Wie der Schutz geistigen Eigentums zum Treiber der Ungleichheit degeneriert ist

3. 04. 2020 | Um Remdesivir, eines der als aussichtsreich geltenden Medikamente gegen Covid-19, hat sich ein Kampf um Monopolrechte entwickelt. Er ist ein eindrückliches Beispiel für die Pervertierung des Schutzes geistigen Eigentums, der längst von einer sinnvollen Form der Innovationsförderung zu einem der wichtigsten Treiber der Ungleichheit degeneriert ist.

Das antivirale Mittel Remdesivir wurde zur Behandlung von Ebola entwickelt. Als es in ersten Tests Potential zur Behandlung von Covid-19-Infektionen zeigte, setzte parallel zum medizinischen Testen ein Kampf um die Monopolrechte ein. Chinesische Forscher versuchten die Nutzung des Wirkstoffs zur Covid-19-Behandlung zu patentieren um ihrem Land eine bessere Verhandlungsposition zu sichern, wenn es darum ging, wie viel man dem US-Pharmaunternehmen Gilead für das Grundpatent an Remdesivir zahlen musste.

Gilead wiederum nutzte einen Trick, um sich von der US-Patentbehörde eine siebenjähriges Patent für den Einsatz von Remdesivir gegen Covid-19 zu sichern. Man erklärte die Corona-Krankheit zur seltenen Krankheit, was gerade noch ging, als es in den USA erst wenige bestätigte Fälle gab. Für seltene Krankheiten ist ein Patent leichter erhältlich, als Anreiz, sich um diese Krankheiten zu kümmern.

„Es wäre Wahnsinn, wenn in einer solchen Situation Monopole die Verfügbarkeit dieser wichtigen Medikamente aus Profitgründen einschränkten“, sagte dazu treffend Marco Alves von Ärzte ohne Grenzen. Doch genau das ist die Funktion des Patentrechts, beziehungsweise des Schutzes geistigen Eigentums im Allgemeinen. Es stellt das Gewinninteresse des Einzelnen über das öffentliche Interesse an einer zahlreichen und günstigen Bereitstellung wichtiger Güter.

In diesem Fall hat Gilead nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen auf starken öffentlichen Druck hin letztlich auf das erschlichene US-Patent verzichtet, verfolgt die internationale Patentierung aber weiter.

In Zeiten wie diesen sticht solche Priorisierung des Gewinninteresses gegenüber dem öffentlichen Interesse besonders hervor. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass sie in ganz erheblichem Maße für die zunehmende Ungleichheit auf der Welt und innerhalb der Nationen verantwortlich ist, ist das Thema massiv unterdiskutiert.

Marktmacht vs. technischer Fortschritt

Ökonomen bieten vor allem zwei scheinbar konkurrierende Erklärungen für die zunehmende Polarisierung der Gesellschaften in Arm und Reich an. Die erste heißt technischer Fortschritt. Dieser bewirke, dass weniger einfache Arbeitskraft gebraucht wird, dafür aber spezialisiertes Know-how. Entsprechend sinken die Löhne für Erstere und steigen die Vergütungen für Letzteres, so die Argumentation.

Andere Ökonomen haben nachgewiesen, dass die Marktmacht der größten Unternehmen deutlich zugenommen hat. Sie können höhere Margen durchsetzen und sehr hohe Gewinne erzielen, oft bei relativ geringem Arbeitseinsatz. Die Weltmarktführer aus der IT-Branche Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft sind Musterbeispiele. Durch die hohen Gewinnmargen steigen die Kapitaleinkommen relativ zu den Arbeitseinkommen.

Die beiden Erklärungen hängen enger zusammen als es auf den ersten Blick scheint. Zunächst einmal hat die steigende Marktmacht – jedenfalls im Bereich IT – sehr viel mit der weltweiten Digitalisierung der Wirtschaft zu tun. Denn digitale Produkte lassen sich zu minimalen Zusatzkosten für beliebig viele Kunden weltweit produzieren und an diese ausliefern.

Wichtiger noch: dass der technische Wandel die Entlohnung gering qualifizierter Arbeit drückt und dass die Gewinne der Weltmarktführer steigen, hat eine gemeinsame Voraussetzung. Beides hängt am Schutz von Patent-, Urheber- und Markenrechten und daran, dass dieser weltweit durchgesetzt wird.

Eine Welt ohne Patente

Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan. Der Patent- und Markenschutz wurde verstärkt und verlängert und auf zusätzliche Wirtschaftsgüter ausgeweitet. Die Durchsetzung wurde durch verschärfte Strafen stringenter gemacht, und dadurch, dass viele Länder dazu bewegt wurden, geistiges Eigentum von ausländischen Unternehmen stärker zu schützen.

„Es sollte eine ernsthafte öffentliche Debatte darüber stattfinden, wie stark der Schutz für Patent- und Urheberrechte sein sollte, und welche Bedeutung das für die Ungleichheit hat“, mahnt Dean Baker, Co-Chef des US-Wirtschaftsforschungsinstituts CEPR.

