VWL-Lehrbücher fürs Grundstudium: Einführung in die Ideologie des Marktes

Helge Peukert  von der Uni Siegen hat die in Deutschland gängigsten Einführungslehrbücher der Mikro- und Makroökonomie untersucht und festgestellt, dass diese sich sehr ähneln und sehr einseitig ideologisch sind. Er hat allerdings auch festgestellt, dass man nicht unbedingt neue Lehrbücher schreiben muss, sondern dass es schon ganz gute Alternativen auf dem Markt gibt. Die Untersuchung, die man kostenlos im Internet abrufen kann, ist Studierenden sehr zu empfehlen, die mit den untersuchten Lehrbüchern traktiert werden, und Lehrenden ebenso.

Zu den Kernbereichen der VWL gehören die Einführungsveranstaltungen der Mikro- und Makroökonomie. Sie beschäftigen sich mit dem Verhalten der einzelnen Haushalte und Unternehmen (Mikro) bzw. der gesamten Volkswirtschaft (Makro). Aus den je rund 60 laut Modulhandbüchern an deutschen Hochschulen verwendeten Lehrbüchern wählte Peukert die jeweils zwei sehr deutlich dominierenden Lehrbücher aus und untersuchte sie kapitelweise hinsichtlich Pluralität und Wissenschaftlichkeit. Anschließend verglich er die Inhalte der je zwei exemplarischen Lehrbücher mit den anderen Lehrbüchern und stellte nur geringe Abweichungen fest. Man schreibt offenbar ziemlich ungeniert voneinander ab. Keiner will sich vom Mainstream entfernen, um nicht die Marktchancen des eigenen Buches zu gefährden.

Mikroökonomische Lehrbücher

Die in Deutschland vorherrschenden mikroökonomischen Lehrbücher sind von Pindyck/Rubinfeld und von Varian. Sie propagieren,so Peukert, ausschließlich das neoklassische Regelwerk mit dem rational-egoistischen Homo oeconomicus, gewinnmaximierenden Unternehmen und dem Prinzip von Angebot und Nachfrage, das dank der Marktkräfte stets zu einem Gleichgewicht führe. Ohne empirische Belege würden Behauptungen gemacht, die sehr spezielle, zum Teil wenig realistische Kostenverläufe oder ein bestimmtes Konsumentenverhalten als Normfälle hinstellen. Diese angeblichen Normfälle untermauerten zwar die behaupteten positiven Wohlfahrtseffekte der „Konkurrenzwirtschaft“, könnten aber wissenschaftlich nicht als gesichert gelten.

Die positive Darstellung des Wettbewerbs werde mit vielen mehr oder minder passenden bzw. zugeschnittenen Geschichten aus dem Wirtschaftsalltag bunt und bildhaft ausgestaltet, v.a. bei Pindyck/Rubinfeld. Varians Lehrbuch dagegen erhalte durch mathematische Ableitungen und Formalismen einen wissenschaftlich-wertneutralen Anstrich. Varian ist „nebenbei“ Chefvolkswirt von Google, was Peukert gebührend problematisiert.

Die notwendige institutionell-juristische Einbettung (und Gestaltbarkeit) von Marktprozessen kommt nur in Form der Verneinung ihrer Notwendigkeit vor, moniert Peukert. Dem Staat und oft auch den Gewerkschaften würden bei ihren Versuchen, „von außen“ die Marktkräfte zu beeinflussen, Ineffektivität, Ressourcenverschwendung und fragwürdige Absichten bescheinigt. Ökologische und sozialpolitische Themen spielten keine Rolle, öffentliche Güter würden nur am Rande behandelt.

