Die gesetzliche Rente deckt in Deutschland nur noch knapp die Hälfte des Einkommensniveaus ab, das während der beruflich aktiven Zeit zur Verfügung steht. Wer kein Vermögen aufgebaut oder eine private Rentenversicherung abgeschlossen hat, der muss sich im Alter erheblich einschränken.
Verbraucherberatungen und Finanzberater empfehlen nach einer verbreiteten Faustregel, vom laufenden Einkommen so viel beiseitezulegen, dass man im Alter auf 80 Prozent seines vorherigen Bruttoeinkommens kommt, abzüglich Vorsorge. Dann, so die Annahme, kann man sein Konsumniveau etwa halten.
Das setzt allerdings sehr hohe Vorsorgeaufwendungen voraus. Das Prognos-Institut hat errechnet, dass ein Arbeitnehmer des Geburtsjahrgangs 1990 zusätzlich zur gesetzlichen Rente 8,3 Prozent des Einkommens für private Vorsorge aufwenden müsste, nur um im Ruhestand auf 55 Prozent des alten Nettoeinkommens zu kommen. Die Verbraucherzentralen Bayern und Baden-Württemberg haben für die „Wirtschaftswoche“ ausgerechnet, dass ein 30-jähriger Mindestlohnbezieher bis zur Rente über ein Viertel seines Nettoeinkommens zurücklegen müsste, um bis zum Alter von 90 Jahren denselben (bescheidenen) Lebensstandard „genießen“ zu können. Bei einem Durchschnittseinkommen wäre etwas weniger als ein Viertel zurückzulegen.
Wenig überraschend finden alle Untersuchungen zum Vorsorgeverhalten, dass das nicht annähernd geschieht und sehr viele Menschen abseits der gesetzlichen Rentenbeiträge gar nicht finanziell vorsorgen. In den USA sieht das ähnlich aus. Ein Ökonomen-Team hat sich dort der Frage gewidmet, ob es wirklich vernünftig ist, für ein Altenteil ohne finanzielle Einschränkungen ein Viertel des laufenden Einkommens zurückzulegen.
Man könnte argumentieren, neben der Rente gibt es immer noch den Familienverband zur Absicherung des Lebensstandards im Alter. Man zieht Kinder groß, sorgt dafür, dass sie etwas Anständiges lernen, hilft finanziell, wenn sie eine Familie gründen und knapp bei Kasse sind, und verlässt sich auf sie, wenn man länger lebt, als die Ersparnisse reichen.
Sparen mit unsicherem Nutzen
Diese Option kommt im Aufsatz „Can Low Retirement Savings Be Rationalized?“ von Jason Scott, John Shoven, Sita Slavov und John Watson nicht vor. Sie bleiben bei der unter Ökonomen üblichen, streng individuellen Sichtweise. Trotzdem kommen sie zu dem Ergebnis, dass eine geringe Altersvorsorge für die meisten Menschen rational ist.
Der Hauptgrund liegt darin, dass die meisten Menschen sich in Anbetracht einer unsicheren Zukunft lieber später einschränken als heute. Sie ziehen aus heutigem Konsum einen höheren Nutzen als aus unsicherem künftigem. Im Fachjargon heißt das, sie haben eine positive Zeitpräferenzrate. Wenn es einen positiven Zins gibt, gleicht dieser zumindest der Richtung nach die Gegenwartsvorliebe aus.
Mit dem Geld, was man heute zurücklegte, kann man sich dann später mehr leisten als heute. Nur wenn Gegenwartsvorliebe und Zins gleich hoch sind, betonen die Wissenschaftler, ist ein stabiles Konsumniveau optimal.
Aber typischerweise ist der um die Inflation bereinigte Zins, den man für seine Ersparnisse bekommt, deutlich niedriger als die Zeitpräferenzrate der meisten Menschen. Viele Studien haben auf Basis von Befragungen oder der Analyse tatsächlicher Entscheidungen typische Zeitpräferenzraten von mehr als 20 Prozent ermittelt.
