Hören | 11. 04. 2023 | Viele Leser dieses Blogs werden sich schwertun, gute Argumente für den Transhumanismus zu finden, also für das Überwinden der Grenzen des Menschlichen mithilfe der Technik. Um so verdienstvoller, dass der Westend-Verlag in seiner Reihe „Streitfrage“ einen führenden intellektuellen Vertreter des Transhumanismus und einen Kritiker zusammengebracht hat.
Kein Geringerer als der Philosophieprofessor und Chefredakteur des Journal of Posthuman Studies, Stefan Lorenz Sorgner, schreibt die 50 Seiten Loblied auf den Transhumanismus, bevor der Filmemacher, Autor und Publizist Philipp von Becker die gleichlange Gegenrede hält.
Wie immer in der Reihe Streitfrage schreiben die beiden unabhängig voneinander, antworten sich also nicht direkt gegenseitig.
Sorgner lehrt Philosophie an der amerikanischen Privatuni John Cabot University in Rom. Er hat die Bücher „Schöner neuer Mensch“, „Übermensch“, „We have always been Cyborgs“ und „Philosophy of Posthuman Art“ geschrieben. Wenn uns jemand von den Vorzügen des Transhumanismus überzeugen kann, dann sollte er es sein.
Wie sich das gehört, habe ich das Buch von vorne gelesen und war – ehrlich gesagt – schockiert und verärgert, wie ungenau, oberflächlich, naiv, zum Teil widersprüchlich und voller großer blinder Flecken Sorgner argumentiert. Von einem Philosophieprofessor erwartet man anderes.
Ein misstönendes Loblied
Schon die Definition von Transhumanismus ist ausgesprochen vage. Es fängt an mit einer Vision vom Schritt zum digitalen Leben, zu einer „siliziumbasierten Lebensform, zum Transfer von menschlichem Bewusstsein auf einen Computer. Später wird die Definition dann implizit so weit ausgeweitet, dass jegliche Technologie, bis hin zu sozialen Techniken wie Arbeitslosenversicherung, unter Transhumanismus gefasst wird.
Mit solche Kunstgriffen rechtfertigt er, wenn ich es richtig verstehe, seine Aussage, wir seien schon immer Cyborgs gewesen, Mischwesen aus Natur und Technik. Es sei also nichts Besonderes, wenn derzeit die Fusion von Mensch und Maschine vorangetrieben werde.
Was positiv besetzt ist und sich irgendwie noch als Transhumanismus verkaufen lässt, fährt Sorgner als Argumente für den Transhumanismus auf. Zum Beispiel genetisches Screening, um schwere Erbkrankheiten zu vermeiden. Dabei macht er aber nicht einmal den Versuch, Grenzen zu definieren, wo die ethisch vertretbaren Eingriffe aufhören und ab wann es problematisch oder gar unethisch werden könnte. Dadurch impliziert er, dass es diese Grenzen nicht gibt und dass die Argumente für bestimmte Eingriffe auch für viel weitergehende gelten.
Sorgner spricht routinemäßig von „wir“, ohne das klar ist, wer „wir“ ist. So schreibt er, „wir“ hätten durch den Transhumanismus die Möglichkeit, eigenständig gestalterisch in die Evolution einzugreifen, „ohne die Begrenzungen von Religion und unangemessenen gesellschaftlichen oder politischen Normen“. Wer ist hier „wir“ und kann in die Evolution eingreifen?
Wenn „wir“ jedes Individuum ist, tut er damit so, als hätte jeder die Möglichkeit, sich aus einem Katalog möglicher „Enhancements“ (Verbesserungen) zu bedienen, um mehr Fähigkeit zu bekommen und ein besseres Leben führen zu können, ohne dass dies andere Menschen betreffen würde. Oder kann und muss sich jeder die Verbesserung selbst entwickeln, die er am liebsten hätte?
Falls „wir“ die Gesellschaft als Ganzes sein sollte, bleibt völlig im Dunkeln, wer entscheidet, welche gesellschaftlichen und politischen Normen „unangemesen“ sind und welche transhumanistischen Eingriffe möglich oder gar gefördert werden sollen. Es gibt kein Anzeichen in dem Text, dass Sorgner ein Entscheidungsprozess vorschwebt, der mit Demokratie näher zu tun hat.
In der Realität ist die Frage, welche Eingriffe in die menschliche Natur entwickelt werden und wer Zugang dazu hat, in vielerlei Hinsicht eine Frage von Macht und Geld. Etwa, wenn das Militär für die zum Gehorsam verpflichteten Soldaten Exoskelette entwickelt oder genetische Veränderungen, damit sie bei Nacht besser sehen, und so besser kämpfen können. Oder wenn die Superreichen superteure Methoden entwickeln (lassen), um sehr lange zu leben.
