches die Wiederholungen von schon Gesagtem und Verstandenem zu viel werden sollten, der kann schadlos selektiv nach Inhaltsverzeichnis weiterlesen.

„Der Sektor – Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört“, von Michael Hudson

Michael Hudson greift auf Klassiker der Ökonomie wie Adam Smith zurück, um die Rolle des Finanzsektors zu kritisieren. Im Mittelpunkt steht ein fast vergessenes Konzept – die Grundrente. Die Rente hatte in der Volkswirtschaftslehre (VWL) traditionell noch eine andere Bedeutung als in der Alltagssprache. Weil er das nie vergessen hat, gehörte Michael Hudson zu den wenigen Ökonomen, die vor dem Platzen der Immobilienblase in den USA und dem Beinahekollaps des Finanzsystems warnten. Heute ist das Konzept die Basis für eine Fundamentalkritik an der Rolle des Finanzsektors, wie man sie sonst selten liest.

„Rente“ ist ein Oberbegriff für leistungslose Einkommen. Ein Musterbeispiel dafür ist die „Bodenrente“. Gemeint sind die Einkünfte eines Grundeigentümers, die er allein für seinen Besitz erhält, auch ohne selbst etwas zur Verbesserung des Grundstücks zu tun. Den klassischen Ökonomen wie Adam Smith, Karl Marx, David Ricardo oder John Stuart Mill war die Unterscheidung von Renten und „verdienten“ Einkommen zentral. Denn viele Schlussfolgerungen der Ökonomik treffen zwar auf verdiente Einkommen zu, nicht aber auf Renten. Der Grund: Wer Arbeitseinkommen besteuert, muss damit rechnen, dass eventuell weniger gearbeitet wird. Besteuert man die Erträge des Hausbaus, werden möglicherweise weniger oder kleinere Häuser gebaut. Wer dagegen den reinen Grundstückswert besteuert – die Bodenrente -, muss nicht mit dergleichen rechnen. Es werden immer noch alle Grundstücke angeboten, nur billiger. Löhne und Ausgaben für Maschinen und Gebäude waren für sie notwendige Produktionskosten. Rentenzahlungen waren unnötige Verteuerungen der Produktion.

(Anmerkung: Ich wurde von wirtschaftshistorischer Seite darauf hingewiesen, es sei zweifelhaft, ob Hudson wirklich Adam Smith derart für seine Thesen in Beschlag nehmen kann, wie er es tut. Ich habe es noch nicht nachgeprüft. Für die Stichhaltigkeit des theoretischen Arguments spielt es keine Rolle.)

Heute spielt diese Sichtweise in der VWL fast keine Rolle mehr. Und Michael Hudson ist überzeugt davon, zu wissen, warum. Er hat viele Jahre in der Finanzbranche gearbeitet, denn: „Der Strom des Geldes durch das Wirtschaftssystem hat mich fasziniert und zur Ökonomik gebracht“, erzählt er. Aber an den Universitäten habe das Geldwesen fast keine Rolle gespielt. Also suchte er sich einen Job bei einer Bank und absolvierte sein Promotionsstudium in VWL nebenher. Er analysierte für ein Sparkasseninstitut Einlagenvolumina und Zinsen. Für Arthur Anderson und Chase Manhattan untersuchte er den internationalen Zahlungsverkehr und wonach sich die Zahlungsfähigkeit von Schuldnerländern bestimmte.

„Banken vergeben Kredite nicht etwa vorrangig für produktive Zwecke an Unternehmen, sondern sie vergeben vorrangig Hypothekenkredite“, erklärt Hudson, warum für ihn das Konzept der Grundrente so wichtig ist. „Damit treiben sie die Immobilienpreise nach oben, denn wie viel der erfolgreiche Bieter für ein Grundstück zahlen kann, bestimmt sich danach, wie viel die Bank ihm zu leihen bereit ist.“ Auf diese Weise leiteten die Banken die Grundrente als Schuldzinsen in die eigenen Kassen. Das sei schön für die Banken, aber ein Problem für die Wirtschaft. Die Unternehmen müssten direkt mit höheren Pachten und indirekt mit höheren Löhnen die Gewinne der Banken finanzieren. Da trifft es sich gut für die Finanzbranche und kommt nach Hudsons Überzeugung nicht von ungefähr, dass die Wirtschaftswissenschaft die Unterscheidung von Renten und notwendigen Produktionskosten aufgegeben hat. „Der Sektor hat viel Geld und nutzt dieses, um zu beeinflussen, was Ökonomen lehren“, stellt er fest.

Hudson ist ein streitbarer Ökonom mit einer Mission. Klassenkampf gehörte schon sehr früh zu seinem häuslichen Alltag. „Mein Vater war ein Anführer der amerikanischen Trotzkisten“, erzählt er. Nach dem Tod von Trotzkis Witwe bekam Hudson die Rechte an dessen Schriften. Er wollte sie verlegen, aber das gelang nicht. So wurde er Ökonom statt Verleger.

Die Besinnung auf die Klassiker und den speziellen Charakter des Preises für Grund und Boden hat Hudson ermöglicht, etwas zu sehen, was den meisten Ökonomen verborgen blieb, weil sie den Zusammenhang von Kreditvergabe und Immobilienpreisen nicht sahen. Im Frühjahr 2006 sagte er in einer Titelgeschichte des Magazins „Harper’s“ den baldigen Kollaps der Immobilienpreise und damit den Beginn der Finanzkrise voraus. Dadurch wurde er in den USA und international zu einem gefragten Kommentator.