Die Finanzmarktkrise ging offenbar spurlos an den Mikrolehrbüchern vorbei: Nach wie vor werde prinzipiell die Gültigkeit der Effizienzmarkthypothese unterstellt, der zufolge die Akteure neue Informationen sofort mit kühlem Kopf auswerten und „einpreisen“. Herdenverhalten oder abwechselnden irrationalen Überschwang und Pessimismus gebe es nicht. Peukert bezeichnet es als sehr überraschend, welch einseitiges, marktliberal-konservatives Weltbild die Lehrbücher vertreten. In den auf über 1.000 Seiten angeschwollenen Einführungen sei für die anderen rund ein Dutzend ernst zu nehmenden Denkschulen (z.B. Post-Keynesianismus oder Sozioökonomie) kein Platz.

Makroökonomische Lehrbücher

Selbst das makroökonomische Lehrbuch von Blanchard und Illing, das deutlich besser sei als das den deutschen Markt dominierende Lehrbuch von Mankiw, blendet laut Peukert abweichende Schulrichtungen weitestgehend aus. Als primäre Zielfunktion der Wirtschaft gilt das Wirtschaftswachstum. Die Autoren gehen davon aus, dass es eine neue makroökonomische Synthese gebe (die sogenannte New Consensus Macroeconomics), die Elemente der Angebotsökonomie und eines vorsichtigen Keynesianismus sowie der verschiedenen Marktgleichgewichtsschulen usw. verbinde.

Diese Kombination verschiedener Schulrichtungen führt zu schwerlich miteinander vereinbaren Aussagen, zwischen denen die Verfasser hin- und herschwanken. Wenn man fragt, ob eine länger anhaltende Rezession oder eine drastische Sparpolitik – wie in einigen EU-Ländern praktiziert – überbrückt und vermieden werden sollte, weil sich die Durststrecke negativ auf das langfristige Wachstumspotential auswirkt (Hystereseeffekt), wird dies an einigen Stellen bejaht, an anderen verneint. Teilweise werden ausgeglichene Haushalte und z. B. die Politik der Troika (auch wieder mit Hintertürchen) verteidigt. Dank der Unterscheidung von Wirkungen in einer kurzen und in einer langen Frist werden diese Unverträglichkeiten verdeckt. Da sich in der langen Frist (nach einigen Jahren) die grundlegenden Strukturen (Kapitalausstattung, Infrastruktur, Bildungsstand usw.) über die Marktprozesse als bestimmend herausstellen, hat z. B. Fiskalpolitik bestenfalls kurzfristig Erfolg.

Die eigentlich marktkonformistische Grundhaltung der Autoren zeigt sich besonders deutlich beim Thema Arbeitsmarkt. Dem lebendig-flexiblen Arbeitsmarkt der USA werden die „altersschwachen“ Verhältnisse in der EU entgegengehalten, die man mit geringerem Wachstum bezahle. Flexible Wechselkurse und eine möglichst wenig regulierte Globalisierung seien für angemessene Wachstumsraten unabdingbar.

Das als Synthese gedachte Lehrbuch akzeptiert, wenn auch mit geringen Abweichungen, das seit den 1970er Jahren gegen den Keynesianismus aufgefahrene Standardrepertoire. Hierzu zählen die modifizierten Phillips-Kurven und daran anschließend die NAIRU. Diese (vom Mainstream so bezeichnete) „natürliche“ Rate, die die Höhe der Arbeitslosigkeit angibt, bei der es zu keiner Veränderung der Inflationsrate kommt, hängt von institutionellen Gegebenheiten ab: Je höher die Mindestlöhne und je besser die Arbeitslosenversicherung, umso höher muss die natürliche Arbeitslosigkeit ausfallen. Die These einer über bestimmte Zeiträume stabilen Phillips-Kurve wird gemeinhin kontrovers diskutiert, nicht aber im Lehrbuch. Auch wird von Arbeitsökonom*innen argumentiert, dass höheres Arbeitslosengeld es den Arbeitslosen erlaube, nicht sofort einen Job etwa als Kellner*in anzunehmen, sondern nach Tätigkeiten zu suchen, die ihren Qualifikationen eher entsprächen. Das erhöhe die Produktivität und das Wachstum, sodass die vermeintliche natürliche Rate sinken müsste. Die Kernelemente des Lehrbuches ruhen demnach auf schwachem Grund.

