Neuer Fachaufsatz von John Ioannidis über die Covid-Pandemie veröffentlicht

12. 10. 2020 | John Ioannidis, Epidemiologe an der Universität Stanford, ist ein renommierter, aber manchmal unbotmäßiger Wissenschaftler. Weil er deswegen gern wie ein Quacksalber ausgegrenzt und seine Erkenntnisse kaum berichtet werden, will ich hier auf seinen sehr interessanten und abgewogenen jüngsten Artikel hinweisen.

Das European Journal of Clinical Investigation hat den Aufsatz „Global perspective of COVID-19-epidemiology for a full-cycle pandemic“ nach gutachterlicher Beurteilung zur Veröffentlichung angenommen und vorab am 7. Oktober online veröffentlicht. Der Aufsatz ist dort ohne Bezahlschranke zugänglich (direkter Link).

Den Abstract habe ich etwas gekürzt übersetzt (mit Unterstützung von DeepL.com):

„Im Oktober 2020 gab es über eine Million dokumentierte Todesfälle mit COVID-19. Überzählige Todesfälle können sowohl durch COVID-19 als auch durch die ergriffenen Maßnahmen verursacht werden. COVID-19 zeigt eine extrem starke Risikostratifizierung [unterschiedlich große Risiken N.H.] in Bezug auf Alter, sozioökonomische und klinische Faktoren.

Viele frühe Todesfälle könnten auf ein suboptimales Management, schlecht funktionierende Gesundheitssysteme, [die Gabe von] Hydroxychloroquin, die Einweisung von COVID-19-Patienten in Pflegeheime und Krankenhausinfektionen zurückzuführen sein; solche Todesfälle sind künftig teilweise vermeidbar.

Bis Oktober 2020 könnten etwa 10% der Weltbevölkerung infiziert sein. Die globale Sterblichkeitsrate durch Infektionen liegt bei 0,15-0,20%, (für unter 70-jährige bei 0,03-0,04%), wobei die Variabilität zwischen den Standorten sehr groß ist, in Abhängigkeit von unterschiedlicher Altersstruktur, Institutionalisierungsraten, sozioökonomischen Ungleichheiten, dem klinischen Risikoprofil der Bevölkerung, Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Gesundheitsversorgung.

Es wird diskutiert, ob mindestens 60% der Weltbevölkerung infiziert sein müssen, um eine Herdenimmunität zu erreichen, oder ob die Vermischung von Heterogenität und bereits bestehender Kreuzimmunität wesentlich niedrigere Schwellenwerte erlauben könnte. (…)

Es werden Simulationen mit insgesamt 1,58-8,76 Millionen COVID-19 Todesfällen über 5 Jahre  weltweit vorgestellt. Das wären 0,5-2,9% aller Todesfälle weltweit. Das untere Ende dieser Spanne wäre erreichbar, wenn Hochrisikogruppen bevorzugt mit niedrigeren Infektionsraten geschützt werden können als die übrige Bevölkerung. (…) Ein gezieltes, präzises Management der Pandemie und die Vermeidung von Fehlern der Vergangenheit würden [auch] dazu beitragen, die Mortalität zu minimieren.

Einige Thesen

Unter Betonung der sehr großen Unsicherheit stellt Ioannidis fest, dass langfristig die Übersterblichkeit durch die Maßnahmen gegen die Pandemie wahrscheinlich deutlich größer ist als der Effekt der Pandemie selbst. Allein die Unterbrechung der Anti-Tuberkolose-Programme könne 1,4 Mio. Leben kosten, der durch das Herunterfahren der Wirtschaftstätigkeit hervorgerufene noch deutlich mehr. Der negative Effekt von Arbeitslosigkeit und Armut auf die Lebenserwartung sei außerdem gut dokumentiert, aber in seiner Höhe sehr unsicher.

Covid-19 ist in vielen Ländern sehr ausgeprägt eine Krankheit der Armen und Benachteiligten. In den USA stürben Farbige und Menschen hispanischer Abstammung durchschnittlich in rund zehn Jahre jüngerem Alter an oder mit Covid-19 als Weiße (81 Jahre). In Großbritannien hätten Schwarze und Bangladeschis/Pakistanis eine fünfmal höhere Covid-Todesrate als Weiße.

Die wahre Infektionsrate liege wohl mehr als 20-fach über den weltweit 36 Mio. dokumentierten Infektionen, sodass etwa 10% der Bevölkerung schon infiziert gewesen sein dürfte. Diese Schätzung stehe in Einklang mit einer Aussage der Weltgesundheitsorganisation.

Resümee

Ioannidis‘ Resümee deckt sich weitgehend mit der Forderung des deutschen Virologen Hendrik Streek, das ich kürzlich hier zitiert habe.

„Zu lernen, mit Covid-19 zu leben und der Gebrauch von effektiven, präzisen, weniger aggressiven (disruptive) Maßnahmen, sind wichtig, um humanitäre Katastrophen zu vermeiden und die negativen Folgen der Pandemie zu minimieren.

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