Die EU-Budgetregeln machen auf flexibel, sind es aber in Wahrheit nicht

23. 11. 2019 | Die europäischen Budgetregeln sind streng. Grob gesprochen sehen sie ein maximales „strukturelles“ Budgetdefizit von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) vor. Sie gelten aber auch als flexibel, wenn es gilt, eine lahmende Konjunktur anzukurbeln. Dann sollten eigentliche höhere Defizite erlaubt sein. Aber die EU-Kommission verhindert das, indem sie kunstvoll jede Wirtschaftsflaute wegrechnet.

Als „strukturell“ im Sinne der Budgetregeln gilt der Teil des Defizits, der nicht auf kurzfristige konjunkturelle Schwankungen zurückgeht. Nur das strukturelle Defizit belastet annahmegemäß die langfristige Schuldentragfähigkeit.

Im Prinzip verschafft der Rückgriff auf das strukturelle Defizit den Regierungen Freiräume, höhere Defizite in Kauf zu nehmen, wenn – wie in Italien – die Wirtschaft schlecht läuft. Sonst müssten sie in den Abschwung hineinsparen und ihn dadurch noch verstärken. In der Praxis passiert aber genau das. In der Praxis hat sich herausgestellt, dass Länder mit schlechter Wirtschaftsentwicklung fast ungebremst sparen müssen, während Länder mit guter Konjunktur, wie bisher Deutschland, fast den vollen Ausgabenspielraum nutzen können, den die gute Konjunktur ihnen verschafft.

Aber wohin sind die Spielräume verschwunden, die die Fiskalregeln eigentlich vorsehen? Die flapsige Antwort lautet: Das Rechenmodell, mit dem die EU-Kommission das strukturelle Defizit ermittelt, hat sie verschluckt. Denn Budgetspielräume bekommt nur der zugestanden, dem eine schlechte Konjunkturlage attestiert wird, nicht aber derjenige, dem ein geringes Wachstumspotenzial aus „strukturellen“ Gründen nachgesagt wird. Wenn die Diagnose bei schwachem Wachstum regelmäßig lautet, dieses sei „strukturell bedingt“, dann gibt es auch keine Budgetspielräume. Genau diese Diagnose bringt die Rechenmethode der Kommission nach Einschätzung von Ökonomen und betroffenen Regierungen in vielen Fällen fast automatisch hervor.

Vollauslastung“ trotz Flaute

Das Problem lässt sich am Vergleich von Spanien und Italien mit Deutschland gut darstellen. Die deutsche Wirtschaftsleistung ist preisbereinigt seit 2007 pro Kopf um gut ein Zehntel gewachsen, die spanische hat stagniert, die italienische ist deutlich gesunken. Trotzdem diagnostiziert das Modell der EU-Kommission Spanien Hochkonjunktur und Italien etwa die gleiche minimale Unterauslastung der Produktionskapazitäten, also eine unbedeutende „Produktionslücke“. Und das bei zweistelligen Arbeitslosenquoten in beiden Ländern.

Im Fall Spanien hat auch eine Arbeitslosenquote von zeitweise über 20 Prozent die Kommission nicht davon abgehalten, einen leicht überhitzten Arbeitsmarkt zu diagnostizieren – sehr zum Ärger der dortigen Regierung.

Ökonomen und Historiker aus den USA haben mit einer „Kampagne gegen unsinnige Produktionslücken“ solche Ungereimtheiten in den Fokus gerückt. Die unter dem Kürzel CANOO über die sozialen Medien betriebene Kampagne fand in der internationalen Ökonomenszene viel Zuspruch. Hauptinitiatoren sind Robin Brooks, Chefvolkswirt des von großen internationalen Banken getragenen Institute of International Finance (IIF) und früherer Chefstratege von Goldman Sachs, und sein IIF-Kollege Greg Basile sowie Adam Tooze, renommierter Historiker an der Columbia University mit VWL-Ausbildung.

Wir schauen auf die Produktionslücken durch die Linse des gesunden Menschenverstands

Die Kampagne richtet sich nicht nur gegen die Methode der EU-Kommission, sondern auch gegen diejenige des Internationalen Währungsfonds (IWF), die ähnlich abstruse Ergebnisse produziert, mit gewissen Abstrichen auch gegen die des Industrieländerklubs OECD.

„Wir schauen auf die Produktionslücken durch die Linse des gesunden Menschenverstands“, schreiben Brooks und Basile. Durch diese Linse sehen sie Länder mit guter Wirtschaftsentwicklung und geringer Arbeitslosigkeit, die angeblich konjunkturell nicht anders dastehen als Länder mit schwacher Konjunktur und hoher Arbeitslosigkeit. Und sie sehen ungewöhnlich niedrige Inflationsraten, obwohl die entsprechenden Volkswirtschaften angeblich an der Grenze zur Überhitzung stehen.

