BSW-Vorritzende Sahra Wagenknecht hat für die Partei, deren Mitglied ich bin, beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestags „Wahleinspruch“ gegen das amtliche Endergebnis der Bundestagswahl eingelegt. Das Dokument listet eine große Anzahl von „Wahlfehlern“ auf, die aus BSW-Sicht ziemlich sicher dafür gesorgt haben, dass der Partei zu Unrecht Zehntausende Stimmen nicht zugerechnet wurden und ihr dadurch gut 9.000 Stimmen zum Einzug in den Bundestag fehlten.
Mindestens ebenso bedenklich wie das Ausmaß der fehlerhaften Stimmenzuordnungen ist die in dem Einspruch dokumentierte Heimlichtuerei der für die Feststellung und Prüfung des Wahlergebnisses Verantwortlichen und die Intransparenz der Wahlergebnisse im Detail. Das bewirkt, dass etwaige Fehler und Manipulationen nur sehr schwer aufzudecken sind.
Kein Anspruch auf neutrale Prüfung
Hinzu kommt die Absurdität im Wahlgesetz, dass ausgerechnet die möglicherweise zu Unrecht in den Bundestag eingezogenen Abgeordneten über Wahleinsprüche befinden dürfen, ohne sich dabei an irgendwelche Fristen halten zu müssen. Erst wenn ein Wahleinspruch vom Bundestag abschlägig entschieden ist, steht der Weg zu einer unabhängigen gerichtlichen Überprüfung offen. Das Bundesverfassungsgericht lässt sich erfahrungsgemäß mit solchen Klagen ebenfalls wieder viel Zeit, sodass die Legislaturperiode sich schon dem Ende nähern kann, bis es über einen Einspruch entschieden hat. Im aktuellen Fall bedeutet das, dass möglicherweise eine Regierung ohne echte Mehrheit jahrelang regieren kann, bevor das Verfassungsgericht die falsche Zusammensetzung des Bundestags feststellt.
Die Wahlberichterstatter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat letzteres bereits 2017 zu der Feststellung veranlasst (S.9), dass Deutschland mit diesem Wahl- und Einspruchsverfahren seine Verpflichtungen verletzt:
„So ein langer Prozess wirft Fragen zur Effizienz und zum zeitnahen Schutz von Wahlrechten auf und steht im Widerspruch zu den OSZE Verpflichtungen als auch anderer internationaler Verpflichtungen und Standards. Des Weiteren kann ein System, in dem der gewählte Bundestag die Rechtmäßigkeit der Wahl seiner eigenen Mitglieder überprüft, Fragen zu Interessenskonflikten aufwerfen.“
Geändert wurde jedoch seither nichts an diesem unhaltbaren Zustand. Der für den Schutz der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zuständige Europarat könnte sich auf Antrag der Vereinigten Europäischen Linken bald ebenfalls mit dem Thema befassen. Dieser regt an, dass das Beratungsgremium Venedig-Kommission den deutschen Behörden Hilfestellung bei notwendigen Reformen zur Einhaltung des Kodex zur Sicherung von Transparenz und Rechenschaftslegung bei Wahlen gibt.
Keine Transparenz
Fast noch schockierender sind die Steine, welche die für die Auszählung der Stimmen Verantwortlichen auf allen Ebenen denen in den Weg legen, die sich in ihren Rechten als Wähler oder Kandidaten verletzt fühlen und Einspruch einlegen möchten. Die amtliche Datenlage zu den abgegebenen Stimmen sei auch nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses „in höchstem Maße enttäuschend“, drückt die Wahlbeschwerde diesen besorgniserregenden Zustand aus, und weiter:
„Geradezu unfassbar und im Lichte der Rechtsweggarantie aus Art. 19 IV GG vermutlich verfassungswidrig ist nämlich, dass denjenigen Kandidaten und Wählern, die ein berechtigtes Interesse an einer fristgemäßen Einlegung eines Wahleinspruchs gemäß § 2 I WahlPrG hatten, keine amtlichen, allgemein verbindlichen Datensätze zur Verfügung standen, in welchen sich alle 95.109 Wahlbezirke mit ihren jeweiligen Wahlergebnissen wiederfinden und die aufaddiert das amtliche Endergebnis der Bundeswahlleiterin ergeben würden! Diese Datei hat die Bundeswahlleiterin erst für die 18. Kalenderwoche angekündigt!“
Der Aufwand, den das BSW deshalb betreiben musste, um an Daten zu kommen, mit denen es wenigsten näherungsweise das Ausmaß wahrscheinlicher Wahlfehler bestimmen konnte, um eine Wahlbeschwerde zu unterfüttern, war gewaltig. Sie mussten sich an die Landeswahlleiter und in einer Reihe von Ländern auch an die Leiter der Wahlbezirke wenden, von denen viele nicht auskunftsbereit gewesen seien. Es war dem BSW deshalb nicht möglich, die detaillierten Wahlergebnisse für alle Wahlbezirke zu bekommen.
