Buchbesprechung: Die Hintergründe des Aufstands der „Gelben Westen“

Der Aufstand der „Gelben Westen“ ist ein Aufstand des ländlichen Frankreichs und der französischen Arbeiterklasse. Er hat die Eliten völlig überrascht. Das hätte nicht so sein müssen, denn Warnungen gab es genug, unter anderem von Christophe Guilluy. Der Wirtschaftsgeograph weist seit Jahren auf die Frakturen und schwerwiegenden sozialen Probleme der Gesellschaft als Folge einer neoliberalen Politik auf dem Rücken der Mehrheit der Franzosen hin. Eines seiner wichtigsten Bücher, das in Frankreich 2016 viel Aufsehen erregt hat, ist jetzt in englischer Sprache erchienen, unter dem Titel „Twilight of the Elites: Prosperity, the Periphery, and the Future of France“ (Yale University Press 2019). 

Von Gastautor. Das Buch mit dem Originaltitel „Le Crépuscule de la France d’en Haut“ ist zwar deutlich vor dem Beginn des Aufstands vollendet worden. Doch wer sich für dessen Hintergründe interessiert und Englisch besser als Französisch versteht, ist mit diesem Buch dennoch hervorragend bedient. Es gibt einen faszinierenden und beklemmenden Einblick in die schwerwiegenden sozialen Veränderungen, die die Rebellion ausgelöst haben. Und es lässt ahnen, dass sich die Lage in Frankreich nicht  so schnell wieder beruhigen wird, selbst wenn das Macron-Regime Frankreich in einen totalitären Polizeistaat verwandelt – wovon ja bereits mehr als nur Ansätze zu sehen sind. Die äußerst bedenklichen Entwicklungen, die Guilluy für Frankreich beschreibt, lassen sich zumindest teilweise auch in Deutschland beobachten.

Gemein haben Frankreich und Deutschland eine fast 30-jährige neoliberale Politik der Umverteilung von unten nach oben. In beiden Ländern stagnieren Löhne und Gehälter in realen Größen seit rund zwei Jahrzehnten. Die starken Einkommenszuwächse der Oberschicht und einer vergleichsweise kleinen oberen Mittelschicht, sowie die Ultraniedrigzinspolitik der Notenbanken haben zudem zum Phänomen der Gentrifizierung geführt. Wohnviertel und inzwischen sogar ganze Städte werden für Normalverdiener unerschwinglich, so dass diese daraus vertrieben werden. In Frankreich mit seinem wesentlich stärkeren Gegensatz von etwa 15 Metropolregionen und einem vergleichsweise dünn besiedelten ländlichen Gebiet, in dem es an Arbeitsplätzen, Infrastruktur und Institutionen der höheren Bildung fehlt, treten die sozialen Gegensätze klarer zutage als hierzulande.

Guilluy spricht von „neuen Zitadellen“, von einer Neuauflage mittelalterlicher Städte mit einem wohlhabenden Bürgertum, die sich von einer verarmenden Landbevölkerung immer mehr abgrenzen, wobei die  steinernen Stadtmauern längst durch wesentlich effektivere finanzielle Mauern ersetzt worden sind. So beträgt laut Guilluy der Durchschnittspreis für Wohneigentum in Paris inzwischen 11.000 Euro je Quadratmeter, in attraktiven Gegenden liegt er bei 15.000 Euro. Dies kann sich nur noch eine kleine obere Mittelschicht leisten, die zu den wenigen ökonomischen Gewinnern der Globalisierung gehört und die sich immer stärker vom Rest der Bevölkerung abgrenzt. Nicht-Akademiker und die arbeitende Bevölkerung werden aus den Städten in die ländlichen Regionen Frankreichs verdrängt, wo es immer weniger Jobs und Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs gibt. In den ländlichen Regionen sind Nettoeinkommen von 1000 € pro Monat bzw bei zwei Verdienern in der Familie von 2000 € inzwischen die Norm, womit sich praktisch keinerlei Rücklagen mehr bilden lassen für Notsituationen des Lebens wie Krankheit, ein defektes Auto oder den Verlust des Arbeitsplatzes – wobei es auch immer schwieriger wird, auf dem Land einen neuen Arbeitsplatz zu finden.

Diesen ausgegrenzten Teil schätzt Guilluy auf 60 bis 70% der französischen Bevölkerung, die Profiteure der globalisierten französischen Wirtschaft, die Staat und Wirtschaft fest kontrollieren, dagegen auf nur rund 20%. Somit muss die Mehrheit der Franzosen unter immer schwieriger werdenden Bedingungen leben. Sie bildet den Kern des Aufstands der „gelben Westen“. Die Einführung immer neuer Steuern und Abgaben und das Zurückfahren von Sozialleistungen und öffentlichen Dienstleistungen wie Nahverkehr trifft diese Bevölkerungsmehrheit hart. So ist es auch zu erklären, dass eine als besonders fortschrittlich angepriesene Umweltsteuer auf Diesel-PKWs zusammen mit der Einführung eines rigiden Tempolimits auf den Landstraßen Frankreichs den Aufstand auslöste.