Philipp Heimberger unterstützt die Kampagne von Brooks und Tooze nachdrücklich. Der Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) hat 2017 zusammen mit Jakob Kapeller und Jakob Huber zwei Studien zum Thema verfasst, auf die sich die Amerikaner berufen.

In einem Beitrag für das Onlinemagazin „Makronom“ hat Heimberger jüngst nachgerechnet, wie weit die Wirtschaftsleistung jeweils hinter dem zurückbleibt, was sich ergeben hätte, wenn sich der Wachstumstrend vor der Finanzkrise von 2009 bis heute fortgesetzt hätte. In Deutschland gibt es keinen Rückstand, in Italien beträgt er 16,5 Prozent, in Spanien knapp 30 Prozent, in Griechenland fast 50 Prozent. In jedem Fall hat das EU-Modell die Schätzung für das nationale Produktionspotenzial um fast genau diesen Prozentsatz nach unten revidiert. Das heißt: Alle Produktionseinbußen sind für die Kommission strukturell bedingt, nicht durch Nachfrageausfall. Entsprechend kann man auch durch keynesianische Politik der Nachfrageförderung nichts machen, sondern nur durch langfristige Wachstumsförderung. Und wenn die Einnahmen wegen der schlechten Wirtschaftslage einbrechen, muss ungebremst gespart werden.

Aus Trend wird Struktur

Der Grund für diese beständigen Abwärtsrevisionen des Produktionspotenzials im Tandem mit einer schlechten Wirtschaftsentwicklung versteckt sich tief im Maschinenraum der Modellbauer. Hauptverantwortlich ist eine Methode, mit der versucht wird, einen langfristigen Wachstumstrend zu identifizieren. Nur Abweichungen der Wachstumsrate von diesem Trend gelten als konjunkturelle Schwankungen. Der Trend wird mithilfe eines sogenannten Kalman-Filters ermittelt. Sehr lose gesprochen ist das ein gleitender Durchschnitt der letzten Jahre.

Diese Methode betont die jüngste Vergangenheit. Wenn eine Wachstumsschwäche ein paar Jahre andauert, führt das dazu, dass der Wachstumstrend sehr schnell nach unten revidiert wird. Die Schwäche gilt dann nicht mehr als konjunkturell, sondern als strukturell. Das anerkannte Prinzip, dass man in einem Abschwung nicht hinterhersparen sollte, wird also  auf kaltem Wege außer Kraft gesetzt, während die Öffentlichkeit glaubt, es würde respektiert.

Extreme Annahmen

Wie extrem die Annahmen der Modelle sind, zeigt sich an Alternativrechnungen, die Brooks und Basile sowie Heimberger aufmachen. Heimberger rechnet vor, dass bei einer Fortsetzung des Vorkrisentrends Italiens Produktionspotenzial heute um 16,5 Prozent über dem tatsächlichen BIP läge. Betrachtete man das als Produktionslücke, und berücksichtigte den rechnerischen Effekt auf das Staatsbudget, dann würde das strukturelle „Defizit“ im italienischen Budgetentwurf der letzten Regierung bei plus 6,3 Prozent liegen statt bei minus 2,5 Prozent. Nähme man realistischer an, dass sich das Wachstum des Produktionspotenzials seit 2008 vom Vorkrisentrend von 1,5 Prozent auf 0,5 Prozent pro Jahr gedrittelt hat, betrüge die Produktionslücke immer noch acht Prozent. Die Kommission müsste dann der italienischen Regierung einen strukturellen Überschuss im Budget von 1,8 Prozent bescheinigen.

Was bisher vor allem ein Thema für die Südländer war, könnte bald für Deutschland wichtig werden, das gerade in die Rezession gleitet. Denn nicht nur die EU-Regeln der Haushaltskontrolle, auch die deutschen Regeln zur Defizitbegrenzung richten sich nach der EU-Methode zur Berechnung der Produktionslücke.

EU-Kommission verteidigt Vorgehen

Tooze und Robin Brooks haben die Kommission dazu gebracht, sich öffentlich zu rechtfertigen. Auf dem Ökonomieportal „Vox“ begründen hochrangige Kommissionsvertreter, warum deren Kritik „konzeptionell und empirisch falsch“ sei, die Kommission rechne bei der finanzpolitischen Aufsicht über die Mitgliedstaaten falsch. Autoren sind Marco Buti, Generaldirektor für Wirtschaft und Finanzen, Werner Röger, Leiter der Abteilung Modelle, und vier weitere Ökonominnen und Ökonomen der Kommission.

