Hans Eschbach. Ulrike Guérot und Hauke Ritz spüren den Wurzeln des Ukraine-Konfliktes nach. Die wirklichen Fronten verlaufen demnach anders, als sie derzeit im Mainstream der veröffentlichten Meinung dargestellt werden: Es geht hier primär nicht um eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Putin-Russland und der Ukraine, sondern um einen Kampf der USA gegen Russland, wozu sie Europa ins Schlepptau genommen haben. Die Folge: „Was wir derzeit erleben, ist nicht die Verteidigung, sondern die selbstvergessene Negation europäischer Werte!“
Die Autoren sind sich bewusst, in einer Zeit des verengten Meinungskorridors zu leben und wünschen sich daher für ihren Essay eine „aufgeschlossene und sachliche Diskussion“. Hinweise darauf, dass dies für die Hauptmedien im Deutschland von 2022 aufgrund einer „freiwilligen Gleichschaltung“ keine Selbstverständlichkeit mehr ist, blitzen im Buch immer wieder auf.
Hier liegen die Autoren zweifelsfrei richtig. Stimmen wie die von Klaus von Dohnanyi, der das westliche Vorpreschen in der Ukraine in seinem vor Kriegsausbruch erschienen Buch „Nationale Interessen“ in Frage stellt (S.98ff), oder von Julian Nida-Rümelin, der dem Westen im Deutschlandfunk vorwirft, Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine blockiert zu haben, finden kaum mal ihren Weg in die Mainstream-Medien.
Die geopolitischen Wege der USA und Westeuropas trennten sich nach Guérot und Ritz mit dem Zerfall des Sowjetreiches: Die Vereinigten Staaten „verstanden den Mauerfall und das Ende des Kalten Krieges nicht als eine Einigung Deutschlands und Europas, sondern als Sieg ihres Imperiums über den einzigen ebenbürtigen Konkurrenten, die Sowjetunion“.
Bei den Europäern stand nach 1989 der Einigungsgedanke im Vordergrund, gemeinsam mit dem Wunsch, die westeuropäische Friedensordnung auf den Osten auszudehnen. Sie gingen daran, ihre Union durch die Währungsunion und eine Verfassung zu vertiefen und auszubauen; die Beziehungen zu Russland gestalteten sich positiv, das Russlandgeschäft wuchs sprunghaft und ein Wladimir Putin wurde nach einer Rede im deutschen Bundestag stehend beklatscht. Während die Beliebtheitswerte der Russen in Westeuropa stiegen, sanken diejenigen der USA, die zudem 2003 den Irakkrieg vom Zaun brachen. Das konnte den USA nicht gefallen.
„Europa wieder an sich zu binden und eine politische Emanzipation Europas zu unterminieren wurde zur amerikanischen Strategie.“
So heißt es im Buch. In diesem Sinne kam es immer wieder zu Störmanövern der USA gegenüber Einigungsprojekten der EU. Nicht zuletzt gelang es ihnen, innerhalb Europas einen Ost-West-Gegensatz aufzubauen, der in der Frage der Beteiligung am Irakkrieg einen ersten, starken Ausdruck fand.
Streben nach globaler Vorherrschaft
Doch die Ziele der Nordamerikaner waren deutlich weiter gesteckt: Die „Neocons“, eine politische Richtung, die mit George W. Bush an die Macht kam, wollen die unipolare Welt, d.h. die globale Überlegenheit der USA. (Wie die Nachdenkseiten kürzlich veröffentlichten, intervenierten die USA laut einem Kongressbericht von März 2022 zwischen 1990 und 2022 ganze 251-mal militärisch in anderen Ländern, verdeckte Operationen nicht mit erfasst.)
Gestützt auf die geopolitischen Analysen von Zbigniew Brzeziński wollte Washington die Ukraine „zu einem militärischen Frontstaat gegen Russland umbauen, wie einschlägige Dokumente seit 2019 eindeutig belegen“. Für einen neuen kalten Krieg sollte der Eiserne Vorhang 1500 Kilometer nach Osten verschoben werden.
Um zum Ziel zu gelangen, wurden Annäherungsversuche des russischen Präsidenten Putin an den Westen ignoriert oder zurückgewiesen. Unter amerikanischer Regie fand schließlich der Maidan-Umsturz in der Ukraine statt, der eine proamerikanische Regierung ans Ruder brachte. Dies wurde damals auch noch von deutschen Medien so gesehen, 2014, „als der leitmediale Raum in Deutschland noch etwas kritischer war“, so die Autoren.
