Eigentlich will ich nicht gern den medizinischen Wissenschaftsjournalisten markieren. Wenn ich Vertrauen hätte, dass die wichtige aktuelle, gutachtergeprüfte Studie im führenden Wissenschaftsmagazin Nature „Post-lockdown SARS-CoV-2 nucleic acid screening in nearly ten million residents of Wuhan, China“ angemessen schnell und umfassend ihren Weg in die öffentliche und politische Diskussion finden würde, würde ich es lassen. Immerhin steht die nächste Verabredung noch durchgreifenderer allgemeiner und möglicherweise verfehlter Restriktionsmaßnahmen zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten der Länder unmittelbar bevor.
Der Wuhan-Massentest
Wuhan, wo der Corona-Virus sich zuerst massenhaft verbreitete, erlebte von 23. Januar bis 8. April den ersten und einen der härtesten Lockdowns. Es wurde sehr früh sehr viel getestet. Ein großer Unterschied zum hiesigen Vorgehen war, dass Infizierte nicht wie bei uns nach Hause geschickt wurden, wo sie ihre Familien anstecken, oder gar, wie in Italien zu Anfang, in Altenheime verbracht wurden. Vielmehr wurden sie in Quarantänezentren isoliert.
Nach Ende des Lockdowns, der das Virus in Wuhan weitgehend ausgemerzt hatte, wurden in der zweiten Maihälfte fast alle 10 Millionen Einwohner der Großstadt ab sechs Jahren mit PCR-Tests auf das Virus getestet.
Es wurden keine neuen Fälle mit Covid-19-Symptomen gefunden, aber 300 positiv Getestete ohne Symptome. Von diesen 300 bestätigte ein positiver Antigentest bei zwei Dritteln, dass sie infiziert waren. Beim anderen Drittel halten die AutorInnen falsch positive PCR-Tests für möglich. Außerdem fanden sie 107 von den gut 34.000 genesenen Covid-Patienten, die wieder positiv testeten.
Von den 1.174 engeren Kontaktpersonen der asymptomatisch Infizierten wurde niemand positiv getestet. Dasselbe gilt für die Kontaktpersonen der Reinfizierten.
Die fehlende Infektiösität der neuen asymptomatischen Fälle und der Reinfizierten, ebenfalls asymptomatischen Fälle scheint daran zu liegen, dass diese in aller Regel nur eine geringe Virenlast tragen. In Kulturen konnten jeweils keine Viren gezüchtet werden.
Einschränkung
Die Untersuchung deckt nicht die vor-symptomatischen Fälle ab, die in Wuhan nach dem Lockdown wohl kaum noch auftraten, also Infizierte, die in den ersten Tagen der Infektion noch keine Symptome zeigen, aber diese eventuell noch entwickeln. Diese könnten infektiöser sein als die echten asymptomatischen Fälle, die auch später keine Symptome entwickeln.
Mediziner sind sich nicht einig darüber, ob das der Fall ist. Aus einem Bericht in Nature vom 18. November („What the data say about asymptomatic COVID infections„:
„Auch wenn das Risiko einer Übertragung von asymptomatischen Menschen geringer ist, könnten sie dennoch ein signifikantes Risiko für die öffentliche Gesundheit darstellen, weil sie sich häufiger in der Gemeinschaft aufhalten, sagt Andrew Azman, eine Epidemiologe der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health. (…) Andere Forscher sehen einen geringen Anteil der asymptomatischen Infektionen an der Verbreitung des Virus. Wenn die Studien stimmen, die asymptomatischen Menschen ein geringes Übertragungsrisiko attestieren, „dann sind diese Menschen nicht die heimlichen Treiber der Pandemie“, sagt Byambasuren. Sie „husten und nießen nicht so viel und infizieren damit nicht so viele Oberflächen wie andere Leute“. Muge Cevik, ein Infektionsforscher der University of St Andrews, UK, weist darauf hin, dass es, weil die meisten Infizierten Symptome aufweisen, genügen würde, sich auf diese zu konzentrieren, um die meisten Übertragungen zu unterbinden.“
Folgerungen
Ich will daraus meine – laienhaften – Schlussfolgerungen ziehen und zur Diskussion stellen:
- Die unterschiedslose Fokussierung auf positive Testergebnisse ist verfehlt, Symptome sollten eine größere Rolle spielen.
- Wer keine Symptome hat, also auch nicht hustet und niest, verbreitet weniger Viren.
- Menschen mit Covid-19-Symptomen sollten isoliert, nicht in heimische Quarantäne geschickt werden. Leerstehende Hotels gibt es genug.
- Die Angst vor asymptomatischen jungen Menschen und Kindern, die Erwachsene anstecken, scheint übertrieben.
- Tests sollten auf Menschen mit möglichen Covid-Symptomen, Risikogruppen und Menschen, die mit diesen in Kontakt kommen, konzentriert werden.
- Diese sollten entsprechend schneller Ergebnisse bekommen.
- Besondere Regeln für physischen Abstand und Kontaktvermeidung sollten für Menschen mit möglichen Corona-Symptomen gelten, bis diese negativ getestet sind.
- Restriktionen für Menschen ohne jegliche Symptome und ohne Kontakt zu Risikogruppen könnten möglicherweise gelockert werden.
Klarstellung (24.11): Einige Reaktionen haben mir gezeigt, dass ich mich missverständlich ausgedrückt habe. Deshalb zur Klarstellung: Mir ist bewusst, dass es vor-symptomatische Infiziert gibt, die ohne bereits Symptome zu haben und damit auch ohne zu Wissen, dass sie infiziert sind, die Krankheit weitergeben können. Ich trete deshalb auch nicht dafür ein, für symptomfreie Menschen jegliche Verhaltensregeln und Beschränkungen aufzuheben. Mit Lockerung meine ich lediglich, dass man darüber nachdenken sollte, auf Betriebsschließlungen zu verzichten und Kontaktbeschränkungen und Reisebeschränkungen zu lockern. Mit „besondere Regeln für Menschen mit Symptomen“ ist gemeint, dass für diese andere, strengere Regeln gelten als für Leute ohne Symptome.