Warum negative Nettoinvestitionen ein großes Problem sind, auch wenn ein Arbeitgeberinstitut das anders sieht

Die deutsche Konjunktur geht in die Knie. Gleichzeitig hört man von allen Seiten die Klage, dass der Staat die Infrastruktur vernachlässige. Was läge da näher als ein Investitionsprogramm, um die Konjunktur zu beleben und den Investitionsstau aufzulösen? Das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft will aber lieber, dass Haushaltsspielräume für Steuersenkungen verwendet werden und erklärt die Investitionslücke zum Nicht-Problem – mit fragwürdigen Argumenten.

Michael Hüther, Präsident des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), bestreitet in einem Aufsatz, den er mit zwei Mitarbeitern in der Januar-Ausgabe des „Wirtschaftsdiensts“ publiziert hat, dass sich aus negativen Nettoinvestitionen eine Investitionslücke ableiten lässt. Er widerspricht damit all denen, die kritisieren, dass der Staat zu wenig investiert und die Infrastruktur verlottern lässt. Hüther hält Steuersenkungen für wichtiger als mehr Investitionen.

Negative öffentliche Nettoinvestitionen treten auf, wenn der Staat nicht mindestens den Wertverlust aus Abschreibungen durch Neuinvestitionen ausgleicht.  Die IW-Experten um Hüther betonen jedoch, die Abschreibungen seien eine reine Wertgröße, die nichts mit der physischen Nutzbarkeit der Infrastruktur zu tun habe. Sie schreiben:

„Für die Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials ist die Wertentwicklung nicht relevant, sondern die Ausstattung mit volumenmäßigen Produktionsfaktoren.“

Man dürfe daher nicht auf die Nettoinvestitionen schauen, sondern auf die Entwicklung des Bruttoanlagevermögens, bereinigt um die Inflation. Und dieses sei in Deutschland seit 1991 durchgehend gestiegen, wenn auch seit 2001 schwächer als zuvor. Hüthers Antwort auf die im Titel seines Aufsatzes gestellte Frage „Verzehrt Deutschland seinen staatlichen Kapitalstock?“ ist daher ein klares Nein:

„Auf Basis des Bruttoanlagevermögens kann das pauschale Urteil, Deutschland verzehre seinen staatlichen Kapitalstock, verworfen werden.“

Marode Schulen

Das Bruttoanlagevermögen ermitteln die Statistiker, etwas vereinfacht dargestellt, folgendermaßen: Sie gehen von einem geschätzten Ausgangsniveau weit in der Vergangenheit aus. Jährlich wird der Wert der neu erstellten Anlagen hinzugefügt. Dabei wird gleich programmiert, wann die jeweiligen Anlagen wieder ausgebucht werden, abhängig davon, mit welcher normalen Nutzungsdauer gerechnet wird. Bei Stahlbetonbrücken sind das etwa 70 Jahre, bei Schulen weniger als 50 Jahre. Jedes Jahr wird der aufsummierte Wert derjenigen Anlagegüter vom Anlagevermögen abgezogen, die laut Plan das Ende ihrer Nutzungsdauer erreicht haben. Bei diesem Konzept wird der gesamte, noch nicht ausgebuchte Infrastrukturbestand mit seinem Wiederbeschaffungswert gezählt, unabhängig von seinem Alter.

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, bestreitet, dass es nicht auf das Alter der Infrastruktureinrichtungen für die Leistungsabgabe ankomme. Zwar seien die Abschreibungen nur eine Annäherung an die tatsächliche Abnahme der Leistungsabgabe, aber: „Alte Brücken, wie in Schierstein oder in Leverkusen, mögen noch genutzt werden, aber durch Teilsperrungen aus Sicherheitsgründen oder für Reparaturen sind sie nicht mehr so produktiv wie am ersten Tag.“ Sebastian Dullien von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin sieht das ähnlich: „Die Wahrheit liegt zwischen der Brutto- und Nettobetrachtung“, ist er überzeugt. Hüther hält auf Anfrage gegen, dass manche Infrastruktureinrichtungen auch nach der statistischen Ausbuchung noch lange genutzt würden, so dass die Rechnungsgröße Bruttoanlagevermögen nicht den kompletten Anlagebestand abbilde.

