Kapitalismus für Anfänger und Ökonomen

2. 03. 2020 | Der Produktionsanstieg hat sich stark abgeflacht, die Aktienkurse sind umso stärker gestiegen. Der scheinbare Widerspruch hat eine einfache Erklärung. Mit Umverteilung von unten nach oben lässt sich mehr Geld verdienen als durch Produktion nützlicher Güter. …

Das geflügelte Wort „Weniger ist mehr“ gilt offenbar auch für Unternehmen, die ihren Aktionären eine Freude machen wollen oder müssen. Wenn sie weniger zusätzlich produzieren, steigt der Wert ihrer Aktien schneller, als wenn sie die Produktion kräftig ausweiten. Das jedenfalls ist das eindrucksvolle Ergebnis einer Studie von drei Ökonomen der US-Eliteuniversitäten MIT, New York und Berkeley. Daniel Greenwald, Martin Lettau und Sydney Ludvigson haben in dem Aufsatz „How the Wealth Was Won“ untersucht, welche Faktoren in den beiden Perioden 1952 bis 1988 und 1989 bis 2017 den Börsenwert amerikanischer Aktiengesellschaften nach oben getrieben haben.

Ihr Ergebnis zeigt einen bemerkenswerten Wandel und weckt Zweifel an der gängigen Theorie, wonach der Wert von Unternehmen dann steigt, wenn sie besonders viel von dem produzieren, was die Nachfrager haben wollen. In der früheren Periode waren die Produktionssteigerungen hoch und der Anstieg der Aktienwerte gering. In der zweiten Periode wurde die Produktion viel weniger ausgeweitet, aber die Börsenwerte der Unternehmen schossen nach oben.

In Zahlen ausgedrückt heißt das: In den 29 Jahren von 1959 bis Ende 1988 stieg die Wertschöpfung aller US-Unternehmen außerhalb des Finanzgewerbes inflationsbereinigt um 4,5 Prozent pro Jahr, in den folgenden 29 Jahren nur noch um 2,5 Prozent. Der Börsenwert all dieser Unternehmen stieg jedoch in der aktuelleren Periode mit 8,4 Prozent pro Jahr fast doppelt so stark wie in der früheren mit 4,5 Prozent.

Die drei Ökonomen machten sich mit einem statistischen Modell daran, zu identifizieren, was für diese unterschiedliche Kursentwicklung verantwortlich war. Sie stellten fest, dass die Wertsteigerungen der Unternehmen bis 1988 zu 92 Prozent mit einer steigenden Wertschöpfung der Unternehmen korrelierten. In den letzten knapp drei Jahrzehnten dagegen ging – im statistischen Sinne – nur noch ein Viertel des zusätzlichen Unternehmenswertes auf eine höhere Wertschöpfung zurück. Mehr als die Hälfte des Wertzuwachses wurde durch Umverteilung ökonomischer „Renten“ herbeigeführt.

Ökonomische Renten sind Einkünfte aus Umverteilung ohne produktiven Effekt. Eine Rente ist zum Beispiel die Spanne zwischen dem, was ein Produkt den Konsumenten Wert ist und was die Herstellung das Unternehmen kostet. Diese Rente wird irgendwie zwischen Produzent und Konsument geteilt. Ähnliches gibt es zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Auf gut Deutsch heißt der Befund also: Die Konsumenten mussten höhere Margen der Unternehmen finanzieren, die Arbeitnehmer bekamen einen geringeren Anteil an der Wertschöpfung ihrer Unternehmen.

Jeweils elf weitere Prozent der Wertsteigerung gingen auf zwei weitere Faktoren zurück. Da waren zum einen die niedrigeren Zinsen, die den Gegenwartswert erwarteter zukünftiger Gewinne erhöhen, und zum anderen eine gesunkene „Risikoprämie“ von Aktien, umgangssprachlich auch als größerer Hype bekannt.

Gerade der letzte Faktor dürfte seinen Anteil am gegenwärtigen Kursrutsch an den Aktienmärkten haben. Denn die hohen Wertsteigerungen bei gleichzeitig schwacher Wirtschaftsentwicklung haben die Relationen von Börsenwert und verschiedenen realwirtschaftlichen Kenngrößen auf historisch sehr hohe Werte anschwellen lassen. So war die Relation von Börsenwert zu Wertschöpfung der Unternehmen zuletzt sogar noch etwas höher als kurz vor dem Platzen der New-Economy-Aktienblase im Jahr 2000. Auch das Verhältnis von Börsenwert und Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist nahe dem damaligen Höchstwert. Ein Zwischenhoch bei diesen Relationen gab es 2007, kurz bevor die Subprime-Blase platzte.

Kursteigerungen, die so nicht weitergehen können, müssen irgendwann rückgängig gemacht werden. Irgendein Anlass findet sich immer irgendwann. Diesmal ist es wohl die Corona-Epidemie.

Große Konzerne als Treiber

Die Ergebnisse von Greenwald, Lettau und Ludvigson passen zu einer jüngeren wissenschaftlichen Literatur, die einen starken Anstieg der Gewinnmargen großer Kapitalgesellschaften vor allem in den USA, aber auch in Europa, dokumentiert. Der Kontrast von kräftigem Gewinnanstieg und schwacher Wirtschaftsentwicklung kann erklären helfen, warum die Unternehmen trotz der hohen Gewinne und niedrigen Zinsen wenig investieren. Schon seit den frühen Neunzigerjahren gibt es in allen großen Industrieländern die Entwicklung, dass die Gewinne der Unternehmen stark steigen und diese ihre höheren Einnahmen zum großen Teil im Unternehmen behalten.

