Der seit ein paar Jahren in Berlin lebende, gebürtige Südafrikaner Brett Scott hat in Cambridge Anthropologie und Internationale Beziehungen studiert und dann in London als Broker gearbeitet. Seit seinem Ausstieg aus dieser Szene arbeitet er als Aktivist mit Gruppen, die das Finanzsystem reformieren wollen, und als Experte für Internationale und universitäre Organisationen, die es verbessern oder besser nutzen wollen. Diese Vielfalt der Perspektiven, Erfahrungen und Kontakte machen sich in seinem Buch ausgesprochen wohltuend bemerkbar.
Ich hatte „Cloud Money“ mit dem Vorsatz aufgeschlagen, genug davon zu überfliegen, dass ich eine Rezension schreiben kann. Als jemand, der schon zwei Bücher über die Bargeldabschaffung und die Schöne neue Welt des digitalen Geldes geschrieben hat, versprach ich mir wenig Erkenntnisgewinn. Doch stattdessen habe ich das Buch von vorne bis hinten mit Begeisterung gelesen.
Ich erfuhr zwar wenig, was ich nicht schon wusste. Aber Scott verbindet und interpretiert diese Informationen auf eine Weise, die mich ein erheblich klareres Gesamtbild sehen lässt als ich es vorher hatte. Für komplizierte abstrakte Sachverhalte findet er passende bildhafte Vergleiche. Statt des irreführenden Bildes vom Blutkreislauf für das (internationale) Geldsystem, nutzt er das Bild vom Nervensystem, über das Impulse überallhin gesendet werden können, um Menschen als Teile eines globalen Wirtschaftsorganismus in Aktion zu versetzen.
Dieses Bild funktioniert überraschend gut, sodass es einen durch große Teile des Buches begleitet und dabei immer weiter ausdifferenziert wird. Dabei ist Bargeld ein perpipheres Nervensystem, das über Geldautomaten mit dem zentralen verbunden aber sonst eigenständig ist und nicht von den beiden (Gehirn-)Hemisphären aus IT- und Finanzkonzernen kontrolliert werden kann, die allmählich zu einer einzigen Steuerzentrale verschmelzen. Es steht dem starken Automatisierungsdrang der Konzerne entgegen, die alle Kontaktpunkte mit realen Menschen standardisieren und mechanisieren wollen, sodass sie keine (potentiell unzuverlässigen) Mitarbeiter mehr brauchen und sich nicht umfassender mit der Vielfalt menschlicher Wünsche und Sorgen auseinandersetzen müssen, als sie das durch Programmierung von Algorithmen bewältigen können.
Das Nebeneinader von staatlichem (Bar-)Geld und darauf aufsetzendem privatem Bankengeld erklärt er mit dem Bild eines räuberischen Riesen auf dem Berg, der mithilfe eines Gutscheinsystems seine Raubzüge automatisiert. Das Bild trägt nicht so weit wie das Nervensystem, aber es funktioniert, und wo es aufhört zu passen, macht Scott das gut sichtbar und wandelt es ab.
Kryptogeld kann er so gut als Geld dritter Ordnung, oder auch drittklassiges Geld, beschreiben. Als ein Gutschein auf das private Geld der Banken, die wiederum ein Gutschein auf das staatliche Bargeld darstellen. Dabei macht er allerdings deutlich, dass Bitcoin kein Kryptogeld ist, sondern nur kryptografische Zahlen, die keinen Anspruch auf nichts verbriefen. Sie sind ein Sammlerobjekt, das man relativ gut gegen andere Waren eintauschen kann, weil sein Preis laufend an Börsen festgestellt wird. Kryptogeld sind nur Abwandlungen von Bitcoin, wie Stablecoins, die versprechen, durch Horte von Bankengeld gedeckt zu sein. Stablecoins sind allerdings wiederum vieles nicht, was Bitcoin ausmacht. So gibt es zum Beispiel keine Obergrenze für ihr Volumen.
Auch die Bilder vom digitalen Geld als Big Brother, Big Bouncer und Big Butler sind sehr nett, auch wenn diese Zwischenüberschrift besonders deutlich macht, dass der Übersetzer, zur Bewahrung der Eleganz des englischen Originaltextes, ein bisschen zu viele englische Ausdrücke unübersetzt gelassen hat. Wo Erläuterungen dringend nötig sind, hat er diese aber eingefügt.