Bedingte Zustimmung vom Statistikamt

Oda Schmalwasser, Referatsleiterin beim Statistischen Bundesamt (Destatis), stimmt Hüther zu, dass man allein aus negativen Nettoinvestitionen keine Investitionslücke ableiten könne. Nicht bei allen Anlagen könne man davon ausgehen, dass sie auch in Zukunft gebraucht würden und ersetzt werden müssten.  Umgekehrt sei allerdings allein der Befund eines steigenden Bruttoanlagevermögens nicht geeignet, die These von der Investitionslücke zu verwerfen. „Dazu sind solche Modellrechnungen viel zu grobe Maße“, sagt sie.  Wenn man wissen wolle, ob genug investiert werde, müsse man darauf schauen, wie der physische Zustand der Infrastruktur seit und ob es größere Engpässe gebe.

Für die Brücken veröffentlicht die Bundesanstalt für Straßenwesen regelmäßige Zustandsberichte. Sie bestätigen, was man anhand der vielen Berichte über baufällige Brücken vermutet. Jede achte Brücke ist danach in einem „nicht-ausreichenden“ oder gar „ungenügenden“ Zustand, den beiden schlechtesten von sechs Kategorien.

Auch bei den Schulen wird weithin großer Sanierungsbedarf konstatiert, weil sanitäre Anlagen, technische Einrichtungen und zum Teil die Bausubstanz heruntergekommen und veraltet sind. Der Städte- und Gemeindebund ist dezidiert der Ansicht, dass zu wenig investiert werde, um den Bedarf von Wirtschaft und Bevölkerung zu decken. Im Kommunalpanel, einer Befragung von Kommunen, hat er im Sommer 2018 einen Investitionsrückstand von 159 Milliarden Euro festgestellt, vor allem bei Schulen und Verkehr.

Infrastruktur wird älter

Auch im Aufsatz von Hüthers Team scheint das auf. Die Autoren stellen fest, dass die Infrastruktur im Durchschnitt immer älter wird. Sie sehen darin allerdings „lediglich einen Werteffekt“, der keine Bedeutung für die Leistungsabgabe habe. Destatis-Expertin Schmalwasser stimmt zu: „Die jährliche Produktionskapazität der Infrastruktur kann man am Bruttoanlagevermögen ablesen“, mit einer wichtigen Einschränkung allerdings. Voraussetzung sei, dass aller nötige Unterhaltungs- und eventuell auch Modernisierungsaufwand getätigt worden sei. „Ob das der Fall ist, können wir an unseren Daten nicht ablesen“, sagt sie.

Ein weiteres mögliches Problem bildet die Entwicklung des Bruttoanlagevermögens ebenfalls nicht ab. „Investitionszyklen verlaufen in ausgeprägten Wellen“, so Schmalwasser. Wäre dies nicht der Fall, würden Brutto- und Nettorechnung in etwa das gleiche Ergebnis zeitigen. Statt durch Abschreibungen würde jedes Jahr ein gleichbleibender Prozentsatz alter Anlagen das Ende seiner Lebensdauer erreichen und ausgebucht. Weil aber zu manchen Zeiten besonders viele Schulen oder Straßen gebaut wurden, vor allem bis in die Siebzigerjahre und nach der Wiedervereinigung, gibt es in der Bruttorechnung lange Zeit niedrige Abgänge und dann zeitweise sehr große. Mit der Welle an Abgängen rollt dann eine Welle kostspieligen Ersatz- oder Renovierungsbedarfs auf die Träger dieser Einrichtungen zu. Aus der Entwicklung des Bruttoanlagevermögens kann man das erst ablesen, wenn die Welle des Erneuerungsbedarfs bereits über die Infrastrukturträger hinwegrollt.

Ein zunehmendes Alter des Infrastrukturbestandes zeigt das Problem dagegen nach Fratzschers Verständnis frühzeitig an. In diesem Sinne schreiben die DIW-Ökonomen:

„Negative Nettoinvestitionen sind ein Indikator dafür, dass der öffentliche Kapitalstock verschlissen wird und veraltet.“

Hüther dagegen führt auf Nachfrage Messprobleme bei den Abschreibungen und den statistischen Abgängen an, um zu schlussfolgern: „Deshalb ist auch der Modernitätsgrad vorsichtig und eingebettet in andere Indikatoren zu interpretieren, um ihn nicht zu einem Irrlicht werden zu lassen.“

Es ist eine beliebte Methode, Messprobleme anzuführen, wenn einem nicht in die Argumentation passt, was die Statistik ausweist. Das kann auch oft berechtigt sein. Aber wenn man widerlegen will, was sehr viele andere auf der Basis von Daten und schlüssigen Plausibilitätsüberlegungen folgern, sollte man etwas mehr bieten.

[17.3.2019]

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