Ein systematischer Vergleich von vorläufigem und amtlichem Endergebnis auf Wahlbezirksebene war dem Einspruch zufolge unmöglich, weil die vorläufigen Endergebnisse meist von den Netzseiten der Wahlorgane entfernt worden seien.
Bemerkenswert ist, dass sich die Bundeswahlleiterin offenbar nicht in die Karten schauen lassen will. Sie hat sich nicht zu den von BSW und anderen monierten Wahlfehlern geäußert und keine Informationen dazu herausgegeben, aufgrund welcher Arten von Korrekturen die über 4.000 zusätzlichen Stimmen für das BSW für das endgültige amtliche Endergebnis registriert wurden. Auch in wie vielen bzw. wenigen Wahlbezirken die ungültigen Stimmen neu ausgezählt wurden, kann oder will die Bundeswahlleiterin nicht sagen. Und das, obwohl sich durch die Neuauszählungen in nur einigen Wahlbezirken die Anzahl der ungültigen Stimmen um mehr als 6.000 verminderte. Das BSW nimmt an, dass allein schon die Überprüfung aller ungültigen Stimmen genügend zu Unrecht nicht gezählte Stimmen für das BSW zutage fördern würde, um die 5%-Hürde zu überwinden und in den Bundestag einzuziehen. Schon eine Fehlerquote von knapp 0,2% würde nach BSW-Berechnung hierfür ausreichen. Auch in wie vielen Wahlbezirken es eine komplette Neuauszählung gegeben hat, verriet die Bundeswahlleiterin nicht.
Systematisch falsche Zahlen
Auf die verschiedenen vom BSW aufgedeckten Auszählungsfehler, die jeweils systematisch dazu führten, dass Stimmen für diese Partei entweder nicht gezählt oder anderen Parteien gutgeschrieben wurden, will ich hier nur kurz eingehen.
- Zweitstimmen wurden fälschlich als ungültig gewertet, weil keine Erststimme angekreuzt war oder die Erststimmen durchgestrichen waren. Das BSW war davon mehr als andere betroffen, weil es keine Wahlkreiskandidaten für die Erststimme aufgestellt hatte.
- Zweitstimmen für das BSW wurden übersehen. Das BSW war davon mehr als andere betroffen, weil die Stimmzettel so gefaltet waren, dass das BSW auf der untersten Lasche stand, die bei einfacher Entfaltung nicht sichtbar war.
- Stimmen wurden fälschlich als ungültig gewertet, wenn zunächst das weiter oben stehende Bündnis Deutschland angekreuzt wurde, diese Wahl dann erkennbar durchgestrichen wurde und ein Kreuz beim BSW gemacht wurde.
- Erststimmenstapel und Zweistimmenstapel wurden bei der Auszählung vertauscht
- Die Stimmen für das BSW wurden vielfach fälschlich dem auf dem Wahlzettel direkt darüber stehenden Bündnis Deutschland zugerechnet, manchmal auch anderen Kleinstparteien, und zwar sowohl indem ganze Stimmenstapel falsch zugeordnet wurden, als auch, indem einzelne Stimmen falsch zugeordnet wurden. Letzterer Fall ist ohne Neuauszählung nicht erkennbar.
Nach Angaben des BSW wurde nicht einmal in allen Wahlbezirken, in denen dem BSW null Stimmen und der Kleinstpartei Bündnis Deutschland mehrere Prozent Stimmanteil zugeschrieben wurden, der höchstwahrscheinliche Fehler überprüft und korrigiert.
