Steingart schreibt unter Verweis auf eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die es aus seiner Sicht verdient hätte, die Aufschlagseiten aller seriösen Zeitungen zu zieren:
„Die ins Grobe und Grelle entrückte Berichterstattung über Klimawandel und Corona-Epidemie verzwergt alle anderen Tatsachen, auch die über den Abstieg der deutschen Volkswirtschaft.
Um erschreckende 6,7 Prozent seien in den ersten drei Quartalen 2019 die Lohnstückkosten gestiegen, stärker als in allen anderen untersuchten Ländern. Die deutsche Wettbewerbsposition gegenüber dem Euroraum sei damit so schlecht wie zuletzt 2002 und nur noch drei Prozent günstiger als 1999. Daraus schließt er, Angela Merkel habe all die Fortschritte verfrühstückt, die Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 geschafft habe.
Was hat es auf sich, mit diesen Lohnstückkosten?
Lohnstückosten haben noch einen anderen Namen, mit dem die meisten Menschen mehr anfangen können: Lohnquote. Die Lohnstückkosten geben an, welchen Anteil an der gesamten Wertschöpfung die Arbeitnehmer bekommen, und – im Umkehrschluss – welchen die Kapitalbesitzer.
Während wir gewöhnt sind Kosten als etwas Schlechtes zu betrachten, was gar nicht niedrig genug sein kann, lädt der Name Lohnquote zu verschiedenen Betrachtungsweisen ein. Ein Arbeitgeberinstitut wie das IW, auf dessen Analyse sich Steingart bei seinem Alarm-Artikel beruft, findet naturgemäß mehr Gefallen an einer niedrigen als an einer hohen Lohnquote. Die Arbeitnehmer sehen das anders. Politiker, die sich dem Wohl der großen Masse der (abhängig beschäftigten) Bürger verpflichtet fühlen, sehen das tendenziell auch etwas anders. Für sie ist ein hohes Lohnniveau in einem Land synonym mit einem hohen Wohlstandsniveau und somit ein Erfolgsausweis.
Man könnte ebenso gut Kapitalstückkosten berechnen wie Lohnstückkosten. Das würde dann zu der Schlussfolgerung einladen, dass man die Renditen drücken muss, die die Eigen- und Fremdkapitalgeber einfordern, damit Deutschland wettbewerbsfähiger wird. Aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen tut das IW das nicht, sondern rechnet ausschließlich und oft die Entwicklung der Lohnstückkosten vor. Das wäre doch mal eine lohnende Aufgabe für das Wirtschaftsforschungsinstitut IMK, das gewerkschaftliche Pendant zum IW.
Warum sind die Lohnstückkosten in der deutschen Industrie zuletzt so stark gestiegen?
Dass die Lohnstückkosten in Deutschlands Industrie in den ersten drei Quartalen 2019 stärker gestiegen sind, als in anderen Ländern, liegt vor allem daran, dass die Industrieproduktion, insbesondere die bei uns so wichtige Automobilproduktion, aufgrund sinkender Exportnachfrage bei uns besonders stark gelitten hat. Da die Löhne nicht sinken, wenn der Umsatz sinkt, steigt bei sinkendem Umsatz die Lohnquote. Bei stark steigendem Umsatz sinkt sie entsprechend.
Mit Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie hat der Anstieg also erst einmal herzlich wenig zu tun, vielmehr mit einem Nachfragerückgang in wichtigen Märkten, daneben mit dem selbstverschuldeten Absatzrückgang aufgrund des Diesel-Betrugs der Autohersteller.
Hat Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit verloren?
Die These, dass Deutschland nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähig ist, scheint – höflich ausgedrückt – gewagt, unhöflich ausgedrückt, absurd.
Deutschland ist „Exportweltmeister“. Das spricht entschieden gegen die These, die deutsche Industrie sei nicht wettbewerbsfähig. Schaut man auf den Leistungsbilanzüberschuss, dann kommt man sogar zu der These, dass die deutsche Industrie weiterhin viel zu wettbewerbsfähig ist. Der Leistungsbilanzüberschuss misst, wie viel mehr Deutsche Unternehmen und Haushalte aus Transaktionen mit dem Ausland bezahlt bekommen, als sie dorthin bezahlen. Deutschland zahlt dem Ausland sehr viel für Tourismus und unentgeltliche Übertragungen, Entwicklungshilfe etwa oder EU-Beiträge. Der Exportüberschuss der Industrie über die Importe reicht, um das auszugleichen und darüber hinaus seit 2014 für einen gesamten Überschuss von über 200 Mrd. Euro pro Jahr zu sorgen. Unter solchen Umständen über mangelnde Wettbewerbsfähigkeit zu jammern zeugt entweder von ziemlicher Unkenntnis oder Bedienung von Interessen.
Ein Leistungsbilanzüberschuss von über 200 Mrd. Euro bedeutet, dass andere Länder in weniger als fünf Jahren zusätzliche Verbindlichkeiten gegenüber Deutschland von einer Billion Euro aufhäufen, bzw. Deutschland die entsprechenden Forderungen anhäuft. Je höher dieser Berg von Forderungen anwächst, desto unwahrscheinlicher wird es, dass die Schuldner tatsächlich bereit und vor allem in der Lage sein werden, diese Verbindlichkeiten zu begleichen. Bricht etwa die Währungsunion auseinander, weil südliche Länder der übermächtigen deutschen Konkurrenz nicht mehr standhalten können, ist sehr fraglich, wie viel die knapp eine Billion Forderungen Deutschland aus dem Zahlungsverkehrssystem Target 2 der EZB dann noch wert sind.
Wie die Währungsunion auf dem Altar der Wettbewerbsfähigkeit geopfert wird
Für den langfristigen Wohlstand unseres Landes wäre es daher besser, die Löhne und Gehälter zu erhöhen und etwas weniger wettbewerbsübermächtig zu werden. Ob das dann die Lohnstückkosten (=Lohnquote) erhöht, hängt davon ab, ob die Kapitalstückkosten (= Fremdkapitalzinsen und Gewinne) im Gegenzug sinken oder nicht. Als damals die Lohnkosten durch Gerhard Schröders Hartz-Reformen gedrückt wurden, hat das die Kapitalstückkosten kräftig steigen lassen.
Auf wessen Linie liegt Gabor Steingart mit seinem Alarm?
Die „Welt“ hat schon 2016 das gemacht, was Steingart fordert und eine dieser regelmäßigen Ausarbeitungen des IW auf Ihre Titelseite genommen. Deutschland steigt offenbar schon seit mindestens vier Jahren ab. Ich habe das damals als abschreckendes Beispiel für Wirtschaftsstudenten und angehende Wirtschaftsjournalisten empfohlen.
“Die Welt” bewirbt sich um den Preis für die dreisteste pseudo-ökonomische Lesertäuschung des Jahres
Ob das wohl Zufall ist? Immerhin ist die „Welt“ eine Springer-Zeitung und Springer maßgeblich am Redaktionsschiff-Projekt von Gabor Steingart beteiligt.
Nachtrag (10.3.): Das – nicht gerade gewerkschaftsnahe – Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat 2014 in einer Studie im Auftrag der Bundesregierung untersucht, wie die deutsche Exportstärke zur angeblich so geringen Wettbewerbsfähigkeit passt und festgestellt, dass die Wettbewerbsfähigkeit eben sehr gut ist. Heiner Flassbeck hat sich aktuell auf Flassbeck Economics ausführlich mit der Rolle des IW (und dem kaum wahrnehmbaren Gegenpart IMK) und seinen Lohnstückkostenargumenten auseinandergesetzt.