In diesem leitmedialen Raum hat sich nach Beobachtung von Guérot und Ritz etwa 2007 durch eine „auffallende Wendung“ eine Neubewertung Russlands vollzogen, die Stimmung kippte ins Negative. Auch hier vermuten die Autoren eine Auswirkung eines amerikanischen Informationskrieges gegen Russland, dessen Wirkung auf die öffentliche Meinung in der Welt sich denn auch Ex-US-Präsident Obama in einem späteren Interview rühmte.
Die Ukraine wurde unterdessen von den Amerikanern militärisch gestärkt, die Zusammenarbeit mit den USA, Großbritannien und Kanada sei intensiver gewesen als die Kooperation mit Nato-Partnern, berichten die Buchautoren und zählen dann die Fülle der Militärmanöver auf, die westliche Länder 2021 und 2022 gemeinsam mit Truppen der Ukraine veranstaltet hätten. Schließlich sei es auch 2022 zu einem Aufmarsch ukrainischer Streitkräfte gegenüber den mit russischer Hilfe abgespaltenen Gebieten gekommen – wovon die westlichen Medien nicht berichtet hätten, im Gegensatz zu den Meldungen über russische Truppenkonzentrationen in Grenzgebieten zur Ukraine.
Schließlich kam es zum russischen Einmarsch, der „gebetsmühlenartig“ in den Medien als „russischer Angriffskrieg“ bezeichnet werde, was in der Tat immer wieder auffällt. Guérot und Ritz betonen dabei, dass sie Putin und Russland nicht verteidigen, aber zeigen wollen, dass dieser Krieg nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern eine Vorgeschichte hat, in der die USA die maßgebliche Rolle spielen.
Zu dieser gehört aber nicht nur die Gewinnung der Ukraine als Frontstaat, sondern auch die Kappung der Verbindung zwischen Westeuropa und Russland. Auch hier verweist das Buch auf amerikanische Geostrategen, die insbesondere eine Kombination von Deutschland und Russland als potenzielle Bedrohung der Vormachtstellung der USA eingestuft haben.
Diese Gefahr dürfte nun, so darf man das Buch vielleicht ergänzen, auf viele Jahre gebannt sein: Russland ist als möglicher Partner auf lange Zeit hinaus „verbrannt“, nicht zuletzt auch durch die Art seiner Kriegführung. Zudem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Deutschland sei nicht gerade frei in seinen Entscheidungen. Da war zunächst das US-Veto gegen eine weitere Nordstreamleitung – so als sei es gewünscht, dass Deutschland die Ukraine mit seinen Transitgebühren für die Land-Gasleitung dauerhaft subventioniert, obwohl dieser Partner sich als nur bedingt vertrauenswürdig herausgestellt hat. Als Deutschland nach Kriegsausbruch mit Waffenlieferungen zögerte, veranstalteten die USA auf deutschem Boden in Ramstein eine internationale Konferenz, um die Unterstützung der Ukraine zu beschleunigen.
Der ukrainische Botschafter in Berlin befleißigte sich gegenüber seinem Gastland und seinem Regierungschef eines Tons, der ihm in einem souveränen Staat kurzfristig eine Heimfahrt beschert hätte. Die mögliche Aufnahme von Millionen Ukrainern ins deutsche Sozialsystem Hartz IV beziehungsweise das Bürgergeld schließlich bedeutet eine Selbstentäußerung an Ressourcen, die zusammen mit anderen Faktoren die soziale Stabilität beendet, was weltweit einmalig sein dürfte. In welchem Staat mit Eigenverantwortung wäre dies möglich? Die Sprengung von Nord Stream kam nach der Drucklegung des Buches, würde aber nahtlos ins Bild passen.
Deutschland soll wirtschaftlich geschädigt werden
Die Autoren gehen davon aus, die USA betrieben eine Politik des „restricted damage“ gegenüber Deutschland, das heißt „einer kontrollierten, aber bewussten wirtschaftlichen Schädigung, die vor allem die Kappung des deutschen Handelsüberschusses, der im Osten erwirtschaftet wird, zum Ziel hat“.
Die Öffentliche Meinung in Deutschland ist weit davon entfernt, solche Ideen zu untersuchen. Andererseits verblüfft es angesichts jüngster historischer Erfahrungen, dass heutzutage in den großen Medien nur ein bestimmtes „Narrativ“ über den Ukrainekrieg gilt: Der Überfall eines übermächtigen Gegners auf ein friedliches Nachbarland. Dabei springt einen der propagandistische Haut gout [strenge Geruch; N.H.] der Darstellung des Ukrainekrieges im Westen fast täglich an. Bemerkenswert ist auch, wie die Ukraine vom korrupten Oligarchenstaat zum Musterland mutiert ist, das westliche Werte verteidigt.
