Gericht will neue Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit des Infektionsschutzgesetzes

3. 09. 2024 | Im Prozess einer Pflegekraft um die Pflegeimpfpflicht, wegen der sie ab November 2022 zeitweise nicht mehr arbeiten durfte, hat das Verwaltungsgericht Osnabrück Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Infektionsschutzgesetzes zu diesem Zeitpunkt geäußert und diese Frage zur erneuten Beantwortung an das Bundesverfassungsgericht gegeben. Dieses hatte im März 2022 die Pflege-Impfpflicht für rechtmäßig erklärt. Die RKI-Protokolle haben aber zwischenzeitlich gezeigt, dass die Behörde wusste, dass die Impfung keinen ausreichenden Fremdschutz vor Ansteckung (mehr) bewirkte.

Das Gericht schreibt in seiner Pressemitteilung:

„Auf die mündliche Verhandlung von heute hat die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Osnabrück das Klageverfahren einer Pflegehelferin gegen ein vom Landkreis Osnabrück 2022 mangels Vorlage eines Impf- oder Genesenennachweises ausgesprochenes Betretungs- und Tätigkeitsverbot ausgesetzt (vgl. Presseinformation Nr. 18/2024 vom 26.8.2024).

Die Kammer wird das Verfahren nunmehr dem Bundesverfassungsgericht vorlegen und ihm die Frage stellen, ob § 20a Infektionsschutzgesetz (IfSG, in der Fassung vom 18. März 2022) mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar gewesen ist.

Die Kammer geht davon aus, dass eine verfassungskonforme Auslegung der Norm nicht möglich sei. So verletze die Norm das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit sowie die Berufsfreiheit. Zwar habe das Bundesverfassungsgericht bereits mit Beschluss vom 27. April 2022 (1 BvR 2649/21) die Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Norm festgestellt. Aufgrund der nunmehr vorliegenden Protokolle des COVID-19-Krisenstabs des Robert-Koch-Instituts (RKI) sowie der in diesem Zusammenhang heute durchgeführten Zeugenvernehmung von Prof. Dr. Schaade, Präsident des RKI, sei die Unabhängigkeit der behördlichen Entscheidungsfindung in Frage zu stellen. Das RKI habe das Bundesministerium für Gesundheit auch von sich aus über neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung informieren müssen. Nach der Gesetzesbegründung sei der Schutz vulnerabler Personen vor einer Ansteckung durch ungeimpftes Personal ein tragendes Motiv für die Einführung der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Impfpflicht gewesen. Diese auf den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts beruhende Einschätzung werde durch die nun veröffentlichten Protokolle des Instituts erschüttert. Der Gesetzgeber sei seiner Normbeobachtungspflicht nicht gerecht geworden. Da § 20a IfSG im Laufe des Jahres 2022 in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen sei, sei eine – erneute – Vorlage an das Bundesverfassungsgericht erforderlich. Dem Verwaltungsgericht komme selbst keine Normverwerfungskompetenz zu.“

Einen ausführlichen Bericht von der mündlichen Verhandlung hat die Osnabrücker Zeitung veröffentlicht, (Bezahlschranke). Hier ein paar Sätze daraus, die eine Ahnung geben, wie es ablief:

„Die Kammer hat sich gut vorbereitet und 25 Textpassagen vorbereitet, zu denen sie Schaade befragen will. Eine Studie zur Notfallzulassung von Biontech Ende 2020, der Zulassungsbericht der European Medical Agency vom Oktober 2023 und vor allem Passagen aus den RKI-Files hält Neuhäuser dem RKI-Präsidenten vor. (…) Auch zu anderen Vorhaltungen bemüht Schaade „Management-Entscheidungen“ der Verantwortlichen. Etwa, als das Gesundheitsministerium am 25. Februar 2022 nicht dem Rat des RKI folgte, die aktuelle Risikolage herabzustufen. „Wir haben da keine Zustimmung für unseren Vorschlag gefunden beim Ministerium“, erklärt Schaade. (…) (Richter:) Es könne nicht zulasten der Grundrechtsträger – also der Bevölkerung – gehen, wenn die Kommunikation zwischen RKI und BMG gestört war oder das Institut mit seinen Erkenntnissen beim Ministerium nicht durchdrang.“

Lars Schade ist seit 2023 Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI). Zuvor war er Vizepräsident.

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