Hakon von Holst. Jeder vierte Schüler hat nach der Grundschule Probleme, einfache Texte zu verstehen. Den Kommunen fehlen 55 Milliarden für die Sanierung von Schulgebäuden. Kinder trinken weniger, um nicht auf versiffte Toiletten zu müssen. Lehrer leiden unter Depressionen. Die Ansprüche an das Abitur sinken. Immer mehr Unterricht wird von Lehrern ohne fachliche Qualifikation erteilt. Der Autor Tim Engartner nimmt den Leser mit auf eine Reise durch ein marodes Viertel mit endlosen Baustellen: die deutsche Bildungslandschaft vom Kindergarten bis zur Hochschule. Er führt durch elitäre Privatschulen, beleuchtet den interessengelenkten Versuch, die Digitalisierung des Schulbetriebs als Bildungswunder zu verkaufen, und beendet den Ausflug mit Ansätzen zu einer Bildungsreform.
Engartner richtet sein Buch an die Allgemeinheit. Er verzichtet deshalb auf Quellenangaben und vermeidet Fachbegriffe. Es gelingt ihm allerdings nicht, ganz in die Realität seiner Leser zu kommen. Immer wieder fehlen Details. Das erlaubt es stellenweise nicht, seine Aussagen nachzuvollziehen, geschweige denn zu überprüfen. So schreibt der Autor zum Beispiel, „die frühestmögliche Förderung von Kindern in Kitas“ sei wissenschaftlich unumstritten. Doch es mangelt an Klarheit, woran der Autor den Nutzen einer solchen Maßnahme gemessen hat und worin eine frühe Förderung überhaupt besteht. Niemand würde wohl bestreiten, dass die ersten Erfahrungen im Leben eines Kindes einen großen Unterschied bewirken. Die Institutionalisierung der frühen Kindheit und die Reduktion des freien Spiels sind aber durchaus umstritten.
Auf die Kinder blickt der Autor wie auf eine Gesellschaft im Kleinen. Er schaut nicht, wie das Individuum von seiner Natur her lernt und sich entfaltet, und wie man das im Bildungssystem am besten berücksichtigen könnte. Der Autor fragt, welche Schulpolitik auf die Gruppe angewendet guten Erfolg verspricht. Die Grundlage seiner Reformideen bildet das, was in Schulklassen bereits wissenschaftlich untersucht wurde.
Der Autor – der Rezensent
Professor Tim Engartner, Jahrgang 1976, ist Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler. Sein Leben verbrachte er im Wesentlichen an Schulen und Hochschulen. Engartner verteidigt die Institutionen, die ihn groß gemacht haben, und er will sie verbessern. Ich, der Rezensent, Jahrgang 1999, habe eine andere Geschichte. Aus den Bildungsinstitutionen bin ich früh ausgetreten. So früh, dass ich mit Behördenstress rechnen musste. Ich wusste eben, ich sitze im falschen Zug: Ich werde geprägt, einer zu sein wie jeder andere und das zu tun, was die Gesellschaft verlangt, auch wenn das Fortschreiten auf bekannten Bahnen die Menschheit immer näher an die Klippe bringt. Mir war klar, dass es keine Ausbildung zum Weltretter gibt, und ich entschloss mich, mir selbst anzueignen, was dazu zu lernen wäre.
Was möchte der Autor konkret? Die Schulen reich ausstatten, mit Theater, Schulbibliothek, Sporteinrichtung und Garten. Die weltbesten Schulen müssten den „Referenzpunkt bilden“. Die Trennung der Schüler nach vier Grundschuljahren käme zu früh. Der finnischen Einheitsschule steht Engartner grundsätzlich positiv gegenüber. Im Gegensatz zum hiesigen dreigliedrigen System mit Gymnasium, Haupt- und Realschule lassen sich dort Schüler mit schlechten Ergebnissen nicht einfach auf eine Schule mit niedrigeren Ansprüchen verweisen. Man muss sie individuell fördern und das kommt der Chancengleichheit zugute.
Entgegen dem Trend in Deutschland möchte Engartner Grundschüler vor digitalen Medien schützen. Es zeige sich ein negativer Einfluss auf Kinder jüngeren Alters. Der Autor warnt davor, Bildung nur an „ökonomisch nutzbaren Fachkompetenzen zu messen“, und unterstützt einen kostenlosen Zugang zu Kultureinrichtungen. Damit möchte er „interkulturelles Verständnis“ angesichts von Kriegen und Konflikten fördern. Bis hier klingt es ganz gut.
