Die ARD-Tagesschau berichtete am 14. Oktober 2022, kurz nach der Sprengung der Pipelines folgendes:
„Am vergangenen Wochenende brach die Bundespolizei mit mehreren Schiffen auf, zum Teil von der Deutschen Marine zur Verfügung gestellt, um das Ausmaß der Zerstörung an den Pipelines zu begutachten und zu dokumentieren. Auch Taucher und Sprengstoffexperten der Bundespolizei waren dabei. Allerdings kamen die Taucher vor Ort nicht zum Einsatz, da sie nicht die nötige Ausrüstung für einen Tauchgang in 70 Metern Tiefe haben.“
So viel erst einmal zum Thema, was nötig ist, um 70 bis 80 Meter tief zu tauchen und zu arbeiten.
Der ARD-Faktenfinder zitiert in seinem zweiten kritischen Faktencheck zum Hersh-Bericht am 23. Februar 2023 einen Experten, der sich wegen des hohen Aufwands der Sprengung sicher ist, dass es eine staatliche Stelle war, die die Pipelines sprengte. Zur Komplexität gehört, dass den seismischen Daten nach sehr viel Sprengstoff angebracht wurde:
„Mit 300 bis 400 Kilogramm C4-Sprengstoff dürfte man pro Sprengung auf der sicheren Seite sein“, sagt David Domjahn, Lehrbeauftragter für Sprengtechnik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).“
Bei Seymour Hersh kann man lesen, wie komplex die Fernzündung solcher Sprengladungen ist.
Nun berichtet die ARD über die Ermittlungen:
„Konkret ist es den Ermittlern nach Informationen von ARD-Hauptstadtstudio, „Kontraste“, SWR und „ZEIT“ gelungen, das Boot zu identifizieren, das mutmaßlich für die Geheimoperation verwendet wurde. Es soll sich um eine Jacht handeln, die von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden sei, die offenbar zwei Ukrainern gehört. Die Geheimoperation auf See soll den Ermittlungen zufolge von einem Team aus sechs Personen durchgeführt worden sein. Es soll sich um fünf Männer und eine Frau gehandelt haben. Demnach bestand die Gruppe aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin, die den Sprengstoff zu den Tatorten transportiert und dort platziert haben sollen. Die Nationalität der Täter ist offenbar unklar. Die Attentäter nutzten professionell gefälschte Reisepässe, die unter anderem für die Anmietung des Bootes eingesetzt worden sein sollen.“
Also doch keine staatliche Stelle. Eine kleine Gruppe hat die insgesamt rund eineinhalb Tonnen Sprengstoff für drei Sprengungen in einer mutmaßlich nicht allzu großen Jacht zu den verschiedenen Anschlagorten gefahren. Dann haben zwei Taucher und zwei Tauchassistenten mit der bescheidenen Ausrüstung, die man auf so einer Jacht unterbringen kann, den Sprengstoff in 70 Meter Tiefe an die vier Pipeline-Stränge angebracht.
Quellenlage mehr als diffus
Zum Bericht von Hersh schreibt der Faktenfinder in seinem ersten kritischen Faktencheck am 9. Februar 2023, dass Experten kritisieren, dass Hersh sich auf eine einzige anonyme Geheimdienstquelle beruft.
Hersh geht damit sehr transparent um und lässt die vielen Details zur Planung und Ausführung des Anschlags, die ihm die Quelle verraten habe, und die er alle aufführt, den Eindruck erwecken, dass die Quelle verlässlich ist.
Dagegen vernebelt die ARD in ihrem aktuellen Gegenbericht die Quellenlage maximal:
„Für ihre Recherchen haben das ARD-Hauptstadtstudio, „Kontraste“, SWR und die „ZEIT“ mit Quellen in mehreren Ländern gesprochen.“
Das ist alles, was man erfährt. Es kann nach dieser Beschreibung auch die Pressestelle des Kanzleramts gewesen sein, die den Rechercheuren die Kernpunkte der Story dargereicht hat. Mit einer Quelle gesprochen zu haben, heißt ja nicht, dass man von ihr viel erfahren hat.
Hershs Bericht steckt voller Details, die der Faktenfinder mithilfe meist von Experten, die entweder der beschuldigten Seite angehören oder nahestehen, als angeblich falsch oder zweifelhaft diskreditiert. Ganz im Gegensatz zu Hersh enthält der ARD-Bericht kaum Details, anhand derer man ihn überprüfen könnte. Und die wenigen Details wirken unplausibel bis widersprüchlich.
Kaum Details und Widersprüche
Wie groß war die Jacht? Welcher Typ? Wie kamen die Taucher so tief? Was hat die Gruppe zwischen dem 6. September, als sie von Rostock aus in See gestochen seien, bis zur Sprengung am 26. September getrieben? Wann haben sie den Sprengstoff angebracht? Wie haben sie ihn ferngezündet? Wie konnte ein Boot in diesem extrem genau militärisch überwachten Meeresteil über Tage und womöglich Wochen an verdächtiger Stelle verdächtige Aktionen ausführen, ohne dass jemand nachschaute?
Das Label „pro-ukrainsiche Gruppe“ trifft potentiell auf die halbe Welt zu. Das kann die CIA genauso sein wie ein russischer Dissidententrupp, oder eine Bande aus dem nahegelegenen Dänemark.
Dort wo Details geliefert werden, hakt es oft mit der Plausibilität. So weiß man zwar genau, dass es einen Kapitän gab, und zwei Taucher, zwei Tauchassistenten und eine Ärztin. Aber weil die Pässe gefälscht gewesen seien, wisse man nichts über die Nationalität der Täter. Diese Detailkenntnis auf der einen Seite und völlige Unkenntnis auf der anderen ist erklärungsbedürftig.
Das wäre was für Faktenchecker. Sie könnten sich dann auch gleich damit befassen, warum die deutsche „Recherche“ praktisch zeitgleich mit einer gleichgerichteten „Recherche“ der New York Times veröffentlicht wurde. Beides kurz nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz beim US-Präsidenten war, für ein Meeting ohne öffentliche Agenda und ohne die übliche Pressekonferenz danach. Beim Hersh Bericht waren sie sich auch nicht zu schade, absätzelang zu kommentieren, wem diese Version der Täterschaft und des Hergangs besonders gefällt.
Vielleicht müsste man dann aber schreiben, dass in diesem Fall die Bundesregierung und die US-Regierung von den Berichten über eine „pro-ukrainische Kleingruppe“ profitieren. Denn sie wurden durch den Hersh-Bericht über eine Täterschaft der USA, der mindestens in Europa doch einige Ressonanz erfahren hat, in die Klemme gebracht.