Aber Macht kommt bei Sorgner praktisch nicht vor. Sie verschwindet hinter dem „wir“. Sorgner behauptet allen Ernstes, die gegenwärtig Mächtigen dieser Welt würden vor dem Transhumanismus warnen, weil er ihre Macht untergrabe. Zwei Intellektuelle, einen aus den USA und einen aus Russland, führt er lediglich zum Beleg dieser schrägen These an.
Die Aktivitäten und Propaganda des Weltwirtschaftsforums und der Granden des Silicon Valley, wo die mit großem Abstand wertvollsten und mächtigsten Unternehmen der westlichen Welt zu Hause sind, widersprechen der These diametral. Von diesen wird der Transhumanismus nach Kräften beworben und vorangetrieben. Sorgner behauptet einfach, ohne für mich nachvollziehbare Begründung, in der schönen neuen Welt des Transhumanismus spiele Machtgefälle keine Rolle mehr, im Gegensatz zur derzeitigen, noch nicht transhumanen Welt.
Ein Highlight in einem Meer von widersprüchlichem Unsinn ist sein Plädoyer für die Intensivierung der kommerziellen Ausbeutung unserer Daten; weil Daten das neue Öl seien, das zur Wohlstandssteigerung gefördert werden müsse. Wessen Wohlstand? Der Datenschutz sei dabei das größte Hindernis. Wenn er nicht bald abgebaut werde, werde das – wegen der dann unumgänglichen Verarmung – zu Bürgerkriegen führen. Die Sachzwänge sind halt so, wie sie sind. Sie machen die Volldigitalisierung und den Transhumanismus unausweichlich.
Das soll keinesfalls heißen, dass es sich nicht lohnt, Sorgner zu lesen. Ergiebiger und angenehmer ist es aber, mit von Beckers Teil zu beginnen. Denn auch ohne Professorentitel argumentiert von Becker viel analytischer und schlüssiger als Sorgner. Man kann danach Sorgner mit Gewinn als Beleg und Beispiel für von Beckers Thesen lesen. Dazu gehören die Thesen, dass ein extrem verengtes, technokratisches Welt- und Menschenbild den Transhumanisten bestimmt und dass dieser das entkernen würde, was er vorgibt, verbessern zu wollen – das menschliche Leben.
Der Mensch als Mittel zum Zweck
Besonders interessant und wichtig an von Beckers Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus finde ich seinen Nachweis, dass es sich dabei nicht um Fantasien über eine ferne Zukunft handelt, sondern „um eine zugespitzte Form der ganz gegenwärtigen (westlich-)modernen Art und Weise, sich auf die Welt zu beziehen“. Diese beruhe auf einem mechanistischen Weltbild und strebe ständig nach Kontrolle, Beschleunigung und Vermehrung.
Der Transhumanismus sei blind gegenüber den gesellschaftlichen und psychosozialen Folgen seiner Vorstellungen und Empfehlungen. Sorgners Beitrag in dem Bändchen ist ein Paradebeispiel dafür.
Eingängig dekliniert von Becker durch, was es für ein Kind bedeutet, wenn Eltern durch genetisches Engineering dafür gesorgt haben, dass es die Anlagen hat, ein exzellenter Sprinter zu werden. Statt voraussetzungsloser Liebe nimmt das Kind überdeutlich wahr, dass es zum Objekt der Wünsche, Begierden und Träume anderer degradiert worden ist, dass es die größtmögliche Leistung in dem Feld bringen soll, das die Eltern als seinen Lebenszweck ausgesucht haben.
So etwas können Eltern zwar heute auch schon anstellen, aber Erziehung ist ein Prozess, den das Kind mit etwas Glück mitgestalten kann. Das Sprinter-Gen dagegen ist nicht mehr rückgängig zu machen. Das transhumanistisch gestaltete Kind wird bereits als Produkt geboren. Transhumanisten wie Sorgner, die den Menschen als programmierbare Maschine begreifen, die umso besser (lebenswerter) ist, je mehr und bessere Fähigkeiten sie hat, sind solche Überlegungen fremd.
Auch mit der Entscheidungsfreiheit der Eltern, die Sorgner so betont, könnte es in der Praxis laut von Becker nicht weit her sein. Wenn genetische Diagnostik und genetisches Engineering einmal verbreitet sind, würden womöglich Versicherer aus Kostengründen und Politiker aus Fairnessgründen Druck auf die Eltern ausüben, ihren Kindern das Risiko aller möglichen Krankheiten oder Einschränkungen zu ersparen. Eltern könnten es auch schon von sich aus als unvermeidlich ansehen, ihren Kindern besondere Fähigkeiten mit auf den Lebensweg zu geben, um sie nicht in einen Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Kindern zu setzen, der ihnen am Arbeitsmarkt nur noch die schlechtesten Jobs zugänglich machen würde.
