Die politischen Pole sind nicht mehr „rechts“ und „links“ sondern „systemkritisch“ und „systemkonform“

20. 05. 2024 | Nach meinem Beitrag zum „Totalitarismus der extremen Mitte“ hat sich eine interessante Leserdiskussion dazu entsponnen, was „rechts“ und „links“ heutzutage noch bedeutet. Diese Diskussion finde ich in Hinblick auf die gerade stattfindende Neuordnung unseres Parteiensystems und die Polarisierung der Gesellschaft sehr wichtig. Deshalb will ich hier die Thesen aus der Diskussion präsentieren, die mir besonders erhellend erscheinen, und ein eigenes Fazit ziehen.

Ausgelöst hatte die Diskussion meine Berichterstattung über den Vorschlag des Thüringer CDU-Chefs einer staatlichen Lizenz für Äußerungen auf den sozialen Medien und meine Feststellung, dass „die Mainstream-Medien und praktisch das gesamte linke politische Spektrum diese totalitäre Ungeheuerlichkeit gnädig übergehen und totschweigen“. Zu Recht wurde gefragt, was hier „links“ bedeutet, insbesondere da viele die Mainstream-Medien als „linksgrün“ klassifizieren.

E. Becker machte dafür eine Begriffsverwirrung verantwortlich. Für ihn sind die Mainstream-Medien rechts, denn rechts sei „eine Haltung mit einer klaren Ordnung von oben nach unten, Herrschaft und Beherrschten: verschiedene Menschen haben unterschiedliche Rechte“. Links dagegen sei „die Überzeugung von den gleichen Rechten für jeden einzelnen“.

Das rief Widerspruch von „links“ und von „rechts“ hervor. Den zuletzt eingegangenen Beitrag von Roman Krais, der erkennbar aus der ehemals linken Ecke kommt, finde ich sehr klug und konstruktiv:

„Auch ich nehme, wie Herr Becker, eine zunehmende Begriffsverwirrung um die politischen Kategorien „Links“ und „Rechts“ wahr. Ich halte das „Links-Rechts“-Schema für überkommen und in den aktuellen Diskussionen unbrauchbar bis irreführend.

Das „Links-Rechts“-Schema wurde inzwischen von einem „Systemkonform-Systemkritisch“-Schema abgelöst.

Während der Kapitalismus in einer leeren Welt den Mangel in faszinierender Weise zu beseitigen weiß, scheitert er – systembedingt – in der inzwischen vollen Welt bei der Verteilung des Überflusses in beängstigender Weise. Weil die entstandene Enge das Wachstum behindert, werden die Profite zunehmend „von Umverteilung zulasten der Arbeitnehmer und Konsumenten gespeist“, wie Sie in der Einführung zu Ihrem lesenswerten Buch «Endspiel Kapitalismus» auf Seite 13 treffend schreiben.

Das „Links-Rechts“-Schema stammt aus der leeren Welt, als noch alle (mit den bekannten „Kollateralschäden“) wohlhabender werden konnten. In der nun vollen Welt empfinden immer mehr Menschen, dass das System mit dem (zugespitzten) Grundsatz „Die Profite der Konzerne sind unantastbar.“ ihnen mehr schadet als nützt. Ich meine, ein neues Lager der „Systemkritischen“ ausmachen zu können. Während die einen am System festhalten wollen, weil der Prozess „sich nicht umkehren [lässt], ohne dass das System zusammenbricht“, wie Sie an oben genannter Stelle schreiben, wollen andere „das System“, das sie nicht mehr weiterbringt, ändern.

In einer Ordnung auf der Skala „systemkonform – systemkritisch“ ist die „extreme Mitte“, über die Sie schreiben, dann auch da, wo man Extremisten erwartet: am ultra-systemkonformen Rand des Spektrums während sich viele gemäßigte alte „Linke“ und „Rechte“ in der Mitte des neuen Spektrums wiederfinden und deshalb problemlos von ehemals „Links“ nach ehemals „Rechts“ und umgekehrt wechseln können, was das alte „Links-Rechts“-Schema nicht zufriedenstellend erklären kann.

Auch im „systemkritischen“ Lager gibt es ein Spektrum: Manche wollen das Wirtschaftssystem nur reformieren, andere wollen es ersetzen, andere gehen weiter und haben auch das vom Kapitalismus inzwischen stark geprägte Gesellschaftssystem im Auge, und die extremen im „systemkritischen“ Lager wollen auch gleich das politische System über den Haufen werfen, weil Kapitalismus und Demokratie in Europa in engster symbiotischer Beziehung großgeworden und verbandelt sind.