Kitazwang
Der Autor will flächendeckenden kostenlosen Zugang zu Ganztagsschulen und Ganztagskitas. An solchen Orten, wenn sie denn gut sind, sieht er Kinder tagsüber insgesamt am besten aufgehoben. Eher einseitig argumentiert er mit verheerenden Zuständen in manchen Elternhäusern. Das traurige Ausmaß stressbedingter Krankheiten bei Kindern bringt Engartner mit Mama und Papa in Verbindung, ohne das Wirken der Bildungsinstitutionen in diesem Zusammenhang zu beleuchten. Der umgekehrte Fall, dass man sich bei seinen Eltern in einem besseren Umfeld bewegt, ein glücklicher und intelligenter Mensch zu werden, spielt im Buch keine Rolle.
Die Tochter eines Arztes besucht mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls das Gymnasium, ganz im Gegensatz zum Sohn einer arbeitslosen Verkäuferin. Solche Unterschiede verringern sich offenbar, wenn ein Kind weniger im Einflussbereich des Elternhauses aufwächst. Ob es besser ist, Arzt oder Handwerker zu werden, und ob die in Schule und Kindergarten vermittelten Wichtigkeiten im Leben wohl die einzig wahren sind, damit setzt sich der Autor nicht auseinander. Und doch lobt er die Bildungsinstitutionen dafür, die sogenannten Chancenungleichheiten abzubauen.
Engartner fordert den verpflichtenden Kindergarten. Er weist darauf hin, dass Kinder zu selten „der deutschen Sprache ausgesetzt“ sein können. Zweifelsohne ist eine gemeinsame Sprache in einem Land eines der wesentlichen Mittel, zueinander zu finden und sich zu verstehen. Das reicht aber nicht aus, in die Freiheit aller Kinder einzugreifen. Einen Kompromiss braucht es dort, wo die Sprachfähigkeit tatsächlich auf der Strecke bleibt.
Kinder müssten rechtzeitig das „institutionelle Umfeld“ kennenlernen, findet der Autor. Jungen und Mädchen, die vor allem „eigenständig organisierte Zeit“ auf Spiel- und Bolzplätzen verbringen, würde der richtige Habitus für die Schule fehlen. In anderen Worten: Kinder sollen den Tag lang still sitzen können auf der Schulbank und damit zurechtkommen, dass ihnen jemand vorgibt, mit was sie sich zu beschäftigen haben. Engartner verteidigt den Tafelunterricht: Selbst organisiertes Lernen in der Schule erziehe nur zur Selbstbestimmung, nicht zur Selbständigkeit.
Weniger Individualität
Der Autor stört sich an einer Hyperindividualisierung der Gesellschaft. Welche Veränderung im Leben der Menschen damit gemeint sein soll, erschließt sich mir nicht. Ich sehe zwar: die Leute tragen verschiedene Kleidung und wählen aus Hunderten von Smartphone-Modellen. Auch beansprucht der Einzelne mehr Wohnraum als früher. Aber letztendlich schwimmen doch die meisten nach dem Strom. Sie folgen mit extrinsischer Motivation dem, was sie sozial und ökonomisch überleben lässt. Sie machen fremde Wichtigkeiten zu ihren eigenen und lassen sich instrumentalisieren, von ihrem Umfeld, von den Medien. Sie entscheiden oft zuerst, dass sie studieren wollen, bevor sie sich überlegen, was sie lernen möchten. Sie gehen in einen Beruf, ohne darüber nachgedacht zu haben, warum sie auf die Welt gekommen sind.
Die Hyperindividualisierung, die er diagnostiziert, will der Autor eindämmen. Man müsse Schule auch als „Anpassungsprozess an handlungsleitende Werte und Normen einer Gesellschaft“ verstehen. Der herrschende Geist führt den Menschen mal in Abgründe, mal in bessere Gefilde. Heute stehen wir vor unendlich vielen existenziellen Krisen und Problemen. Glaubt der Autor an die Werte und Normen einer Gesellschaft, die mit kurzsichtigen Lösungen die Not ständig verschlimmert? Die Kinder möchte er an diese Gesellschaft anpassen.