Wenn der Markt regiert, sind dann Fähigkeiten, die das Militär braucht, oder andere mächtige Institutionen, besonders günstig zu haben. Ganz allgemein würde es sehr wahrscheinlich nicht an Anreizen fehlen, solche Fähigkeiten zu programmieren, die „der Arbeitsmarkt“ besonders nachfragt, warnt Becker. Die Menschen würden nach den Anforderungen der Reichen und Mächtigen gestaltet.
Von Becker wendet sich damit einem Problem zu, das Sorgner nur am Rande streift. Was gesellschaftlich passiert, wenn Geld bestimmt, welche Optionen man wählen kann und welche Möglichkeiten einem offen stehen. Bisher wird die Geld- und Machtkonzentration immerhin noch durch die Lotterie des Lebens gedämpft, die manchmal auch den Reichen und Mächtigen minderfähigen Nachwuchs schenkt.
Wenn man sich aber zuverlässig verbesserte Fähigkeiten seiner Kinder kaufen kann – je mehr Geld man hat, desto mehr und desto bessere Fähigkeiten -, dann droht das Auseinanderfallen der Gesellschaft in eine extrem hierarchische Kastengesellschaft. Man denkt unwillkürlich an die nach Fähigkeiten und Privilegien von Alpha bis Epsilon abgestuften Kasten in Aldous Huxleys Zukunftsroman „Schöne neue Welt“.
Sorgner ruft zwar als Lückenbüßer für solche Probleme nach dem Sozialstaat, wenigstens einem rudimentären. Aber von Becker bezweifelt zu Recht, das es noch ein Gefühl von Solidarität und damit die Basis für einen Sozialstaat gibt, wenn die Lotterie des Lebens beseitigt ist.
Der Mensch als Maschine
Der menschliche Körper wird im Transhumanismus zur Maschine, die optimal gewartet und bei Bedarf aktualisiert werden muss. Alle großen Silicon Valley Firmen sind im Geschäft der ständigen Vermessung und Überwachung der Körperfunktionen aktiv. Wir sollen nicht mehr darauf vertrauen, ob, wie und womit wir uns gut fühlen, sondern darauf, was die Gadgets von Google und Co. uns an Messergebnissen über unseren Körper und zunehmend auch unsere Psyche zuspielen. Und damit wir mit Engagement mitspielen, wird der Alltag in einen kontinuierlichen Wettbewerb mit anderen oder mit sich selbst umgewandelt, „der ständig neue Aktivitätsziele vorgibt“, wie von Becker das treffend formuliert.
Dass damit der Einzelne für sein Wohlbefinden verantwortlich gemacht wird und wenn es daran mangelt, nur noch mehr Schuldgefühle, Angst und Stress verspürt, können und wollen die Transhumanisten nicht sehen. Denn Probleme wie Beziehungsmangel, Geldsorgen und Sinnleere, können sie mit ihren Methoden nicht angehen.
Von Becker kritisiert, dass die Transhumanisten die Digitalisierung des gesamten Daseins und seine Steuerung durch Computer als quasi-naturgesetzliche Zwangsläufigkeit darstellen, sodass der Mensch gar nicht anders könne, als sich an die Erfordernisse dieser neuen Welt – also an die Maschinen – anzupassen. Er zitiert Sorgner aus einer anderen Veröffentlichung mit den unerhörten Worten:
„Alle Prozesse der Lebenswelt werden digitalisiert. (…) Smart Cities werden entwickelt. Doch wenn der Mensch gleich bliebe, könnten all diese Prozesse einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung nicht entfalten. Smart Cities brauchen geupgradete Menschen.“
Die Sensoren dieser Smart Cities würden alles erfassen und unser Tun darin effizient steuern. Niemand müsste mehr entscheiden, ob, wann und wie er von hier nach da kommt oder wo er was bekommt oder tut. Die völlige Berechenbarkeit, die dabei herauskäme, nennt von Becker rasenden Stillstand, die Smart Cities Städte des Todes und ihre Bewohner Zombies.
Der programmierte Mensch wäre ein idealer Befehlsempfänger, für den die Illusion erzeugt wird, dass er selbst will, was die jeweils Herrschenden und ihre Maschinen für ihn vorgesehen haben. Und der gar nicht mehr auf die Idee kommt, dass erst hinter dem digitalen Vorhang die Welt beginnen könnte. Das Leben als Truman Show.