Ihren Blog verorte ich im nicht-extremen Bereich des systemkritischen Blocks. Im „Links-Rechts“-Schema mag mir keine überzeugende Einordnung gelingen.“

A. Storz lenkt aus der eher „rechten“ Ecke [siehe sein Protest im Nachtrag unten] den Blick darauf, warum heutzutage viele Konservative oder Rechte (was früher dasselbe war), ins systemkritische Lager gewechselt sind und dort auf die moderaten unter den ehedem Linken treffen, die Gemeinwohlorientierung nicht mit einem starken Staat gleichsetzen, der alles im Sinne der richtigen Ideologie regeln soll. Sie treffen sich dort wegen einer zunehmend mit Händen zu greifenden Freiheitseinschränkung innerhalb eines herrschenden kapitalistischen Systems, das die individuelle Freiheit (fälschlich) als sein Markenzeichen propagiert, und wegen der Erfahrung, dass es auch im Sozialismus Gleichere als Gleiche gibt und es mit der Freiheit darin nicht gut bestellt ist:

„Das einzige politische System mit menschlichem Antlitz ist in meinen Augen die Demokratie, und zwar nicht als Schein- oder Sonntags-Demokratie sondern als Demokratie von unten, mit konkreten Entscheidungsebenen auf kleinster gemeinschaftlicher Ebene, sei es ein Dorf, ein Stadtteil, ein Kiez oder eine selbst zusammengefundene Gruppe in lokaler Nähe, und darauf aufbauend ein Subsidiaritätssystem. Und echte Demokratie ist in seinem Wesenskern nicht irgendwie „links“, also ideologisch eingefasst oder „rechts“, also autoritär geführt – sondern steht über alldem.

Nur Menschen, die selbst über ihre Angelegenheiten entscheiden können, haben wirklich „gleiche Rechte für jeden einzelnen“, soweit das überhaupt realisierbar ist. Denn wenn Rechte von anderen, entfernten Personen definiert und festgesetzt werden, sind diese „Rechte“ schon einmal nicht gleich, denn der, der für andere Rechte definiert hat damit schon Sonderrechte – aber vor allem umfassen diese Rechte auch nicht nicht unbedingt die geringstmöglichen Einschränkungen der Freiheit des Einzelnen.

Denn gleiche „Rechte für alle“ kann auch sehr leicht heißen: „ganz wenig Rechte für alle“. (Man denke an das Motto des Weltwirtschaftsforums „Du wirst nichts besitzen und glücklich sein“ denn wer nichts besitzt hat natürlich kein Verfügungsrecht mehr über irgend etwas – und das für alle gleich. Also Gleichheit? Ist das also perfekt „links“ und anstrebenswert? Ist da nicht ein riesiger Blinder Fleck im schönen Bild? Hat denn dann wirklich keiner mehr Verfügungsrechte? Wo sind die denn hin verschwunden? Man muss nur die ja trotzdem tatsächlich irgendwo vorhandenen und konkret ausgeübten Verfügungsrechte mit entsprechenden Gesetzes- und Regelungstext-Wüsteneien und Delegationssystemen vor aller Augen verstecken – und die Illusion von Gleichheit ist doch perfekt.“

Rechtskonservative und Neurechte

Bezeichnend für den Übergang zu Systemkritik versus Systemkonformismus als politische Pole scheinen mir die in den Mainstream-Medien neuerdings üblichen Begriffsneuschöpfungen „rechtskonservativ“ und „neurechts“ zu sein.

„Rechtskonservativ“ soll die bösen unter den Konservativen bezeichnen, diejenigen, die nicht systemkonform sind. Ihnen wird das in ein Schimpfwort umgedeutete Label „rechts“ aufgeklebt. Früher war rechts einfach ein anderes Wort für konservativ. Heute nennt der extrem systemkonforme Mainstream alle Abweichler „rechts“, auch diejenigen mit traditionell linken Haltungen. Die heißen jetzt „neurechts“.

Damit nehmen die Extremisten der Mitte de-facto eine Einteilung in Systemkonformisten und Systemkritiker vor. Das ist auch eine sinnvolle Kategorisierung der Pole, wenn es um die grobe politische Richtung in einer Umbruchphase geht. Nur dass die Bezeichnung als demokratisch versus rechts grob irreführend ist.

Diejenigen aus dem traditionell rechten Spektrum, die darauf hereinfallen, bezeichnen und bekämpfen den Mainstream als „links“. Diejenigen aus dem traditionell linken Spektrum, die sich von der falschen progressiven Rhetorik blenden lassen, bekämpfen linke Systemkritiker als „rechts“. Dass dadurch ausgerechnet die extremen Systemerhalter als einzig progressive Kraft erscheinen, spielt natürlich denen, die diese Agenda vorantreiben, optimal in die Karten.

