Chefredakteur der Berliner Zeitung liest dem Spiegel die Leviten

Ergänzt | 21. 12.2022 | Tomasz Kurianowicz, Chefredakteur der Berliner Zeitung, hat in einem Gastkommentar im Spiegel auf die Verunglimpfung durch das Magazin als reichsbürgerverharmlosende, russlandfreundliche „Verschwörungspostille“ geantwortet. Seine Kritik am intoleranten Haltungsjournalismus hat es in sich.

Der Gastbeitrag auf Spiegel-Online ist frei zugänglich. Deshalb will ich hier nur Appetithäppchen anbieten. Kurianowicz schreibt über den Haltungsjournalismus nicht nur des Spiegel:

„In den vergangenen Jahren hat sich ein Journalismus herausgebildet, der sich der guten Sache verschreibt und, um dieser guten Sache zur Gerechtigkeit zu verhelfen, über Nuancen und Wahrheiten hinwegfegt wie ein Luftwaffengeschwader. (…) Berichterstattung darf tendenziös, anmaßend, ja auch mal falsch sein, wenn sie der guten Sache dient, lautet offenbar die Devise.“

Und über die Berichtserstattung zu Russland:

„In meiner Arbeit gebe ich auch jenen Stimmen Raum, die über alternative Wege für die Friedenslösung diskutieren wollen. Auch jenen Stimmen, die davon ausgehen, bei Russlands Ukrainekrieg handele es sich um einen Stellvertreterkrieg. Stimmen, die im Osten Deutschlands besonders präsent sind. Man muss diese Meinung nicht teilen, ich persönlich teile sie auch nicht. Aber ich empfände es als fatal, wenn wir jetzt aus moralischen Gründen alle abweichlerischen Stimmen als »rechts«, »kremlnah«, »putinfreundlich« verbannen und ihnen kein Gehör schenken, nur weil wir uns selbst so besser fühlen. Diese Stimmen sind nicht einfach weg, weil wir sie ignorieren.“

Es lohnt sich, den ganzen Beitrag zu lesen.

Nachtrag: Weitere Analysen und Wutreden zum modernen Journalismus

Leser haben mir weitere Texte und Links zu Texten zugeschickt, die sich mit dem moralisierenden Journalismus befassen.

Da ist Timo Rieg auf Journalismus.online über „Desinfektionsjournalismus“:

„Die Anfangsphase der Berichterstattung über Corona in Deutschland lässt sich verantwortungsethisch rechtfertigen. Man kann argumentieren, dass die sie prägende Zurückhaltung bis hin zu einer Art Hofberichterstattung den Zweck haben konnte, nicht verantwortlich zu sein für die Folgen (mehr Infizierte!), die es auslösen könnte, z.B. Maßnahmen zur Sozialdistanz anzuzweifeln.« (Prinzing 2020) Diese Haltung gab es sicherlich. Ich kann mir allerdings überhaupt keine Situation vorstellen, die eine »Art Hofberichterstattung« rechtfertigt. Wenn der Journalismus nichts beizutragen hat, dann soll er schweigen, anstatt zu einer »Art Service-Journalismus« (Linß 2020) zu mutieren. Wer berichten will, muss zuvor recherchieren (vgl. Ziffer 2 des deutschen Pressekodex), umso mehr, als wir die Haltung von Regierungen kennen: »die Bevölkerung muss nicht alles wissen« (B19). Verantwortung für Nichtberichterstattung kann nur übernehmen, wer kennt, was nicht berichtenswert erscheint. Es gibt keine verantwortungsethische Rechercheverweigerung.“

Da ist der Abschiedsbrief des Schriftsteller und Journalisten Wolf Reiser an den Chef des Deutschen Journalistenverbands (DJV), Frank Überall auf gewerkschaftsforum.de von Januar 2022, überschrieben mit „Dramatische Verrottung“:

„In Ihrer sechsjährigen Schaffensphase haben Sie im Namen des DJV nur wenige Gelegenheiten versäumt, sich Regierung, Wirtschaft und Technokratie anzudienen, den Pluralismus abzuschaffen, primitive Feindbilder zu bestärken und mit zelotischer Gehässigkeit viele Millionen Bürger, die dem UN-Migrationsprojekt und Faucis chinesischen Fledermäusen nicht über den Weg trauen, zu einer kackbraunen Masse fackeltragender Nazis zu erklären.“