Die durch die Globalisierung neu entstandene obere Mittelschicht der Metropolen wird in Frankreich übrigens „Bourgeois Bohemian“ oder kurz „Bobo“ genannt, was sich am besten als „Hipster“ ins Deutsche übersetzen lässt. Gemeint sind karriere- und modebewußte Mitglieder eines neuen wohlhabenden Stadtbürgertums, das sich als weltoffen, umweltbewusst und progressiv empfindet, aber jedes Gespür für die Nöte der Bevölkerungsmehrheit  verloren hat. Guilluy nennt die Gentrifizierung und den sozialen Kahlschlag in Frankreich mit Blick auf diese Bevölkerungsschicht auch gerne „Boboisierung“.

In den Metropolen bleiben die Bobos gerne unter sich. Öffentlichen Wohnungsbau gibt es nur noch für dienstbares Personal wie Lehrer, Beamte, Krankenhausärzte, die unentbehrliche Leistungen für die reichen Stadtbewohner erbringen. Darüber hinaus gibt es auch noch die Banlieues, die Slum-Gürtel um die großen Städte Frankreichs. Hier werden die Einwanderer aus Nord- und Zentralafrika angesiedelt. Deren Immigration – die französische Variante der „Willkommenskultur“ – wird laut Guilluy trotz gelegentlich gegenteiliger Rhetorik der Regierung stark gefördert, damit ein wachsender Billiglohnsektor für möglichst wenig Geld Dienstleistungen für die städtischen Mittel- und Oberschichten erbringen kann. So kommt, wie Guilluy anmerkt, der Pariser Bobo günstig an die afrikanische Nanny zur Betreuung der eigenen Kinder und kann für 15 Euro statt vielleicht ansonsten 30 Euro essen gehen, weil der afrikanische Koch lediglich den Mindestlohn oder noch weniger erhält.

Von großer Bedeutung ist auch, dass der ländlichen Bevölkerungsmehrheit Frankreichs mittlerweile der Zugang zu weiterführenden Bildungsangeboten und damit zu sozialem Aufstieg weitgehend versperrt ist, weil sich die guten Universitäten in den Metropolen befinden, wo sich die meisten Franzosen keinen Wohnraum mehr leisten können. Interessanterweise sind hier die Kinder aus den Unterschichten der Banlieues sogar im Vorteil, weil sie immerhin in der Nähe der weiterführenden Bildungseinrichtungen wohnen.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der sehr wichtig ist: Die ländliche Bevölkerungsmehrheit Frankreichs fand vor Beginn des Aufstands in den französischen Medien und der offiziellen französischen Kultur praktisch nicht mehr statt. Sie wurde einfach ausgeblendet. Frankreichs Medienschaffende und Intellektuelle interessieren sich nicht für die immer prekärer werdenden Lebensumstände außerhalb der großen Metropolen – auch dies ist ein Grund dafür, dass der Aufstand für die französischen Eliten so überraschend kam. Frankreichs Medien bemühen sich inzwischen  nach Kräften, die Aufständischen zu delegitimieren, indem sie sie in die Nähe des Faschismus rücken, sodass linksliberale und fortschrittliche Intellektuelle deren Bekämpfung mit Hilfe eines immer brutaler auftretenden Polizeiapparats fordern können.

Das Buch Guilluys legt den Schluss nahe, dass sich Frankreich in den kommenden Jahren nicht wieder beruhigen wird – selbst wenn es dem französischen Staat und der Oberschicht samt den verbündeten Bobos diesmal noch gelingen sollte, den Aufstand der gelben Westen niederzuschlagen. Die Globalisierung lässt sich nicht einfach stoppen und Frankreich wird sich ihr nicht entziehen können, die Oberschicht und die französischen Bobos  werden ihre Pfründe nicht  aufgeben wollen. Insofern wird sich die ökonomische Marginalisierung der Bevölkerungsmehrheit fortsetzen. Damit wird es unweigerlich immer mehr sozialen Sprengstoff in Frankreich geben, die zu einer Abfolge von Aufständen führt.

In Deutschland sieht sich die Mehrheit der Bevölkerung ebenfalls einer immer stärkeren ökonomischen Marginalisierung ausgesetzt. Allerdings sind die Gegensätze hierzulande derzeit noch weniger deutlich sichtbar, unter anderem, weil in Deutschland der Gegensatz zwischen gentrifizierten, wohlhabenden Metropolen und der Landbevölkerung in den Dörfern und kleineren Städten weniger ausgeprägt  ist. So sind Normalverdiener selbst aus Städten wie München und Frankfurt noch nicht vollständig verdrängt – auch wenn das nur eine Frage der Zeit ist. Außerdem ist die Zentralisierung der Arbeitsplätze und der attraktivsten weiterführenden Bildungsangeboten auf die Metropolregionen längst nicht so extrem wie im westlichen Nachbarland.

Die auch bei uns größer werdenden sozialen Gegensätze bilden bislang weniger öffentlich sichtbare Kristallisationspunkte – zumal die Medien genau wie in Frankreich nicht gerade daran interessiert sind, die wachsende Ungleichheit in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken. Die gelben Westen breiten sich zwar langsam über Europa aus, es wird aber wohl eine Weile dauern, bis sie auch bei uns ankommen.

[13.2.2019]

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