Selbstverständlich gibt es viel mehr als zwei Dimensionen der Politik. Aber in einer polarisierten Gesellschaft, wie wir sie derzeit haben, ist es wichtig, richtig zu erkennen und zu benennen, in welcher Dimension diese Spaltung besteht, welche Pole sich gegenüberstehen.

Nichts besitzen und glücklich sein

Bei der These vom kollektiven oder individuellen Glück ohne (privaten) Besitz treffen sich die Totalitaristen von rechts und links. Was den Sozialismus angeht, ist das fast eine Binsenweisheit. Beim Kapitalismus ist es eine gefährliche These, die nur Systemkritiker zu äußern wagen. Dass es zu dem entsprechenden Motto der Großkonzernelobby Weltwirtschaftsforum einen eigenen „Faktencheck“ von Correctiv gibt, zeigt, wie gefährlich die These für die Systemlinge ist. Correctiv prüft die These, ob Forumschef Klaus Schwab selbst gesagt hat „You will own nothing and be happy“. Die Antwort schon in der Überschrift ist, dass die These falsch sei.

Dabei stimmt sie in jeder Hinsicht, außer der von Correctiv willkürlich vorgenommenen Zuspitzung und Einengung auf Klaus Schwab. Das Weltwirtschaftsforum mit seinen technokratischen Weltlenkungsambitionen hat einen Gastkommentar mit der entsprechenden These veröffentlicht und diese später in ein Video, mit (eigenen) Vorhersagen für die Zukunft aufgenommen. Zu Programmatik des Forums und der von diesem vertretenen IT-Großkonzerne passt es perfekt, denn diese propagieren, dass man möglichst kein Programm, kein Fahrzeug und irgendwann auch kein Haushaltsgerät mehr besitzen muss, sondern alles mietet und glücklich damit ist. Schönfärberische Stichworte sind zum Beispiel Cloud-Economy und Sharing-Economy.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf den sehr lesenswerten aktuellen Beitrag von Lambert Strether auf Naked Capitalism hinweisen. Aus Anlass des desaströs verunglückten „Crush“-Werbevideos von Apple analysiert er den Übergang zum You-will-own-nothing-Kapitalismus als fortentwickelte Form der Schuldknechtschaft.

Mein Fazit

Mein Menschenbild lässt mich zuversichtlich sein, dass die Menschen, wenn sie die Möglichkeit hätten, ihre Angelegenheiten in kleinen Einheiten und von dort aus subsidiär in größeren, demokratisch zu regeln, eine Gesellschaftsform schaffen würden, die meinen traditionell linken Vorstellungen nahe kommen würde, mit einem hohen Maß an Freiheit und Gemeinwohlorientierung und einem verträglichen Maß an Ungleichheit.

Wenn dem nicht so wäre, müsste ich das akzeptieren. Ich bin daher willens, auch mit „Rechten“ zusammen dafür einzutreten, dass die Menschen die Chance bekommen, in diesem Sinne ihre Angelegenheiten in Kommunen, Kooperativen und ähnlichen Institutionen selbstbestimmt demokratisch zu regeln. Darin besteht unsere gemeinsame Systemkritik.

Bereits in einem früheren Beitrag habe ich erklärt, warum ich Hoffnungen darin setze, dass sich mit BSW eine systemkritische Partei aus dem traditionell linken Spektrum zu etablieren scheint:

„Die Politik fängt an, noch weiter nach rechts zu rücken, um dem rechten Monopol an Opposition zu begegnen. Wenn es eine Partei gibt, die die extreme Mitte von links kritisiert, kann das grundlegend anders werden. Wenn sie von links kritisiert werden, wird es für Parteien wie die Grünen und die SPD schwerer, unter dem zerschlissenen Mantel ihrer linken Vergangenheit ihre neoliberale, militaristische Politik zu verstecken. Wenn die Wähler nicht mehr – mangels linker Opposition – alles für links halten müssen, was die Parteien etwas weniger weit rechts als die AfD von sich geben und beschließen, steigt die Chance enorm, dass sie verstehen, was passiert und informiert über mögliche Alternativen entscheiden können.“

Davon, dass man bei BSW mehrheitlich mein links-anarchistisches (zugegeben unerreichbares) Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft teilt, bin ich allerdings nicht überzeugt. Die Forderung von BSW, die Entscheidungsmacht wieder von der EU und den globalistischen Institutionen wieder zu den eher demokratisch kontrollierten nationalen Regierungen zurückzuverlagern, dürfte dann nämlich nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer weiteren Dezentralisierung der politischen Entscheidungskompetenzen sein.