Die Weltbank Ökonominnen Mai Chi Dao und Chiara Maggi haben mit dem Aufsatz „The Rise in Corporate Saving and Cash Holding in Advanced Economies“ gezeigt, dass Treiber dieser für die Lehrbuchökonomie rätselhaften Entwicklung vor allem die größten Konzerne sind. Deren Gewinne seien unter anderem wegen sinkender Steuerlast, sinkenden Zinsausgaben und einer sinkenden Lohnquote gestiegen.

Da die Kapitaleinkommen viel stärker konzentriert sind als die Arbeitseinkommen, und die Sparquote der Reichen hoch ist, sei nicht erstaunlich, dass die Nachfrage der Haushalte eher lahmte. Bei geringer Nachfrage sind typischerweise auch die Investitionen gering.

Ein illustres Forscherteam, darunter David Autor, John Van Reenen und Lawrence Katz, hat kräftige Indizien für die These vorgelegt, dass die zunehmende Marktmacht von einigen wenigen „Superstarunternehmen“, vor allem in den USA, zu steigenden monopolistischen Gewinnen führt und im Gegenzug den Anteil der Arbeitnehmer an der Wertschöpfung drückt.

Im Aufsatz „The Fall of the Labor Share and the Rise of Superstar Firms„, der demnächst im renommierten „Quarterly Journal of Economics“ erscheint, zeigen sie, dass wenige große Unternehmen mit hohen Gewinnquoten immer größere Marktanteile auf sich vereinen. Sie verdrängen andere Unternehmen, in denen den Beschäftigten ein höherer Anteil an der Wertschöpfung zufließt. Je stärker in einer Branche die Konzentration der Marktanteile zunimmt, desto stärker geht die Lohnquote zurück, weisen sie nach.

Die Digitalisierung kann das recht gut erklären, denn sie macht es leichter, eine globale Marktdominanz zu erreichen. Hinzu kommt, dass die Vorteile der Massenproduktion in der digitalen Wirtschaft besonders groß sind. Einem weiteren Kunden ein bereits entwickeltes Programm zu verkaufen bedeutet kaum zusätzliche Kosten.

Arbeitnehmer wurden abgekoppelt

Traditionell haben Branchen und Unternehmen mit hohen Gewinnen je Arbeitnehmer auch besonders hohe Löhne bezahlt. Das wirkte früher dem Absinken der Lohnquote in solchen Branchen und Unternehmen entgegen. Weil die Unternehmen aber zunehmend die arbeitsintensiven Tätigkeiten an Zulieferer im billigen Ausland auslagerten, Zeitarbeitsfirmen nutzten oder Werkverträge mit Selbstständigen abschlössen, schafften sie es, den früher üblichen Lohnauftrieb auf eine relativ kleine Kernbelegschaft zu begrenzen.

Wenn die großen Kapitalgesellschaften tatsächlich zunehmend ihren Unternehmenswert durch monopolistische Angebotszurückhaltung und andere Formen der Umverteilung mehren, stehen ihre hohen Bewertungen am Aktienmarkt auf tönernen Füßen. Denn Umverteilung von unten nach oben, und damit auch das so getriebene Gewinnwachstum, stoßen früher oder später an Grenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz. Nicht von ungefähr müssen sich die großen Konzerne der US-Digitalwirtschaft in jüngster Zeit ungewohnt heftiger Angriffe von Politik und Justiz erwehren.

100 Jahre alte Erkenntnisse

Neu sind die oben genannten Erkenntnisse zur Funktionsweise des Kapitalismus nicht. Neu ist allerdings, dass sie in den Elfenbeintürmen der Eliteuniversitäten angekommen sind und von deren mutigeren Insassen relativ schonungslos aufgeschrieben werden.

Wer das etwas systematischer lesen und verstehen will, dem sei das Buch „Capital as Power“ von Jonathan Nitzan und Shimshon Bichler aus dem Jahr 2009 zur Lektüre empfohlen, das im Internet auf ihren Seiten kostenlos herunterzuladen ist. Darin enthalten sind unter anderem Grafiken, die den jetzt auch von MIT und Co. gefundenen umgekehrten Zusammenhang von Produktivitätssteigerung und Aktienkursentwicklung belegen. Die für mich wichtigste Erkenntnis des Buches ist: Kapital ist kein Produktionsfaktor, wie die vorherrschende ökonomische Theorie behauptet, sondern ein Produktionsbegrenzungsfaktor.

Kapitaleigner sind für das Erzielen der angestrebten Rendite darauf angewiesen und streben mithilfe ihrer angestellten und entsprechend incentivierten Manager danach, die Ingenieure und Arbeiter daran zu hindern, so viel zu produzieren, wie sie könnten, damit die Preise und Gewinne hoch genug bleiben.

Erfunden haben Bichler und Nitzan diese Erkenntnisse auch nicht, nur systematisiert. Sie berufen und stützen sich stark auf den genialen Soziologen und Ökonomen Thorstein Veblen, der vor einem Jahrhundert wirkte.

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