Etwas wie „Das große Schachbrett“ oder „Das Schachbrett Eurasien“ hätte ich als Titel besser gefunden, aber darauf kommt es ja nicht an. Der Untertitel erklärt, worum es geht: „Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien“. Brzeziński war Wahlkampf-Berater von Lyndon B. Johnson und Sicherheitsberater von Jimmy Carter, Professor für US-Außenpolitik an der Johns Hopkins University, Berater am „Zentrum für Strategische und Internationale Studien“ (CSIS) und Unternehmensberater. Er starb 2017.
Eurasien
Das „Schachbrett“ aus dem englischen Titel des Buches, auf dem sich der Kampf um die globale Vorherrschaft abspiele, ist Eurasien. Die Strategie: „keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und dadurch für Amerika eine Bedrohung darstellen könnte.“ Die Bedeutung Eurasiens und warum die Dominanz, die die USA über Eurasien erreicht haben, so wichtig ist, erklärt Brzeziński so:
„Amerikas geopolitischer Hauptgewinn ist Eurasien. (…) Der Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann.(…) Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in seinem Boden wie auch seinen Unternehmen steckt der größte Teil des materiellen Reichtums der Welt. Eurasien stellt 60 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts und ungefähr drei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen.“
Für Brzeziński – und man darf annehmen, auch wenn das nicht unumstritten ist – für die Führung der USA – ist Europa „Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent“. Europa sei für die USA von enormem geostrategischen Interesse, denn das Atlantische Bündnis verankere den politischen Einfluss und die militärische Macht Amerikas unmittelbar auf dem eurasischen Festland:
„Ohne diese engen transatlantischen Bindungen ist Amerikas Vormachtstellung in Eurasien schnell dahin. Seine Kontrolle über den Atlantischen Ozean und die Fähigkeit, Einfluss und Macht tiefer in den euroasiatischen Raum hinein geltend zu machen, wären dann äußerst begrenzt.(…) Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern.“
Europäische Einigung
Brzeziński diagnostiziert ein zwiespältiges Verhältnis der USA zu einem geeinten und starken Europa. Einerseits hätten die USA immer ihr aufrichtiges Interesse an einem vereinten Europa in gleichberechtigter Partnerschaft mit den USA beschworen. In der Praxis hätten sich die Vereinigten Staaten aber oft nicht so verhalten als wünschten sie sich wirklich ein starkes Europa, das als ein gleichberechtigter Partner im Weltgeschehen auftritt. Sie hätten vielmehr eine Vorliebe für das bestehende ungleiche Bündnis erkennen lassen. So seien die Meinungsverschiedenheiten über die Haltung gegenüber Iran und Irak von Washington nicht als eine strittige Angelegenheit zwischen gleichgestellten Partnern aufgefasst worden, sondern als ein Fall von Insubordination (Ungehorsam, mangelnde Unterordnung).
Er spricht sich für eine wirkliche Entscheidung für ein vereintes Europa aus, weist aber darauf hin, dass diese eine weitreichende Neuordnung der NATO erzwingen würde, welche unweigerlich die Vormachtstellung der USA innerhalb des Bündnisses schwächen würde. Seine Skepsis, ob Washington dazu bereit wäre, hat sich meiner Wahrnehmung nach seither bestätigt.