Big Brother kennt man als den Überwachungsstaat, hier abgewandelt als Überwachungskoalition aus Staat und Konzernen. Big Bouncer ist der automatisierte Türsteher, der in Sekundenschnelle und ohne Widerspruchsmöglichkeit entscheidet, wer rein darf und wer nicht – oder, in der fortgeschrittenen Variante: wer wo reindarf, also mit wem man welche Geschäfte zu welchen Konditionen machen will. Big Butler ist ein System, das uns mit vermeintlich auf unsere Bedürfnisse maßgeschneiderten Produkten erfreut und uns gleichzeitig unmündig macht und manipuliert.
Abschließend will ich ein paar Leseproben aus dem hinteren, resümierenden Teil des Buches anbieten. Über die öffentlich-privaten Partnerschaften von Staat und Konzernen schreibt Scott:
„Aber auch wenn Großkonzerne ihre Staaten einspannen, um international zu expandieren, können sie deren Solidarität auch verlieren. So sehen wir ein komplexes Gefüge von Spannungen, die zwischen älteren Leviathanen und neueren „Techno-Leviathanen“ entstehen. Max Weber verwendete für Erstere den Ausdruck „eiserner Käfig“ der Bürokratie, womit er auf die alten Regierungsgebäude mit ihren trostlosen Büros und die Industrieunternehmen mit ihren Gebirgen aus Aktenschränken anspielte. Die Leviathane des 21. Jahrhunderts wollen die Stäbe des Eisenkäfigs jedoch in ein transnationales digitales Netz verwandeln. Dies erleben wir gegenwärtig in der schleichenden Ausbreitung des automatisierten Überwachungskapitalismus, der – je nachdem, wo er sich schleichend ausbreitet – verschiedene Namen bekommt: In Städten wird er „Smart Cities“ genannt, in unseren Wohnungen und Häusern „Smart Homes“, in unseren Körpern „Self-Tracking (Selbstvermessung) und in Entwicklungsländern „digitale Inklusion.“
Hier das Resümee des langen Krypto-Kapitels:
„Stablecoins und CBDC (digitales Zentralbankgeld) verursachen zweifellos oberflächliche Turbulenzen im Geldsystem, aber trotz aller Unterschiede ist all diesen digitalen Optionen ein Merkmal gemein: Sie können sogar über Big-Tech-Plattformen ausgegeben und verteilt werden. Die nonkonformistischste Form des Geldes in der Welt mag dann zugleich die schlichteste und altmodischste sein. Bargeld. Es bleibt ein Störfaktor im System, es steht der Verschmelzung von Finanzdienstleistungs- und Technologiesektor im Weg, und genau deshalb ist es eine unserer letzten Hoffnungen.“
Und abschließend noch ein Beispiel, wie die Metapher vom Nervensystem als Ausgangspunkt für abstrakte Überlegungen genutzt wird:
„In unserer Metapher vom Nervensystem können wir uns vorstellen, wie sich Geldsysteme ausbreiten, um weit voneinander entfernte Menschen miteinander zu verbinden. (…) Aber die riesigen Marktsysteme, die von Geldsystemen freigesetzt werden, können auch zu einer Loslösung von den Gemeinschaften und natürlichen Lebensräumen führen, die ihnen zugrunde liegen, und gefühllos und invasiv werden. (…) Wir sind blindlings in Systeme hineingestolpert, die unsere kurzfristigen Wünsche zulasten unserer längerfristigen Bedürfnisse ausnutzen. Statt sich nach und nach Richtung Utopia zu bewegen, konzentrieren große Märkte Produktion und Konsum in Konglomeraten reinen Profitstrebens, wie es am deutlichsten von transnationalen Konzernen verkörpert wird. Unsere Systeme laufen mit uns davon, wie eine Zentrifuge, die sich immer schneller dreht.“
Jenseits der richtigen und erwartbaren Aufrufe zum Bargeld hat Brett Scott auch noch eine inspierierende Empfehlung für Geld- und Gesellschaftsreformer auf Lager, auch wenn das nur kurz angerissen wird: Die Nutzung der Blockchain-Technologie dafür, das uralte System des informellen, zeitversetzten Gebens und Nehmens auf Vertrauensbasis unter Freunden oder Clan-Mitgliedern für die moderne Zeit und die Massengesellschaft zu revitalisieren: in Form von Rippling Credit oder Kettenkredit (aber nicht die Abzockmasche, die auch so genannt wird).
Dabei geben sich Menschen (oder Organisationen), die sich kennen und vertrauen, gegenseitig Kreditlinien, die mithilfe der Blockchain-Technologie zu einem Netz verknüpft werden. Wenn das so funktioniert wie beabsichtigt, kann das gleichzeitig als ein lokales Zahlungssystem Gemeinschaften näher zusammenbringen und diese als globales System mit der weiteren Welt verbinden. Das Whitepaper von Trustlines, einer der genannten Initiativen, habe ich ich mir angeschaut. Wirklich spannend.