Erinnern könnte man sich dagegen etwa an den 2 Weltkrieg, wo es im Westen politisch korrekt war, Stalin zum gutmütigen „Uncle Joe“ umzuschreiben oder an die im Kuwaitkrieg angeblich von Irakern „aus Brutkästen gerissenen Säuglinge“ sowie die „Massenvernichtungswaffen“ Saddam Husseins. Ja, man könnte sogar bis zum Krimkrieg im 19. Jahrhundert zurückgehen, bei dem es England, Frankreich und Savoyen ebenfalls angeblich nur darum ging, einen russischen Überfall auf die türkische Flotte und die tyrannische Unterdrückung der Katholiken durch die Orthodoxen zu bekämpfen, mithin das Opfer eines Angriffs sowie hehre westliche Werte im Osten zu verteidigen. In Wirklichkeit sollte Russland der Weg zum Mittelmeer versperrt werden.
Hier liegt also nicht nur im propagandistischen Überbau eine Parallele, sondern auch in der Geopolitik: Nach dem us-gesponsorten Euro-Maidan, der zu einer prowestlichen Wende in der Ukraine führte, musste Russland fürchten, mit den Zugangsrechten zu Sewastopol seine Schwarzmeerpräsenz einzubüßen. Und dies vor dem Hintergrund, dass die USA bereits vorher begonnen hatten, den arabischen Frühling in Syrien zu unterstützen, was bei einem Regimewechsel zum Verlust des einzigen russischen Marinestützpunktes im Mittelmeer geführt hätte.
Ein Vorwurf, der dem Westen und auch von den Buchautoren gemacht wird, ist die Ausweitung der NATO nach Osten entgegen anderslautenden Versprechungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Diese Versprechen insbesondere des amerikanischen Außenministers Baker hat es gegeben und die Russen haben sich offensichtlich darauf verlassen. Da sie nur mündlich gegeben wurden, entfalteten sie aber keine völkerrechtliche Bindungskraft. Wolfgang Ischinger, Ex-Diplomat und Chef der Münchener Sicherheitskonferenz wird nicht müde festzuhalten, Russland habe bei den monatelangen Verhandlungen über die Nato-Russland-Grundakte nie behauptet, es sei eine Nichterweiterung der Nato versprochen worden. Russland hatte es offensichtlich versäumt, die westlichen Absichtserklärungen in Verträgen festzuhalten.
Doch noch einmal zurück zur westlichen Öffentlichkeit: Guérot und Ritz ziehen aus der Schieflage der medialen Berichterstattung den Schluss, „dass wir uns auch in den westlichen Demokratien nicht mehr in pluralen demokratischen Medienlandschaften befinden, sondern in einem von interessierter Seite gekauften Propagandakrieg, in dem mit lang erforschten CIA-Methoden und sogenanntem neurological warfare gearbeitet wird“. Und sie zählen Beispiele auf:
„Woke Redeverbote, Cancel Culture, Zensur, das Abschalten ausländischer Medienplattformen (etwa Russia Today), Sperrungen von Bankkonten kritischer Medien oder die Löschung kritischer YouTube-Kanäle, digitale und biometrische Überwachung, soziales Nudging, Propagandagesteuerte Leitmedien, emotionale Kriegsführung gegen die eigene Bevölkerung, Delegitimierung von Protest, Einstieg in den Staatsjournalismus über staatlich geförderte ,Medienprojekte‘: Das alles ist längst mitten in Europa Usus.“
Eine Vorbildfunktion als tadellose Demokratie könne die EU so nicht mehr für sich in Anspruch nehmen. Dabei hatten die EU und ihrer Vorläufer doch immer den Anspruch, Leuchttürme der Freiheit und der Demokratie zu sein. Das Buch zeigt, wie der hoffnungsvolle neue Anlauf zu einem umfassenden Projekt für ganz Europa teils an amerikanischen Störmanövern, vor allem aber auch an eigener Unzulänglichkeit gescheitert ist. Genannt werden u.a. die Einführung des Euro in einem suboptimalen Währungsraum, der gescheiterte Verfassungsansatz, Rivalitäten, der Brexit und nicht zuletzt deutscher Egoismus, der sich spätestens unter Angela Merkel in Dominanz und Alleingängen ausprägte. Als Resultat befindet sich die EU in einem beklagenswerten Zustand, in dem sie ihre Selbstständigkeit an die USA verloren hat – „erst geistig und kulturell, dann faktisch, also politisch, geostrategisch und ökonomisch“.