In einem Beispiel bekamen US-Militärs die Wahl zwischen einer einmaligen Abfindung und einer lebenslangen Rente. Letztere war bis zu einer individuellen Zeitpräferenzrate (Gegenwartsvorliebe) von 16 Prozent günstiger. Trotzdem wählten 90 Prozent der einfachen Soldaten und die Mehrheit der Offiziere die Sofortzahlung.
Mit anderen Worten: Es entspricht den Vorlieben der meisten Menschen überhaupt nicht, sich heute einzuschränken, um sich in einer fernen Zukunft nicht einschränken zu müssen.
Bei der hohen Zeitpräferenzrate spielt die Unsicherheit der Zukunft eine große Rolle. Wenn man sich sein Leben lang einschränkt und für den Ruhestand spart, um dann im Alter von 68 Jahren überraschend an einem Herzinfarkt zu sterben, ist die Vorsorge vergebens. Das gilt vor allem für Geringverdiener, die statistisch erwiesen eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als Gutverdiener.
Sparen, bis Hartz IV kommt
Für Geringverdiener kommt noch hinzu, dass sie mit einer Sparquote, wie sie nötig wäre, um das Konsumniveau im Alter nicht absinken zu lassen, leicht unter das Sozialhilfeniveau rutschen. „Für viele oder gar die meisten Menschen in der unteren Hälfte der Verteilung der Lebenseinkommen ist es optimal, ihr Vermögen lange vor dem Tod aufzubrauchen und sich für die Zeit danach auf die Sozialhilfe zu verlassen“, schreiben die Autoren. Für ausgeprägte Geringverdiener sei eine Sparquote von null optimal.
Für Frauen mit mittlerem Lebenseinkommen kommen die Autoren selbst bei sehr vorsichtigen Annahmen hinsichtlich der Zeitpräferenzrate zu dem Ergebnis, dass das optimale Konsumniveau mit 67 Jahren ein Drittel unter dem mit 55 Jahren liegt. Die Rente in den USA ersetzt Frauen mit gut 43 Prozent etwas weniger vom früheren Gehalt als bisher in Deutschland. Für Männer, die durchschnittlich früher sterben, ist der Unterschied noch ausgeprägter. Sie legen im Modellkalkül der Autoren noch weniger für das Alter zurück.
Krankheit im Alter ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor, der in dieser Rechnung noch gar nicht enthalten ist. Wird jemand pflegebedürftig, so wird er mit geringem oder durchschnittlichem Lebenseinkommen ohnehin auf Kostenübernahme durch den Staat angewiesen sein, der sich etwaige Ersparnisse oder Zusatzrenten als Kostenbeteiligung wiederholen würde. Außerdem gehen Umfragen zufolge viele Menschen davon aus, dass sie in jungen Jahren mehr Nutzen aus zusätzlichem Geld ziehen können.
Ein Argument für die gesetzliche Rente
Die Rechnung, die die Autoren aufmachen, ist allein das Kalkül für ein Individuum. Es fällt nicht mit dem gesellschaftlichen Kalkül zusammen. Das wird am deutlichsten, wo man sich für seinen Unterhalt im Alter auf Sozialhilfe verlässt.
Wird das individuelle Kalkül von Geringverdienern, das gegen eine freiwillige Vorsorge spricht, bei der Gestaltung des Vorsorgesystems berücksichtigt, spricht das für höhere Pflichtbeiträge und eine höhere Rente, zulasten der freiwilligen Zusatzvorsorge. Denn bei richtiger Rechnung ist die Sozialhilfe für Rentner, die man bei einer höheren gesetzlichen Rente spart, von den Kosten abzuziehen.
Das individuelle Kalkül steht auch in Konflikt mit dem mutmaßlichen Wunsch der Gesellschaft, dass ihre Mitglieder nicht in materieller Not leben sollen. Will die Gesellschaft deshalb dieses Kalkül nicht akzeptieren und als zu kurzsichtig außer Kraft setzen, spricht das für eine Stärkung der gesetzlichen Rente.