Das BSW hat Überschlagsrechnungen zum wahrscheinlichen Ausmaß der Fehler vorgelegt. Mit viel Mühe hat es auch insgesamt 50 Wahlbezirke ermittelt, in denen neu ausgezählt wurde, ohne dass es dort Auffälligkeiten im vorläufigen Ergebnis zulasten des BSW gegeben hatte. Allein die 15 dabei aufgetauchten zusätzlichen BSW-Stimmen entsprächen hochgerechnet auf die 95.000 Wahl- und Briefwahlbezirke zusätzliche knapp 30.000 Stimmen für das BSW.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann es eigentlich keinen Zweifel an der Notwendigkeit mindestens einer umfassenden Nachzählung, wenn nicht gar einer Neuwahl, geben. Was das Gericht schon 1985 schrieb, wirkt wie ein Kommentar zur jüngsten Bundestagswahl:
„Gefahren drohen dem Anspruch des Wahlbewerbers auf Wahlgleichheit auch durch Wahlfälschungen und – mehr noch – durch ungewollte Fehler bei der Stimmenauszählung und Ermittlung des Wahlergebnisses. Auch dann, wenn die für einen Wahlbewerber gültig abgegebenen Stimmen nicht sämtlich als gültig bewertet oder nicht sämtlich für ihn gezählt werden, können – insbesondere bei knappem Wahlausgang – der Grundsatz der Wahlgleichheit und damit das Grundrecht des Wahlbewerbers aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein. Das Risiko einer durch Zählfehler bedingten unrichtigen Ermittlung des Wahlergebnisses ist erfahrungsgemäß nicht unbeträchtlich.“
Deshalb verlangte das Gericht dem Gesetzgeber ab, durch geeignete Regelungen den typischen Ursachen von Zählfehlern entgegenzuwirken. Das ist offenkundig nicht geschehen.
Da solche Fehler aber nie ganz zu vermeiden seien, trug es dem Gesetzgeber außerdem auf, „ein Verfahren zu schaffen, das es erlaubt, Zweifeln an der Richtigkeit der von den Wahlorganen vorgenommenen Stimmenauszählung nachzugehen und erforderlichenfalls das Wahlergebnis richtigzustellen sowie die Sitzverteilung zu korrigieren. Das verlange nicht nur das aus dem Demokratieprinzip folgende Gebot einer dem Wählerwillen entsprechenden Sitzverteilung, sondern zugleich auch das Recht von Wahlberechtigten und Wahlbewerbern auf Wahlgleichheit.“
Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber mit dem Wahlgesetz nachgekommen. Wie oben anhand der OSZE-Stellungnahme gesehen ist allerdings sehr fraglich, ob er das in einer Weise getan hat, die die Rechte der Wähler und Kandidaten wahrt.
Fazit
Es ist keine plausible Argumentation erkennbar, die es dem Wahlprüfungsausschuss des Bundestages erlauben würde, zu dem Schluss zu kommen, dass mit der vom Bundesverfassungsgericht geforderten hohen Wahrscheinlichkeit eine Nachzählung keine mandatsrelevanten Veränderungen ergeben würde. Das Ergebnis war extrem knapp, was den Einzug oder Nichteinzug des BSW in den Bundestag angeht und es wurden eine Reihe von Fehlern identifiziert, die das BSW überproportional betreffen und in jedem Wahlbezirk aufgetreten sein können.
Sollte sich der Bundestag über Gebühr Zeit lassen, über die Wahlbeschwerde des BSW zu entscheiden, könnte das Verfassungsgericht per Klage mit der Frage konfrontiert werden, ob die von Wahlgesetzgeber gewählte Lösung verfassungskonform ist. Es erscheint kaum mit dem Recht der Wähler und der Bewerber auf Wahlgleichheit vereinbar, wenn die Stimmen für eine Partei zu Unrecht verfallen und die Kandidaten zu Unrecht keine Mandate erhalten, dieser Fehler aber wegen eines überlangen Beschwerde- und Rechtswegs erst korrigiert werden kann, wenn sich die Wahlperiode bereits ihrem Ende zuneigt. Dann werden die Betroffenen effektiv weitgehend um ihr aktives und passives Wahlrecht gebracht.
Die einzige Möglichkeit für den Bundestag zu verhindern, dass ein großer Teil der Bevölkerung das Vertrauen verliert, dass die Wahlen in Deutschland fair sind und Gesetzgeber und Regierung durch diese Wahlen legitimiert sind, besteht darin, schnell eine Neuauszählung der Stimmen anzuordnen.
Außerdem müssen vor der nächsten Wahl unbedingt die jetzt identifizierten Fehlerquellen soweit möglich abgestellt werden, und vor allem muss Transparenz über das detaillierte Wahlergebnis und etwaige Nachzählungen und Korrekturen hergestellt werden. Zwar geht das BSW laut seiner Wahlbeschwerde und laut öffentlichen Äußerungen nicht davon aus, dass das Wahlergebnis absichtsvoll manipuliert wurde. Doch die Heimlichtuerei der Verantwortlichen, die es schwer und zum Teil unmöglich macht, Fehler und etwaige Manipulationen des Ergebnisses zu erkennen, nährt Misstrauen. Wenn dieses erst einmal in der Breite entstanden ist, lässt es sich nur äußerst schwer wieder aus der Welt schaffen.