Zu den Leserbriefen

Nachtrag (21.5.): Protest von A. Storz

„Hallo Herr Häring, dass Sie mich als „A. Storz […] aus der eher „rechten“ Ecke“ einführen, hat mich doch etwas verwundert. Nach fast 40 Jahren in der Deutschen Friedensbewegung (DFG-VK) aktiv, schon als Jugendlicher gegen NPD-Parteitage auf der Straße gewesen, gegen Filbinger, gegen Strauß, gegen Ronald Reagen, gegen Polizeigewalt bei Startbahn-West-Demos demonstriert, im Bonner Hofgarten bei der Groß-Demo gegen die Nachrüstung dabei, gegen TTIP auf der Straße gewesen, … Gut, wenn das für Sie „aus der eher ‚rechten‘ Ecke“ ist … . Ich kann nur sagen, hier zeigt die Begriffsunsinnigkeit des politisch „Links“ und „Rechts“ für mich ihr offenes, fratzenhaftes Gesicht.“

Mehr

Grünen-Abgeordnete Mihalic erklärt, warum Wahrheit Desinformation und Kritik an dieser Sicht rechts ist
13. 04. 2024 | Ich hatte kritisch darüber berichtet, dass die Abgeordnete Irene Mihalic in einem Video der Grünen-Fraktion die Definition von Desinformation um unbequeme, Konflikte anheizende Wahrheiten erweitert hat. Auf die Frage eines Lesers auf Abgeordnetenwatch hat sie näher erklärt, was sie damit meint. Sie wirft „rechten Blasen“ vor, ihre Aussage aus dem Kontext zu reißen, doch in ihrer Antwort macht sie das selbst.

Der Radikalenerlass 2.0 kommt – zuerst in Brandenburg
11. 03. 2024 | Die ganz große rot-schwarz-grüne Koaltion der radikalen Mitte im Brandenburg, die nach Umfragen im September allenfalls knapp eine Mehrheit der Sitze im Landtag erreichen wird, hat eine Gesetzesänderung angekündigt, die es der Regierungsbehörde Verfassungsschutz erlaubt, die Finanzen von regierungskritischen Bürgern und Organisationen auszuforschen und vor Verbeamtungen und bei Disziplinarverfahren gegen Beamte routinemäßig deren öffentliche Äußerungen zu bewerten.

Bargeld ist für die Nachrichtenagentur Reuters rechtsextrem
5, 08. 2023 | Die „Nachrichtenagentur“ Reuters hat sich nicht entblödet, in einem englischsprachigen Beitrag über Österreich in der Überschrift (übersetzt) zu schreiben: „Österreichs Regierungschef stellt sich hinter die rechtsextreme Forderung, Bargeld in der Verfassung zu verankern“. Die Rechtfertigung für dieses absurd-manipulative Framing ist, dass der aktuelle Vorschlag des konservativen Kanzlers Karl Nehammer einer Garantie des Rechts auf Bargeldnutzung zuvor auch schon von der rechten Partei FPÖ gekommen war.|

Kleine Retourkutsche eines von der Tagesschau zum Linksextremisten Erklärten
22. 04. 2020 | Wer die Politik der Regierung kritisiert, ist ein Extremist. Das sagt die Regierung. Es gibt Rechtsextremisten und Linksextremisten. Linksextremisten sind die, die behaupten, dass die Corona-Krise genutzt werde, um die Überwachung der Bürger zu intensivieren, sagt die Regierung. Ich habe mich dessen schuldig gemacht. Die Tagesschau assistiert: „Extremisten geht es darum, die Politik der Regierung verächtlich zu machen.“

Uwe Krüger: Warum ich einen ZAPP-Beitrag über „Rechte Sprache in den Medien“ für ideologisch und manipulativ halte
14. 12. 2016 | Von Uwe Krüger.* Ich habe letzte Woche in einem Tweet das Wort „Lückenpresse“ ohne Anführungszeichen verwendet. Daraufhin ermahnte mich Caroline Ebner, freie Journalistin für NDR Zapp und die Tagesschau, ich würde damit „rechte Propaganda wiedergeben“. Zur Info verlinkte sie ihren ZAPP-Beitrag „Gefährliche Übernahme: Rechte Sprache in den Medien“ (NDR, 23.11.2016). Darin wird so getan, als ginge es allein um die Wörter. Tatsächlich geht es aber offenbar darum, das Ausdrücken bestimmter Haltungen, Befindlichkeiten oder Bedürfnisse zu verhindern.

Print Friendly, PDF & Email