Die Studierenden würden durch die kurvensatte Anlage des Buches verwirrt. Das veranschaulicht Peukert am Beispiel der Phillips-Kurve: Zunächst bestehe ein Zielkonflikt zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, dann werde mit Friedman für die lange Frist eine vertikale Phillips-Kurve angenommen. Als nächstes läsen die Studierenden, der Monetarismus nähme an, monetäre Impulse könnten nie den Wachstumspfad stören. Gemäß der Neuklassik gelte die vertikale Phillips-Kurve bei rationalen Erwartungen dann aber ebenfalls in der kurzen Frist. Aufgrund von Überraschungseffekten wäre die nichtvertikale Version in der kurzen Frist aber trotzdem relevant.

Die Frage „Sollten Politiker in ihrer Entscheidungsfreiheit beschränkt werden?“ werde von Blanchard und Illing mit einem klaren Ja beantwortet

Wo die Autoren neukeynesiansich argumentieren, gelte die nichtvertikale Phillips-Kurve in der kurzen Frist auch ohne Überraschungseffekte. Schließlich könne alles wieder durch allerlei Erwartungseffekte modifiziert werden, so dass es selbst in der kurzen Frist keiner Nachfragestimulierung bedürfe. . Der Keynes‘sche Multiplikator mit erhöhten Staatsausgaben, die dann zu erhöhter Beschäftigung führen, werde zwar vorgestellt und über das sogenannte IS-LM-Modell gezeigt, dass mit Geld- und Fiskalpolitik einiges zu erreichen ist. Das werde dann nach Einführung der Phillips-Kurve aber gleich wieder annulliert. Auch liege der Widerspruch vor, dass das IS-LM-Modell konstante Preise, die Phillips-Kurve aber schnell ansteigende Löhne voraussetzt. Diese Vielstimmigkeit ist für Peukert nicht konstruktiv pluralistisch, da die Modelle nicht als Ausdruck halbwegs realistischer, in sich konsistenter Alternativen vorgestellt würden, sondern als sich ergänzende Teilelemente eines alle diese Modelle umfassenden, angeblich kohärenten Ansatzes.

Die Kapitel zu den Geld- und Finanzmärkten wurden wegen der Finanzkrise überarbeitet und erweitert. Doch werde nach wie vor die Geldschöpfung durch Privatbanken nicht klar erklärt, und an einigen Stellen fielen die Autoren in die Angewohnheit zurück, den Prozess anhand des Geldschöpfungsmultiplikators kausal zu erklären, moniert Peukert. Die Finanzkrise werde nicht auf Tendenzen zur Instabilität zurückgeführt, die dem Finanzsystem selbst innewohnen, und die Reformdiskussion um das Finanzsystem bewege sich im Rahmen der in der Realität bereits vorgenommenen Regulierungen (Basel III als Fortschritt usw.).

Unterlassene, aber in Wissenschaft und Politik durchaus erwogene radikalere Vorschläge – wie eine Größenbegrenzung der Banken, ein Verbot von Kreditausfallversicherungen usw. – würden nicht erwähnt. Man beschränkt sich stattdessen darauf, die seit der Finanzkrise neue Rolle der Zentralbanken zu beschreiben, die nicht mehr nur (Null-)Zinspolitik betreiben, sondern auch „unkonventionelle“ Maßnahmen, und diese weitgehend für richtig und implizit für alternativlos zu erklären.

Alternativen

Als bessere Alternativen empfiehlt Peukert unter anderem Economics after the crisis und Macroeconomics in context. Sie fühlten sich einem demokratischen, sozialen, kulturell diversen und ökologischen Leitbild und einem Wissenschaftsideal verpflichtet, gemäß dem die verschiedenen Denkschulen miteinander um die Wahrheit ringen.

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