Felix Holtermann. Kanzlerkandidat Scholz wird sich im Untersuchungsausschuss erklären müssen. Der SPD-Politiker führt das Bundesfinanzministerium, dem unter anderem die Bafin untersteht. Er und sein Haus hätten also qua Amtes einen besonders kritischen Blick auf Wirecard werfen müssen. Hätten.
Tatsächlich stellt sich für viele Beobachter immer drängender die Frage, wann Scholz von den Problemen bei Wirecard wusste – und warum der Vizekanzler nicht früher eingeschritten ist. Das Bundesfinanzministerium hat mitgeteilt, dass sich Scholz im Februar 2019 erstmals über die Vorwürfe gegen Wirecard informieren ließ: Im Raum standen die Themen Bilanzfälschung, Geldwäsche, Marktmanipulation. »Der Bundesminister der Finanzen wurde am 19. Februar 2019 über das Wirecard-Leerverkaufsverbot und darüber unterrichtet, dass die Bafin in alle Richtungen wegen Marktmanipulation ermittelt«, erklärte sein Ministerium. Die Finanzaufsicht teilte demnach mit, sie ermittle auch gegen Wirecard-Mitarbeiter.
Die Bafin handelte in der Folge tatsächlich, so stellte sie die Wirecard Bank unter Geldwäsche-Intensivbetreuung und beauftragte die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) mit einer Sonderuntersuchung der Wirecard-Bilanzen. Öffentlich bekannt wurde das freilich nicht. Dafür machten andere Bafin-Entscheidungen Schlagzeilen, etwa das fatale Vorgehen gegen die Journalisten der Financial Times in Form der personalisierten Strafanzeige und das bis dato einzigartige Leerverkaufsverbot.
Eine Cum-Ex-Juristin als Bankaufseherin
Viele Maßnahmen wurden von Bafin-Direktorin Elisabeth Roegele vorangetrieben. Diese ist keine Unbekannte im politischen Berlin: Roegele gilt seit Jahren als skandalträchtig. Vor ihrer Tätigkeit als Bafin-Direktorin war sie Chefjuristin der DekaBank, als diese Gewinne aus Cum-Ex-Geschäften einklagen wollte, also Gelder aus unrechtmäßigen Steuertricksereien mit dubiosen Aktiengeschäften. Es ist nicht bekannt, dass Scholz dem Handeln Roegeles etwas entgegengesetzt hätte. Stattdessen stieg sie unter seiner Ägide noch im August 2018 zur Bafin-Vizepräsidentin auf.
Die guten Drähte von Wirecard reichten nicht nur ins Kanzleramt: Guttenberg traf sich nicht nur mit Merkel zum Kaffee – auch im Finanzministerium wurde er vorstellig. Auf Anfrage des Spiegel erklärte das Ministerium, dass Staatssekretär Wolfgang Schmidt im Juni 2019 »seinen chinesischen Counterpart, Vizeminister Liao Min im Ministry of Finance, über das Interesse von Wirecard am Markteintritt informiert« habe. Wie Schmidt dem Untersuchungsausschuss im Dezember mitteilte, war dem ein Anruf eines Beraters von Guttenbergs Firma Spitzberg Partners vorausgegangen. Dieser hatte Schmidt darum gebeten, Wirecards China-Expansion zu unterstützen – und einen entsprechenden englischsprachigen Werbebrief für die chinesische Seite formuliert. Schmidt schickte ihn nur minimal abgeändert nach Peking.
Scholz‘ Staatssekretäre ließen sich einspannen
Schmidt ist ein einflussreicher Strippenzieher der SPD und gilt als Scholz-Vertrauter, er fädelte unter anderem dessen Kanzlerkandidatur mit ein. Das Ministerium tat folglich alles, um den Vorgang vom Minister fernzuhalten. Mit Scholz sei die Intervention in Peking nicht abgesprochen gewesen, hieß es aus dem BMF. Eigene Nachforschungen zum chinesischen Übernahmekandidaten habe das Ministerium nicht betrieben.
Klar ist: Der Wirecard-Crash setzt die Bundesregierung zunehmend unter Druck und ganz besonders das Finanzministerium. Hier gilt nicht nur Schmidt als wichtiger Strippenzieher, sondern auch Staatssekretär Jörg Kukies. Der Ex-Chef des Deutschlandablegers der US-Großbank Goldman Sachs sollte bei seiner Berufung 2018 dem Juristen Scholz den dringend benötigten Finanzsachverstand liefern. Tatsächlich verrannte sich Scholz unter Kukies’ Ägide in der Folge in die Unterstützung der gescheiterten Megafusion von Deutscher Bank und Commerzbank. Auch im Fall Wirecard warf Kukies’ Agieren viele Fragen auf.