Mein eigener offener Abschiedsbrief an den DJV datiert von 2017:

Adieu DJV: Von einer Journalistengewerkschaft, die Fake-News verbreitet und heimliche Kungelrunden mit Regierenden verteidigt, fühle ich mich nicht vertreten
01. 03. 2017 | Ausgerechnet der Pressesprecher des Deutschen Journalistenverbandes, meiner Journalistengewerkschaft, schrieb auf dem DJV-Blog einen Beitrag, in dem er den russischen Auslandsender RT Deutsch falsch beschuldigte. Das Dementi von RT Deutsch bezeichnete er als Kampagne gegen den DJV und lehnte es ab, dazu Stellung zu nehmen. Erst Tage später wird die Falschnachricht stillschweigend gelöscht. Für mich bringt das ein bereits gut gefülltes Fass zum Überlaufen.

Da ist der Protest des Generalsekretärs der Europäischen Journalistenföderation, Ricardo Gutiérrez, der im Gegensatz zum DJV ein Problem damit hat, wenn Regierungen nicht genehme Medien wie RT und Sputnik einfach verbieten (aus dem Französischen übersetzt mithilfe von deepL.com):

„Die Regeln sind in diesem Bereich sehr klar: Wenn diese Fernsehsender gegen die Sendevorschriften verstoßen, indem sie zum Beispiel zu Hass aufrufen, dann ja, dann müssen sie verboten werden. Aber es reicht nicht aus zu sagen, dass sie Propagandisten sind. In jedem Land muss der Staat eine Beschwerde bei der Medienaufsichtsbehörde einreichen, die dann unabhängig entscheidet. Dieses System ist wichtig, um die Presse vor politischer Einmischung zu schützen. Im Fall von RT und Sputnik wollte der Europäische Rat jedoch schnell handeln und hat diese Instanzen umgangen: Die Staaten haben direkt für das Verbot gestimmt, indem sie es in die Wirtschaftssanktionen gegen russische Unternehmen aufgenommen haben. Diese Maßnahme schafft einen gefährlichen Präzedenzfall, der eine Bedrohung für die Pressefreiheit darstellt.“

Der Philosoph Hermann Lübbe hat schon 2006 (!) in seinem Aufsatz „Correctness. Über Moral als Mittel der Meinungskontrolle“ sehr hellsichtig beschrieben, was ich und sicher auch viele andere, sehr viel später als Problem erkannt haben:

„Nicht das Recht, aber der Zugang zu den Gelegenheiten, öffentlich seine Meinung zu sagen, ist stets sozial kontrolliert, und diese Kontrolle ist nicht ein Hindernis öffentlicher Meinungsbildung, vielmehr deren Bedingung. Auch für die herrschende öffentliche moralische Meinung gilt das. Indessen: Die Fälle mehren sich, in denen Correctnessphänomene, die man als Anzeichen einer erfreulich stabilen öffentlichen Moral werten möchte, ihrerseits von Teilen der Öffentlichkeit als moralisch zweifelhaft erfahren werden. Wir finden uns heute immer wieder einmal mit moralischen Abmahnungen konfrontiert, die, statt gemeiner moralischer Meinung zu entsprechen und so die Herrschaft dieser gemeinen Moral zu bekräftigen, ihrerseits moralisch provozierend wirken. Die Gemeinsinnsdeckung öffentlich geltend gemachter Moral nimmt ab. Der Common sense erkennt sich in vielen moralischen Anforderungen, denen er sich ausgesetzt findet, gar nicht wieder. Moral, die uns doch als die breite Strasse gewiesen sein sollte, wo jedermann geht und niemand sich auszeichnet, wird zum Höhenweg, dessen Findung Expertenwissen voraussetzt und für dessen Begehung man sich zu Seilschaften zusammenschliessen müsste. Politische Gegensätze werden von Tugendwächtern, statt überwunden, geschärft. Der Anstand wird parteilich, das Gemeine verächtlich und die Orientierung am Gemeinen als Populismus verdächtig. Das ist es, was uns heute, statt von gemeiner öffentlicher Moral, von Correctness sprechen lässt“

 

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