Ein deutscher EZB-Manager zeigt: Geldpolitik stand schon immer im Dienste der Staatsfinanzierung

17. 05. 2020 | In einem Buch zur Geschichte des Zentralbankwesens zeigt Ulrich Bindseil, Generaldirektor für Zahlungsverkehr der Europäischen Zentralbank (EZB), dass Zentralbanken viel älter sind als die angelsächsisch dominierte Wirtschaftsgeschichtsschreibung zugibt, und dass Zentralbanken schon immer der Staatsfinanzierung dienten. Schon Machiavelli und Ricardo vertraten dazu konträre Positionen.

Die Bank von England (BoE) hat im April entschieden, ganz direkt der Regierung Geld zu geben, um Maßnahmen zur Bewältigung der Coronakrise zu finanzieren. Die Notenbank der USA (Fed) wiederum kauft neuerdings Staatsanleihen von Bundesstaaten und Kommunen auf, um diesen bei der Finanzierung zu helfen. Und die Europäische Zentralbank (EZB) hat beim Aufkauf von Anleihen der Mitgliedstaaten alle Bremsen gelockert, die bisher dafür sorgen sollten, dass es nicht zur „monetären Staatsfinanzierung durch die Hintertür“ kommt.

Jede dieser Maßnahmen wirkt wie ein Tabubruch mit Blick auf die jüngere Geschichte der Geldpolitik. Die Bundesbank stand der monetären Staatsfinanzierung, auch Staatsfinanzierung mit der Notenpresse genannt, immer sehr kritisch gegenüber. Bei der EZB, deren Statuten sich in dieser Frage stark an denen der Bundesbank orientieren, ist es genauso.

Ausgerechnet ein deutscher Generaldirektor der EZB hat Ende letzten Jahres allerdings ein Buch zur Geschichte des Zentralbankwesens veröffentlicht, in dem er die monetäre Staatsfinanzierung als den historischen Normalfall beschreibt und im Prinzip als eine gute Sache einstuft. Generaldirektor ist die höchste Karrierestufe in der EZB, direkt unterhalb dem politisch besetzten Direktorium.

Es fing Jahrhunderte vor der Bank von England an

Für die vorherrschende angelsächsische Geschichtsschreibung beginnt die Geschichte der Zentralbanken mit der Gründung der Bank von England 1694 und der etwas früher gegründeten und ebenfalls noch existierenden Schwedischen Reichsbank.

Dem setzt Ulrich Bindseil, EZB-Generaldirektor für Zahlungsverkehr, eine kontinentaleuropäische Geschichte des Zentralbankwesens entgegen – eine Geschichte, die fast drei Jahrhunderte weiter zurückreicht. „Zentralbanken vor 1800: Eine Rehabilitierung“ lautet, ins Deutsche übersetzt, der programmatische Titel seines Buches.

Machiavelli, Montesquieu, Mirabeau, Ricardo und Hamilton haben sich schon an Diskussionen um das Verhältnis von Regierungen und Zentralbanken beteiligt: Wie unabhängig muss eine Zentralbank sein? Gehört der Geldschöpfungsgewinn dem Staat oder Privaten? Sollte die Zentralbank dem Staat Kredit geben? Schon im 15. Jahrhundert wurden diese Fragen gestellt.

Als Beispiele früher Zentralbanken, die Jahrhunderte lang erfolgreich arbeiteten, nennt Bindseil die Hamburger Bank, gegründet 1619, die das Ziel der „Beförderung der Commerzien und Handlung“ hatte, die Bank von Amsterdam von 1609, die Bank von Rialto in Venedig von 1587, und die Casa di San Giorgio in Genua, die von 1404 bis 1815 im Geschäft war. Den Titel der ersten Zentralbank gibt er der Taula de Canvi, die 1401 in Barcelona gegründet wurde, um die Finanzen der Stadt zu verwalten und ihre Kreditkosten zu senken, sowie Einlagen zu verwalten, die als Zahlungsmittel dienten.

Staatsfinanzierung war üblich

Das strikte Verbot der Staatsfinanzierung durch die Notenbank, wie es auf deutsches Drängen in den Maastrichter Vertrag zur Währungsunion aufgenommen wurde, stellt in historischer Sicht einen Extremfall dar. Die meisten der vor 1800 operierenden Zentralbanken hätten ausdrücklich auch das Ziel in ihren Statuten gehabt, die Finanzierung der Staatsaufgaben zu erleichtern, berichtet Bindseil.

Auch bei der Gründung der Bank von England wurde diese Funktion von den Befürwortern herausgestellt. Ebenso betonte Alexander Hamilton, der zu den entschiedenen Verfechtern einer von der Regierung unabhängigen Zentralbank gehörte, die finanziellen Vorteile für die Regierung, wenn es eine Zentralbank gäbe, die ihre Anleihen kaufen und ihr im Notfall auch darüber hinaus aushelfen könnte.

„Die langlebigsten Zentralbanken schienen diejenigen gewesen zu sein, die der Gesellschaft den Vorteil des Zentralbankkredits nicht verwehrten, und denen gleichzeitig institutionelle Arrangements Unabhängigkeit von der Regierung garantierten“, schlussfolgert Bindseil und fügt hinzu: „Alles in allem legt die historische Evidenz den Schluss nahe, dass man Monetisierung von Staatsschulden nicht unbedingt als von Übel betrachten muss.“

Denn das habe den Regierungen erlaubt, ihre Mittelaufnahme zu diversifizieren und zu verbilligen, Ausgaben über die Zeit zu strecken und in kritischen Situationen weniger auf einen in Krisen sehr teuren privaten Kapitalmarkt angewiesen zu sein.