Die strategische Aufgabe der US-Führung in Sachen europäische Einigung beschreibt Brzeziński so:
„Für die USA lautet die zentrale Frage: Wie baut man ein auf der deutsch-französischen Partnerschaft basierendes, lebensfähiges Europa, das mit Amerika verbunden bleibt und den Geltungsbereich des demokratischen Systems internationaler Zusammenarbeit erweitert, auf das ihre wirkungsvolle Wahrnehmung seiner globalen Vorrangstellung so sehr angewiesen ist?“
Als größte Gefahr für die Vorherrschaft der USA in Euroasien und damit in der Welt bezeichnet Brzeziński die „nicht völlig auszuschließende Möglichkeit einer großen europäischen Neuorientierung, die entweder eine deutsch-russische Absprache oder eine französisch-russische Entente zur Folge hätte.“ Für beide gebe es in der Geschichte eindeutige Präzedenzfälle. Für ihn ist die europäische Einigung die beste Versicherung dagegen, dass dieser schlimmste Fall für die USA eintritt. Denn zu einer deutsch-russischen oder französisch-russischen Allianz könne es kommen, „wenn die europäische Einigung ins Stocken geriete und sich die Beziehungen zwischen Europa und Amerika ernsthaft verschlechtern sollten.“ In diesem Fall könne man sich eine europäisch-russische Übereinkunft vorstellen, die Amerika vom Kontinent ausschlösse. Oder etwas ausführlicher:
„Es bedarf weder der Beschwörung alter Ängste vor einem Sonderabkommen zwischen Deutschland und Russland, noch muss man die Folgen eines taktischen Flirts der Franzosen mit den Russen übertreiben, um im Falle eines Scheiterns der immer noch andauernden Bemühungen um die europäische Einigung die geopolitische Stabilität Europas – und Amerikas Platz darin – gefährdet zu sehen. Ein solches Scheitern würde voraussichtlich die Neuauflage einiger recht traditioneller europäischer Winkelzüge nach sich ziehen. Russland oder Deutschland fänden dann gewiss Anlässe, ihrem geopolitischen Geltungsdrang freien Lauf zu lassen. (…) Gegenwärtig sind die Interessen Deutschlands mit denen von EU und NATO deckungsgleich und sogar innerlich geläutert. Selbst die Sprecher des linksgerichteten Bündnis 90/Die Grünen haben eine Erweiterung von NATO und EU befürwortet. Doch sollte der Einigungs- und Erweiterungsprozess zum Stillstand kommen, spricht einiges dafür, dass die deutsche Vorstellung von einer europäischen Ordnung nationalistischere Züge annehmen würde, zum potenziellen Nachteil der Stabilität in Europa. (…) Europa verlöre dann seine Funktion als eurasischer Brückenkopf für amerikanische Macht und als mögliches Sprungbrett für eine Ausdehnung des demokratischen Globalsystems in den eurasischen Kontinent hinein. Deswegen müssen die USA weiterhin tatkräftig und ohne Wenn und Aber für die europäische Einigung eintreten.“
Es sei zwar denkbar, dass eine geeinte und mächtige Europäische Union irgendwann einmal der politische Nebenbuhler und auf wirtschaftlich-technischem Gebiet ein schwieriger Konkurrent der Vereinigten Staaten werden könnte. Doch mit einem so mächtigen und politisch zielstrebigen Europa sei in absehbarer Zukunft nicht zu rechnen. Mit der Finanzkrise von 2007/08, die von den USA ausging, aber Europa viel nachhaltiger traf, mit der Energiewende und der Sprengung der Nordstream-Pipelines sowie der Europa von den USA aufgedrängten, selbstschädigenden Sanktionspolitik wurde – absichtlich oder unabsichtlich – erreicht, dass Europa auch weiterhin kein so wirtschaftsstarker und mächtiger Block wird, dass er der US-Vorherrschaft gefährlich werden könnte.
EU- und Nato-Osterweiterung
Weder Frankreich noch Deutschland seien stark genug, um Europa nach eigenen Vorstellungen zu bauen oder mit Russland die strittigen Probleme zu lösen, die eine Festlegung der geographischen Reichweite Europas und des Status der Ukraine aufwerfe. Dafür sei vielmehr ein energisches, konzentriertes und entschlossenes Einwirken Amerikas nötig, besonders auf die Deutschen.