Er kritisiert, dass die Entscheidungen über verstärkten Schutz geistigen Eigentums fast ganz ohne öffentliche Diskussion in den Hinterzimmern getroffen worden seien, obwohl sie sehr große finanzielle und gesellschaftliche Auswirkungen hätten.

Zur Verdeutlichung skizziert Baker den Extremfall, in dem der Schutz geistigen Eigentums auf einen Streich wegfiele. Dann könnten Unternehmen wie Microsoft und Apple, Pharmafirmen und andere Hersteller von bisher patentgeschützten Produkten diese nur noch zu viel niedrigeren Preisen absetzen.

Ihre bisher sehr hohen Gewinnmargen und damit die Einkommen der Kapitalbesitzer würden einbrechen. Die Nachfrage nach Programmierern, Ingenieuren und Finanzspezialisten würde ebenfalls zurückgehen, und damit deren Gehälter.

Zwar mag die Nachfrage nach Programmierern und Ingenieuren bei den Herstellern von Imitationsprodukten steigen, aber die hohen Gehälter, die patentgeschützte Monopolisten zahlen können, würden diese wohl kaum aufbringen können. Die relativen Gehälter der Hochqualifizierten würden also ins Rutschen kommen.

Umgekehrt würde die große Mehrheit der Konsumenten, die nicht für die Hersteller solcher Produkte arbeiten, von starken Preissenkungen profitieren, und damit bei gegebenen Nominallöhnen von höherer Kaufkraft. Die Ungleichheit der Einkommen wäre also ohne den starken Schutz geistigen Eigentums und dessen rigide Durchsetzung viel geringer, so Baker.

Nun ist es eine unrealistische Annahme, dass die Wirtschaft ganz ohne einen Schutz der Innovatoren vor Nachahmern funktionieren würde. Denn in einem solchen Szenario würden die Unternehmen ihre Aufwendungen für Forschung und Entwicklung zurückfahren, da sie die Früchte ihrer Anstrengung kaum noch selbst ernten könnten. Aber über die Frage, wie weitreichend das Monopol auf die Nutzung von Weiterentwicklungen des gesellschaftlichen Wissensstandes sein sollte, lohnt es sich zu diskutieren.

Das rechte Maß

Selbst die Yale-Professoren Sunil Kanwar und Robert Evenson, zwei Befürworter eines starken Patentschutzes, räumten in einem viel zitierten Aufsatz von 2003 ein, dass die deutliche Intensivierung des Schutzes geistigen Eigentums, die damals bereits in vollem Gange war, sich nicht auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse stützen könne. Vielmehr gebe es eine intensive Diskussion darum, ob der Schutz bereits so stark ist, dass er Innovation eher behindert als fördert.

Das kann etwa der Fall sein, wenn geschützte neue Technologien von Marktführern nicht umgesetzt werden, weil sie ihre alten Produktionsanlagen nicht entwerten wollen, oder weil es ein solches Patentdickicht in bestimmten Branchen gibt, dass Newcomer sich nicht mehr trauen, dort aktiv zu werden. „Die Erkenntnislage ist gemischt, um es freundlich auszudrücken”, schrieben die beiden Koryphäen.

In einer wirtschaftshistorischen Studie kamen Jörg Baten, Nicola Bianchi und Petra Moser jüngst zu dem überraschenden Ergebnis, dass deutsche Unternehmen, deren Patente die USA während des Ersten Weltkriegs nicht mehr respektierten, ihre Forschungsanstrengungen stärker ausweiteten als Unternehmen, die von diesen Sanktionen nicht betroffen waren. Offenbar sahen sich Erstere durch den Wegfall des Patentschutzes genötigt, ihre Technologieführerschaft durch schnellere Innovation zu verteidigen.

Strategisches Patentdickicht

Ein modernes Beispiel solcher Probleme ist der viele Jahre andauernde, weltumspannende Patentkrieg zwischen Apple und Samsung, bei dem sich die beiden gegenseitig unerlaubte Nutzung patentierten Wissens vorwarfen. Zwei IWF-Ökonomen, Roberto Piazza und Yu Zheng, arbeiten mit einem theoretischen Modell des Innovationswettbewerbs, in dem die Marktführer versuchen, durch schnelle patentgeschützte Innovation ihren Vorsprung so weit auszubauen, bis ein Wall von Patenten dafür sorgt, dass Konkurrenten sie nicht mehr technologisch überholen können. Danach fällt das Innovationstempo in dem Modell steil ab.

Die Diskussion, ob der Schutz geistigen Eigentums unter dem Aspekt der Innovationsförderung vielleicht schon in mancher Hinsicht zu weit geht, wird wohl noch lange offen bleiben. Erweiterte man die Diskussion, wie von Baker gefordert, auf die Auswirkungen dieses Schutzes auf die Einkommensverteilung, dann würde das die Waagschale der Argumente stärker in Richtung Rückführung dieses Schutzes neigen. Denn die Einkommensungleichheit würde bei moderat verringertem Schutzniveau für geistiges Eigentum ziemlich sicher vermindert.

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