„Die langlebigsten Zentralbanken schienen diejenigen gewesen zu sein, die der Gesellschaft den Vorteil des Zentralbankkredits nicht verwehrten.

Aus diesem Grund kauft die EZB derzeit massenhaft italienische Staatsanleihen auf. Andernfalls könnte der besonders von der Coronakrise gebeutelte Staat seine Anleihen nur noch zu sehr hohen Renditen loswerden.

Der traditionelle Einwand gegen solche Maßnahmen ist, dass die Gefahr des Missbrauchs durch die Regierung groß sei. Bindseil entgegnet darauf, dass man nicht von vorneherein einen Missbrauch unterstellen dürfe, wenn sowohl eine konstruktive als auch eine schädliche Nutzung dieser Flexibilität der Finanzierung möglich sind.

Er nennt Beispiele von Zentralbanken, die Staatsfinanzierung betrieben und sehr lange erfolgreich arbeiteten, darunter nicht zuletzt die Bank von England, aber auch Gegenbeispiele, wo die Regierung für unproduktive Zwecke zu viel Kredit der Zentralbank in Anspruch nahm. Dazu gehört schon die Taula de Canvi in Barcelona von 1401. Deren Möglichkeiten, Kredit an die Stadt zu vergeben, wurden aus diesem Grund schon ab 1412 drastisch eingeschränkt.

Die Welt hat sich geändert, die Dogmen nicht

Bindseil betont zwei Unterschiede der ersten 500 Jahre Zentralbankgeschichte zu den letzten 50 bis 100 Jahren: Bis vor 50 Jahren galt fast immer ein Edelmetallstandard. Das heißt, die von den Zentralbanken herausgegebenen Währungen trugen das Versprechen, dass man sie zu einem bestimmten Kurs in Gold oder Silber umtauschen konnte.

Das hatte zur Folge, dass die Zentralbanken sehr viel stärker als heute darauf achten mussten, flüssig zu bleiben. Wenn die offiziellen Goldreserven nicht groß genug waren, war es sehr riskant, zusätzliches Geld in Umlauf zu bringen. Diese Begrenzung gibt es heute nicht mehr.

Der andere große Unterschied ist der Absolutismus, der in den ersten Jahrhunderten des Zentralbankwesens vorherrschte. Ein Monarch kann sich nicht glaubwürdig verpflichten, den Wert der Währung zu bewahren und nicht etwa der Zentralbank ihr Gold wegzunehmen, wenn er es dringend braucht, etwa um Krieg zu führen.

Staat im Staate: Zentralbank nach Machiavellis Geschmack

In einer Demokratie mit funktionierender Gewaltenteilung ist es dagegen sehr viel leichter, dafür zu sorgen, dass im Verhältnis von Zentralbank und Regierung Transparenz herrscht und Rechenschaftspflicht gewahrt wird. In Monarchien wurden die Zentralbanken deswegen mitunter zu einem „Staat im Staate“ gemacht, wie Machiavelli es mit Blick auf die Casa in Genua bewundernd ausdrückte.

Der Trick bestand darin, einer Gruppe von reichen und mächtigen Bürgern die staatliche Lizenz zum Betrieb einer Zentralbank zu geben. Hätte der Monarch mit diesen Bürgern einen Kampf um das Gold der Bank begonnen, hätte er dabei zumindest viel Vertrauen verloren. Die Casa in Genua wurde zu einem Vorbild für die Bank von England.

Schon zu Zeiten des Absolutismus hatte auch die Gegenposition illustre Namen aufzubieten. So lehnte der Politiker und Schriftsteller Marquis de Mirabeau Zentralbanken in Privatbesitz ab. Denn nicht nur der Staat, auch private Besitzer einer Zentralbank hätten Interessenkonflikte.

Der berühmte Ökonom David Ricardo trat entschieden dafür ein, dass der Staat und nicht private Zentralbankeigner den Gewinn aus der Geldschöpfung bekommen sollte. Er schlug vor, die Geschäfte der Zentralbank in die Hände von Gouverneuren zu legen, die nur durch eine Mehrheit in einem oder beiden Häusern des Parlaments von ihrem Amt enthoben werden könnten.

Ganz anders dagegen der Bankier und Politiker Alexander Hamilton, der als Finanzminister die Bank of the United States, den Vor-Vorgänger der Fed, vorantrieb. Er vertrat entschieden die Ansicht, das Geldschöpfungsmonopol sei, selbst in einer Demokratie, bei privaten Bankiers am besten aufgehoben.

Zwar liegt heute das Monopol der Banknotenausgabe bei staatlichen Zentralbanken. Dennoch ist die Situation eher derjenigen zur Gründungszeit der Bank von England vergleichbar, was die Zuteilung des Geldschöpfungsgewinns angeht. Denn damals gab es kaum privates Bankwesen im heutigen Sinne. Die Zentralbank war „Die Bank“. So heißt die Bank von England im Volksmund bis heute.

Der Begriff Zentralbank oder Notenbank entstand erst, als es nötig wurde, sie von privaten Geschäftsbanken abzugrenzen. Heute dagegen werden 90 Prozent des umlaufenden Geldes von privaten Geschäftsbanken in Form von Bankeinlagen, sogenanntem Giralgeld, auf eigene Rechnung geschaffen, wenn auch unter Aufsicht der Zentralbank. Die Bankiers haben das Zentralbankwesen zumindest formell dem Staat überlassen, aber erst, nachdem der größte Teil des Bankwesens und der Geldschöpfung herausgelöst und privatisiert war.

Ulrich Bindseil: Central banking before 1800: A rehabilitation.“ Oxford University Press. 336 Seiten. 79 Euro.

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