EU-Osterweiterung und Nato-Osterweiterung sind für Brzeziński (und Washington) fast dasselbe. Darin liegt ein großer Teil der strategischen Bedeutung der EU für die USA:
„Beim derzeitigen Stand der amerikanisch-europäischen Beziehungen, da die verbündeten europäischen Nationen immer noch stark auf den Sicherheitsschild der USA angewiesen sind, erweitert sich mit jeder Ausdehnung des europäischen Geltungsbereichs automatisch auch die direkte Einflusssphäre der Vereinigten Staaten. (…) Der entscheidende Punkt bei der NATO-Erweiterung ist, dass es sich um einen ganz und gar mit der Ausdehnung Europas selbst verbundenen Prozess handelt.“
Amerika müsse deshalb in seinem Eintreten für eine Osterweiterung Europas besonders eng mit Deutschland zusammenarbeiten. Denn, wenn die Vereinigten Staaten und Deutschland gemeinsam die anderen NATO-Verbündeten zur Zustimmung drängten, dann stehe der Erweiterung nichts im Wege.
Was Russland dazu sagt, dürfe letztlich nicht entscheidend sein. Sollte Russland nicht einverstanden sein, müsse man „die Entscheidung in der richtigen Überzeugung treffen, dass die Gestaltung Europas nicht den Einwänden Moskaus untergeordnet werden kann“, denn:
„Sollte die von den Vereinigten Staaten in die Wege geleitete NATO-Erweiterung ins Stocken geraten, wäre das das Ende einer umfassenden amerikanischen Politik für ganz Eurasien. Ein solches Scheitern würde die amerikanische Führungsrolle diskreditieren, es würde den Plan eines expandierenden Europas zunichtemachen, die Mitteleuropäer demoralisieren und möglicherweise die gegenwärtig schlummernden oder verkümmernden geopolitischen Gelüste Russlands in Mitteleuropa neu entzünden. (…) Entscheidend für eine fortschreitende Ausdehnung Europas muss die Aussage sein, dass keine Macht außerhalb des bestehenden transatlantischen Systems ein Vetorecht gegen die Teilnahme eines geeigneten europäischen Staates im europäischen System – und mithin in dessen transatlantischem Sicherheitssystem – hat und dass kein europäischer Staat, der die Voraussetzungen mitbringt, a priori von einer eventuellen Mitgliedschaft in EU oder NATO ausgeschlossen werden darf.“
Ukraine und Russland
Die Ukraine ist der strategisch wichtigste Staat in Osteuropa, schreibt Brzeziński, weil er so wichtig für Russland ist:
„Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. (…) Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.“
Weshalb die USA auch kein Interesse daran hätten, dass Russland sich wirtschaftlich und politisch so positiv entwickelt, dass es ein demokratisches, eng an Europa angebundenes Land wird:
„Es ist leicht, auf die Frage nach Russlands Zukunft mit der Beteuerung zu antworten, dass man ein demokratisches, eng an Europa gebundenes Russland bevorzuge. (…) Russlands innenpolitische Erholung ist die wesentliche Voraussetzung für seine Demokratisierung und letztlich für seine Europäisierung. Aber jede Erholung seines imperialen Potenzials wäre beiden Zielen abträglich.“
Ausblick
Eine Warnung Brzeziński wirkt fast prophetisch. Sie zeigt, was schief gehen kann für eine alleinige Weltmacht, die alles unternimmt, um diesen Status zu behalten:
„Das gefährlichste Szenario wäre möglicherweise eine große Koalition zwischen China, Russland und vielleicht dem Iran, ein nicht durch Ideologie, sondern durch die tiefsitzende Unzufriedenheit aller Beteiligten geeintes antihegemoniales Bündnis.“
Genau das zeichnet sich heute ab. Dadurch, dass die USA Russland von Europa fernhielten bzw. wegtrieben, wurde es praktisch in die Arme Chinas getrieben, in die es eigentlich nicht wollte, weil China klar der stärkere in dieser Partnerschaft ist. Da China der Hauptkonkurrent der USA um die Vorherrschaft in Eurasien geworden ist, besiegelt die sich entwickelnde russisch-chinesische Partnerschaft vollends das Ende der Position der USA als einzige Weltmacht. Aber vielleicht hat Washington das schon lange als unvermeidlich einkalkuliert und es geht nur noch darum, den neuen eisernen Vorhang zwischen Ost und West so weit östlich in Eurasien niedergehen zu lassen wie möglich.