Hudson war in Sachen Analyse des Geldes auch mit historischer Grundlagenforschung beschäftigt. Seine Forschungsergebnisse zur Geldentstehung im antiken Mesopotamien fanden unter anderem Eingang in den Bestseller „Schulden – die ersten 5 000 Jahre“ von David Graeber, einem Aktivisten der 99-Prozent-Bewegung. Hudson unterstützte die Forderungen der Protestbewegung gegen die Rettung der Krisenverursacher mit einer Vielzahl von Kommentaren. Auch sein aktuelles Buch ist durchzogen von der These, dass die Krisenbewältigungsmaßnahmen viel zu einseitig darauf abzielten, überbordende Ansprüche des Finanzsektors und das Produktionsergebnis vor dem Ausfall zu retten, anstatt der produzierenden Wirtschaft zu helfen.

Hudson lässt sich nicht leicht in eine Schublade einordnen. Hin und wieder kommt zwar auch Marx in seinen Analysen vor, deutlich öfter jedoch Adam Smith, David Ricardo und der Begründer der heute von Ökonomen zumeist belächelten Physiokratie, der französische Arzt François Quesnay, der erstmals einen Geldkreislauf nach dem Vorbild des Blutkreislaufs modellierte.

„Die klassischen Ökonomen warnten davor, dass hohe Grundrenten die Produktionskosten nach oben treiben“, beruft er sich in seinem Buch auf die Klassiker. Sie seien dafür eingetreten, vor allem Renten zu besteuern. Das aber ginge gegen das Interesse der Finanzbranche. Denn Renten, die der Staat abschöpft, kann der Finanzsektor nicht mehr in Form von Zinszahlungen auf sich selbst umlenken. Die der ökonomischen Klassik nachfolgende „neo-klassische“ Theorie habe dann die Unterscheidung von notwendigen und nicht-notwendigen Kosten der Produktion aufgehoben. „Der Trick ist einfach“, erklärt Hudson. „Was der Finanzsektor extrahiert, wird zur Gegenleistung für eine imaginäre Dienstleistung erklärt.“ Das spiegele sich auch in der Wirtschaftsstatistik so wider, die grundsätzlich alles, was irgendjemand verdient, als Entgelt für eine Leistung behandle.

Die Zukunft malt Hudson in düsteren Farben. „Der Bankrott scheint unausweichlich“, schreibt er. Denn weil die Banken so viel Spekulation finanzierten und so wenig produktive Investitionen, wüchsen ihre Ansprüche an das Produktionsergebnis stärker als die Produktion. „Dieses Schneeballsystem kann man mit immer leichterer Kreditvergabe und sinkenden Zinsen eine Weile am Laufen halten“, aber irgendwann gebe es nicht mehr genug, die sich noch mehr verschulden wollen und können.

Auf Nachfragen, ob es keine Lösung gebe, wiederholt Hudson sein Mantra: „Schulden, die nicht bezahlt werden können, werden nicht bezahlt“, um dann fast doch noch mit einer positiven Note zu schließen: „Die Frage ist allerdings, wie sie nicht bezahlt werden.“ Ein positives Beispiel ist für ihn die deutsche Währungsreform von 1948. Inländische Schulden wurden gestrichen. Die Unternehmen konnten ohne den Überbau an unnötigen Produktionskosten neu loslegen. Das Ergebnis war ein langer Wirtschaftsboom. Allerdings stehe gerade Deutschland einer solchen Lösung heute im Wege. Im falsch verstandenen Interesse seiner Banken schließe es jegliche Schuldenerleichterungen aus. „Am Ende werden dann Realwirtschaft und Finanzsektor zusammenbrechen“, lässt er sich dann doch wieder vom Pessimismus davontragen.  [31.1.2017]

Klärender Nachtrag (1.2.) auf Bitten einer Leserin:

Frage: Banken geben gerne Immobilienkredite, weil das eine extrem sichere Agelegenheit ist. Boden ist nicht vermehrbar und der Wert relativ gut taxierbar. Betrug ist auch wenig möglich. Ganz anders bei Geld für investive Maßnahmen. Natürlich verteuert etwas, was auf Pump gekauft wurde, den Wirtschaftskreislauf, aber auch Kredite in Maschinen etc. müssen bezahlt werden. Wo ist da der Unterschied? 
Antwort: Ein Kredit für eine produktive Investition erhöht das Produktionspotential der Wirtschaft. Er schafft damit gleichzeitig die Kapazität, den Kredit zurückzuzahlen, und zwar nicht nur individuell für den Kreditnehmer, sondern für die Wirtschaft insgesamt. Wenn ein Investor ein bestehendes Haus als Anlageobjekt kauft, erwirbt er damit zwar Zahlungsströme, die ihm persönlich die Bedienung des Kredits ermöglichen. Aber die Produktionskapazität der Wirtschaft ist durch den Eigentümerwechsel des Hauses nicht gestiegen. Nur der Preis hat sich erhöht. Jemand (der Mieter) muss also die zusätzlichen Ansprüche des Kreditgebers aus sonstigen Einnahmen (Arbeitseinkommen) bedienen. Die Lebenshaltungskosten steigen, entsprechend die Lohnforderungen. Können diese durchgesetzt werden, steigen die Produktionskosten. Können sie nicht durchgesetzt werden, sinkt der Lebensstandard. Ganz Ähnliches gilt, wenn eine Private-Equity-Firma auf Kredit ein Unternehmen aufkauft.
Fortsetzung
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