Wie aber kommt Europa aus diesem beklagenswerten Zustand wieder heraus? Den Autoren zufolge durch (noch) „mehr Europa“.
Eine föderale Europäische Republik als Lösung
In der Vergangenheit seien immer wieder Möglichkeiten zur Vertiefung der Union nicht genutzt worden, etwa die Einführung einer Sozialunion. Beim Euro habe man sich zum Missvergnügen der anderen Länder auf die deutschen Vorstellungen zur Währungsstabilität eingelassen und Deutschland habe mit Dumpinglöhnen seine Handelsschüsse im Binnenmarkt ausgedehnt, statt sie „in einen europäischen Zusammenhang (zu) stellen“, womit wohl an eine Vergemeinschaftung gedacht wird.
An anderer Stelle werden diese Handelsüberschüsse wiederum der uneuropäischen wirtschaftlichen Ausrichtung Deutschlands auf China und die Brics-Staaten zurückgeführt. Dann wird dem Deutschland unter Merkel einerseits vorgeworfen, stark dominierend aufgetreten zu sein, andererseits war es aber wohl zu wenig, denn in der Finanzkrise hätte Deutschland die Fiskalunion u.a. mit Eurobonds umsetzen können und wohl auch sollen. Der Widerstand dagegen sei in Deutschland aber „mit Schaum vor dem Mund“ vorgetragen worden: „Keine Transferunion!“
Wie eine solche Union gemeinschaftlicher Haftung für individuelle Verschuldung zu Beginn des Jahrhunderts in nationalstaatlichen Strukturen hätte funktionieren sollen, bleibt im Buch offen. Aber bei ihren Vorschlägen, wohin sich Europa künftig orientieren soll, um nicht „lateinamerikanisiert“ als Außenposten der USA in Eurasien zu enden, entwickeln Guérot und Ritz ein Konzept, wie der alte Kontinent zur „europäischen Souveränität“ gelangen könnte.
Die Lösung bestünde in dezentralen, föderalen Strukturen, die in einer Europäischen Republik zusammengeschlossen wären. Diese „wäre kein (zentralisierter) Superstaat, kein Agent der Globalisierung, sondern lediglich ein funktionierender, souveräner Staat mit wirtschaftspolitischem Gestaltungsspielraum, in dem gesamteuropäische, parlamentarische Mehrheiten entscheiden, die nicht durch nationalstaatliche Blockaden hintertrieben werden“.
Die Staatlichkeit würde dann also europäisch, die Nationen blieben bestehen, müssten es sich aber gefallen lassen, nicht primär als identitärer, sondern als einheitlicher sozialer Raum definiert zu werden. Dieses Europa müsste geopolitisch neutral sein, also nicht der NATO angehören, um eine Kooperation mit Russland zu ermöglichen. Man ahnt, dass dies ein sehr weiter Weg ist, zumal auch hier die USA kaum tatenlos zusehen würden.
Jetzt aber, so die Autoren, wäre die Gelegenheit, über einen solchen Weg nachzudenken, indem die Ukrainekrise zu „einer wahren europäischen Katharsis“ genutzt würde, um zu sich selbst zu finden. Wenn diese Chance genutzt werden soll, dann dürften jetzt aber „keine unumkehrbaren Weichenstellungen – Abtrennung von Russland und China, Vergrößerung der Abhängigkeit von den USA – vorgenommen werden, die dem europäischen Kontinent fundamental und dauerhaft schaden und die es auf Jahrzehnte von seinen eigentlichen Zielen, nämlich einer politischen Union und einer kontinentalen Friedensordnung, entfernt“. Wer weiß, vielleicht findet in solchen Gedanken das für viele unverständliche Zögern von Olaf Scholz gegenüber einer Vorreiterrolle bei Waffenlieferungen an die Ukraine und nicht zuletzt auch seine von der atlantischen Strömung kritisierten China-Reise ihre Erklärung?
Dass es auch ganz anders kommen kann, als einen neuen Anlauf zu einer europäischen Friedensordnung zu nehmen, haben Guérot und Ritz durchaus im Blick: Amerika plant den Krieg auf europäischem Boden, „Annalena Baerbock freut sich darüber, dass deutsche Kinder beim Frühstück über die NATO reden“ und überhaupt gelte Kämpfen wieder als chic: „Die Psychodynamik der Kriegshetzer erinnert an 1914.“