Jetzt wissen wir es also: Ungleichheit ist schlecht für das Wachstum. Das hat der Wirtschaftsministerberater Marcel Fratzscher als Essenz seines am Montag erscheinenden Buches vorab ganz groß im Spiegel verkündet. Hier sorgt sich jemand – bitte festhalten – dass erhöhte Ungleichheit die Zunahme des für Verteilung blinden und als Wohlstandsmaß ungeeigneten Indikators Bruttoinlandsprodukt dämpfen könnte. Auf eine solche Idee können nur hartgesottenste Mainstream-Ökonomen kommen, die meinen, ihre menschlichen Gefühle vor der eigenen misanthropischen Zunft rechtfertigen zu müssen.
In Zeitlupe, vor allem für Ökonomen.
Mit Wachstum ist in aller Regel die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts gemeint.
Das Bruttoinlandsprodukt ist die Summe der Einkommen, die in einem Land in einer Periode, sagen wir einem Jahr, erwirtschaftet werden.
Es ist unbestritten, auch unter Mainstream-Ökonomen, dass es nicht als Wohlstandsmaß taugt, aus vielen Gründen:
So wird mit der Produktion verbundener Verbrauch von Umwelt und Gesundheit und Freizeit etc. nicht negativ in Ansatz gebracht. Wenn man den entstandenen Schaden teilweise behebt, etwa durch ärztliche Behandlung, steigert das das BIP sogar noch.
Noch wichtiger für unseren Zusammenhang: Das BIP ist völlig verteilungsblind. Ob eine Million alleinerziehende Mütter mit ihren zwei Millionen Kindern, die unter ärmlichen Bedingungen gerade so durchkommen, pro Familie 1000 Euro mehr im Jahr haben, und sich damit anständiges Essen und anständige Kleider kaufen können, oder ob ein Hedgefondsmanager zwei Milliarden Euro statt nur einer verdient, macht keinen Unterschied für das BIP. Niente, zero, nada, nichts. Es ist genau das gleiche. (Für den Staat macht es allerdings einen Unterschied, weil der Hedgefonds Manager im Gegensatz zu den Familien keine Steuern zahlt, aber das ist ein anderes Thema.)
Für alle, die denken, ich übertreibe oder das ist alles nicht so bedeutsam. Mit Kosten-Nutzen-Analysen, die auf genau der gleichen Gleichsetzung von Geld (Zahlungsbereitschaft) und Nutzen basieren, kommen Ökonomen regelmäßig zu so schönen Ergebnissen, wie dem, dass ein gerettetes schwarzes Leben weniger Wert ist als ein weißes, ein weibliches weniger als ein männliches. Und manch schreiben das sogar genauso hin (siehe Link oben).
Nun stellt der besorgte Ökonom also fest, dass die Zunahme der Ungleichheit das Wachstum dämpft Welches Wachstum? Das Wachstum der Einkommen der armen Familien oder das Wachstum der Einkommen des oberen Prozent. Wir wissen es natürlich, und die Antwort steckt schon im Befund der zunehmenden Ungleichheit. Die Einkommen der unteren drei Viertel der Einkommensverteilung werden gedrückt, die des oberen Prozents und vor allem des oberen Promilles der Einkommensverteilung wachsen ungebremst, ja ihre Vermögen steigen sogar kräftig. Denn wegen des schwachen Wachstums pumpt die Europäische Zentralbank, Fratzschers früherer Arbeitgeber, dessen Politik er regelmäßig verteidigt, massenhaft Geld in die Finanzmärkte. Dadurch steigen die Preise von Wertpapieren und Immobilien, die zu 90 Prozent im Besitz der Reichen sind.
Dass Herr Fratzscher die Reichen überzeugt, dass die zunehmende Ungleichheit ihnen selbst schadet, wird also nicht hinhauen. Es stimmt nämlich nicht, und sie wissen es sehr genau. Auf der Website der Forbes-Liste kann jeder jeden Tag live verfolgen, wie stark das geschätzte Vermögen der Milliardäre steigt.
Fazit: Wenn es uns nicht aufregt, dass die Armen ärmer werden, während die Mittelschicht bestenfalls stagniert und die schon unanständig Reichen grotesk reich werden, dann sollen wir nun anfangen uns zu sorgen, weil dadurch das BIP nicht richtig steigt. Nein danke. Diejenigen, die es stört, die wissen schon, was falsch läuft. Sie sollten nicht der Versuchung erliegen, Ökonomen für Experten auf diesem Gebiet zu halten und um Rat zu fragen. Ökonomen sind seit langem Experten darin, mit ihren Messlatten und Theorien Verteilungskonflikte unsichtbar zu machen. Je weniger Ökonom man ist, desto leichter sieht man sie.