Die Kommissionsvertreter gehen in ihrer Erwiderung mit dem Titel „Potential output and EU fiscal surveillance“ nicht auf die Kritik ein, dass durch die Berechnungsmethode länger andauernde Konjunkturkrisen automatisch in ein schwaches Wachstumspotenzial umgedeutet würden. Sie argumentieren, es sei kein Wunder, dass die Produktionslücken von Deutschland und Italien sich trotz des sehr unterschiedlichen Wachstums gleich entwickelt hätten. Denn sowohl das Wachstum als auch das Potenzialwachstum seien in Deutschland dreimal so hoch gewesen wie in Italien. Damit setzen sie die von den Kritikern angegriffene eigene Potenzialschätzung als korrekt voraus.

Kritker unbeeindruckt

Entsprechend wenig beeindruckt sind die Kritiker von der Kommissionserwiderung. „Der Artikel bietet keine Antwort auf die zentrale Kritik der „Campaign Against Nonsense Output Gaps“, urteilt Philipp Heimberger: dass nämlich methodenbedingt die Schätzungen der Produktionslücken regelmäßig mit dem tatsächlichen Wachstum nach unten angepasst werden.

Das geringe Wachstum in Ländern wie Italien ist aus Kommissionssicht nicht Zeichen einer Konjunkturschwäche, sondern strukturell bedingt, unter anderem durch zu geringe Investitionen. Das Argument der Kritiker, die dauerhaft niedrige Inflation mache eine Vollauslastung der Produktionskapazitäten unplausibel, kontert sie mit der Feststellung, es gebe viele Einflüsse, die auf die Inflationsrate einwirkten, darunter geringe Lohnsteigerungen und Sondereinflüsse wie sinkende Ölpreise.

Dem hält Robin Brooks entgegen, dass er mit Kerninflationsraten argumentiere, die Sondereinflüsse weitgehend ausklammerten. Das niedrige Lohnwachstum, das die Kommissionsvertreter zur Erklärung der niedrigen Inflation anführen, reklamiert Brooks als Argument für seine eigene Sichtweise: „Niedriges Lohnwachstum ist ein anerkannter Indikator für Unterauslastung des Arbeitskräftepotenzials und widerspricht damit der These von der Vollauslastung der Produktionskapazitäten.“ Adam Tooze weist darauf hin, dass die Kommission nur auf die europäische Inflationsrate eingehe, nicht aber auf die wichtigeren Unterschiede zwischen den Südländern und dem Norden.

Dem Argument von den strukturellen Wachstumshemmnissen in Italien hält Tooze entgegen, dass diese wegen ihrer langfristigen Natur kaum taugten, ausgeprägte Schwächeperioden wie seit der Finanzkrise zu erklären. Brooks ergänzt, dass die niedrigen Investitionen in Italien und Spanien auch Folge der restriktiven Finanzpolitik seien und insofern eine indirekte Folge der Unterschätzung des Produktionspotenzials.

Berufung auf Korrekturmöglichkeit

Die Kritiker schreiben den Produktionslücken nach Ansicht der Kommission eine zu große und zu mechanische Rolle bei der Fiskalüberwachung zu. Man habe die Möglichkeit, die Schätzung der Produktionslücke zu modifizieren, wenn sie unplausibel erscheine. Davon habe man im Fall von Spanien und Slowenien bereits Gebrauch gemacht.

Heimberger ist nicht überzeugt. Es sei nun einmal von wesentlicher Bedeutung, ob das maximal zulässige Defizit im Haushalt für 2020 bei gut zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liege, wie nach den Berechnungen der EU-Kommission, oder bei drei bis dreieinhalb Prozent, wie sie sich bei einer für Heimberger plausibleren Unterauslastung ergeben würde. Die Annahme beeinflusst wesentlich die Möglichkeiten der italienischen Regierung, die Konjunktur zu stützen.

Letztlich widerspricht ein Ermessensspielraum der Kommission auch dem Ziel einer einheitlichen Methodik, Ungleichbehandlungen aufgrund der unterschiedlichen Größe und Macht der Länder oder der politischen Ausrichtung der Regierungen möglichst auszuschließen.

Eine Sprecherin der Kommission erklärte, die Methode zur Berechnung der Produktionslücken sei mit und von den Mitgliedstaaten entwickelt worden und habe sich über die Jahre als robust erwiesen. „Die Produktionslücke ist nur ein Teil des gesamten Analyserahmens und alle relevanten Faktoren müssen in Betracht gezogen werden“, fügte sie hinzu.

Es gibt Alternativen

Als Alternative zur derzeitigen Methodik schlägt Robin Brooks vor, auf Maße der Unterbeschäftigung abzustellen, anstatt das Produktionspotenzial aus dem Wachstumstrend der letzten Jahre abzuleiten. Heimberger schlägt vor, die Potenzialschätzung nur noch alle drei bis fünf Jahre zu revidieren, anstatt zweimal im Jahr. Dann hätte eine Regierung wenigsten in den ersten Rezessionsjahren den erwünschten Spielraum für die Konjunkturpolitik. Im günstigsten Fall könnte sie so die Abwärtsspirale aus Konjunkturschwäche und restriktiver Finanzpolitik vermeiden.

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