Wo entspringt der Geist, die Kreativität zu neuen Wegen, wenn Kinder in Betongebäuden sitzen und von Anfang an lernen, nach dem Takt der Eltern und der Lehrer zu tanzen und in logischer Fortsetzung der Konzerne, Medien und Politiker? Der Mensch lernt, nicht auf sein Herz zu hören. Der Autor schreibt selbst, dass Schule immer schon maßgeblich „von den dominierenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen abhängig“ war. Er erwähnt auch die Prägsamkeit der elterlichen Lebensweise, nicht aber die der öffentlichen Bildungsorte. Als Schüler erlebt man sich mehr als Objekt fremder Vorstellungen, denn als Mensch. Man spürt, dass man hier ist, um die Rolle der Erwachsenen zu übernehmen. Wie soll das ein Kind inspirieren? Wo das Herz nicht angesprochen ist, können die guten Samen im Menschen nicht aufkeimen. So wächst keine Generation heran mit der Fähigkeit, Feinde zu berühren und zu versöhnen.
Ökonomische Zwänge
Wer keinen Kontakt zu seinem innersten menschlichen Selbst hat, irrt durchs Leben und vermag es nicht, seinen Schatz zum Wohle von allen und allem in die Welt zu bringen. Das Bildungsziel, eigenständig immerzu begründete Entscheidungen zu treffen, wird verfehlt. Denn wer sich selbst nicht spürt, hat keinen Boden unter den Füßen, keine Kraft, einen Lebensweg eigenständig einzuschlagen und auch gegen den Strom zu schwimmen. Er wird seinen Verstand lediglich dazu benutzen, vorgegebene Wege rational zu beschreiten. Er wird das tun, wofür die Wirtschaft bezahlt.
Oft aus ökonomischen Gründen bringen Eltern ihren Nachwuchs schon als Säugling oder Kleinkind in betreute Einrichtungen, auch wenn die Tochter oder der Sohn darunter leidet. Der Autor möchte den Eltern entgegenkommen mit kostenlosen Betreuungsangeboten ab dem Krippenalter. Aus dem Buch ist aber nicht ersichtlich, dass die pädagogischen Institutionen auf lange Sicht dazu beitragen werden, die ökonomischen Zwänge zu beseitigen.
Viele Tätigkeiten in der modernen Welt erweisen sich letztlich als für das Überleben irrelevant oder abträglich. Um aus diesen System herauszukommen, müsste man ein Umfeld schaffen, das Menschen hervorbringt, die von ihrem von innen heraus motivierten eigenen Weg nicht mehr abzubringen sind und lieber Verzicht leben, als unnötig einer sinnlosen Tätigkeit nachzugehen. Das wären Menschen, die auch mit ihrem wenigen Geld lieber gute Arbeit unterstützen, als billige Angebote zu kaufen. Wenn dieser Menschenschlag vorherrscht, wird die Wirtschaft endlich beste Löhne bezahlen, um Menschen zumindest für ein paar Stunden als Arbeitskraft zu gewinnen. So werden auch die sozialen und ökonomischen Unterschiede in der Gesellschaft verschwinden.
Schlussgedanken
Engartner gibt interessante Einblicke in den Zustand unseres Bildungssystems. Nicht alles wurde in dieser Rezension behandelt: Engartner beleuchtet zum Beispiel den zunehmenden Einfluss der Konzerne auf Schulen und Universitäten. Was die Reformideen betrifft, bleiben allerdings viele Rahmenbedingungen außer Acht: Woher kommen etwa weise Lehrerpersönlichkeiten, die Kinder zu inspirieren vermögen? Mit Geld lassen sie sich nicht kaufen.
Man hat den Eindruck, dass der Autor ein zu technisches Bild vom Menschen besitzt und dessen Möglichkeiten bei weitem unterschätzt. Dem Staat traut er zu viel zu, und er vergisst die Bedeutung der Natur für Kinder, ihren Beitrag zur Entfaltung der Kreativität, zur psychischen und körperlichen Entwicklung. Leider begreift Engartner Schule nicht als Angebot, das sich daran messen muss, wie gern Kinder es nutzen. Die natürliche Auslese der Schulen ist besser als ein Staat, der für andere bestimmt, worauf es im Leben ankommt.
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„Raus aus der Bildungsfalle“ von Tim Engartner erschien am 23. September 2024 im Westend-Verlag. 240 Seiten. 25,00 Euro. ISBN: 978-3-86489-452-7.
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