Wie das Bundesfinanzministerium erst verheimlichte, dann schließlich auf Twitter einräumen musste, war Kukies vorab über das Leerverkaufsverbot informiert. Er schritt nicht ein. »Das Leerverkaufsverbot war offenkundig rechtswidrig«, kritisiert Danyal Bayaz von den Grünen. »Die Rechts- und Fachaufsicht des Bundesfinanzministeriums über die Bafin hätte bei diesem außergewöhnlichen Vorgang genauer hinsehen und eingreifen können und müssen.«
Doch statt die Aufklärung zu unterstützen, sei Scholz’ Haus mehr damit beschäftigt, diesen eklatanten Fehler zu kaschieren, so Bayaz. Sein Kollege im Wirecard-Untersuchungsausschuss, Matthias Hauer (CDU), kritisiert: »Die wohlwollende Begleitung von Wirecard vor der Pleite ist gerade auch mit Scholz-Staatssekretär Kukies eng verbunden.«
Fakt ist: Scholz’ Vertrauter hätte in Aschheim selbst nachfragen können, was an den schweren Vorwürfen gegen den Konzern dran ist. Kukies hatte im Herbst 2019 zweimal mit Wirecard-Ex-Chef Braun gesprochen. Den Inhalt der Gespräche hatte das Ministerium mit Berufung auf »Geheimschutzinteressen« lange verschwiegen. Beim ersten Mal saßen Kukies und Braun auf einem Podium und tauschten im Anschluss nur Höflichkeiten aus. Beim zweiten Mal, dem 5. November 2019, besuchte Kukies Braun in der Konzernzentrale in Aschheim – ausgerechnet an Brauns 50. Geburtstag.
»Das Gespräch betraf eine Vielzahl von Themen und auch die Unternehmensgruppe Wirecard. Gegenstand des Gesprächs waren auch der Marktmanipulationsverdacht sowie die begonnene KPMG-Sonderprüfung«, heißt es im Sachstandsbericht. Zu der »Vielzahl von Themen« sollen die Zukunftsvisionen, die Braun schon seit Jahren interessierten, gehört haben: etwa die Themen Cloud, Kryptowährungen, Zukunft der Zahlungsabwicklung, der Einfluss neuer Wettbewerber aus dem Technologiebereich sowie die Start-up-Kultur in Deutschland.
Über Wirecards internationale Expansion, etwa nach China, oder eine Unterstützung der Bundesregierung für den Konzern, soll nicht gesprochen worden sein, heißt es bis heute aus dem Bundesfinanzministerium. Von Brauns 50. Geburtstag habe Kukies nichts gewusst, Notizen seien beim Gespräch nicht gemacht worden.
Viele politische Beobachter wollen diese Darstellung nicht glauben. Und selbst wenn sie der Wahrheit entspricht: Unverständlich erscheint, dass der Finanzprofi Kukies das Gespräch mit Braun trotz der gravierenden Vorwürfe nicht entweder abgesagt oder zu einer peinlichen Befragung des Wirecard-Chefs genutzt hat.
Sogar Rettung mit Staatsgeld wurde erwogen
Kurz vor Schluss lief Scholz’ Team dann zur Hochform auf, um Wirecard zur Seite zu springen. Noch am 23. Juni rief Kukies den Chef der KfW-Tochter Ipex an, die 90 Prozent ihres 100-Millionen-Euro-Kredits an Wirecard in der zwei Tage später folgenden Insolvenz verlieren sollte. Der Chef der Staatsbank-Tochter, Klaus Michalak, erkannte sofort die Brisanz des Telefonats, wie der Spiegel berichtete.
Man habe ihn bereits »vorgewarnt«, schrieb Michalak in einer E-Mail an seine Chefs in der KfW-Spitze um Günther Bräuning: Bundesfinanz- und Bundeswirtschaftsministerium sollten darüber nachdenken, »für Wirecard eine ›deutsche Lösung‹« zu finden. Offensichtlich wollte die Bundesregierung dem Konzern neue Kredite zuleiten und eine Übernahme durch ausländische Konkurrenten verhindern – und das einen Tag, nachdem Wirecard mitgeteilt hatte, dass die fehlenden 1,9 Milliarden Euro in der Konzernbilanz höchstwahrscheinlich nie existiert hatten, ebenso wenig wie große Teile des Drittpartnergeschäfts.
»Herr Kukies will mit uns wohl diskutieren, ob wir nicht nur stillhalten können, sondern ggf. unser Engagement noch aufstocken würden«, erklärte Michalak demnach den Chefs der Staatsbank. »Unter Risikogesichtspunkten ist das für die Ipex nicht vertretbar«, so seine Einschätzung. Sollte in den taumelnden Konzern Steuergeld fließen, die KfW eingespannt werden für politische Zwecke? Zumindest sieht es ganz danach aus, als hätte die Spitze des Finanzministeriums bis zum Schluss der Idee des »Nationalen Champions« Wirecard nachgehangen.
Einen Tag vor dem Telefonat mit Michalak hatte Kukies laut Reuters ein neunseitiges, als »sehr eilig« und »vertraulich« gekennzeichnetes Memo an Scholz geschickt, in dem er anregte, KfW-Gelder für die Rettung von Wirecard einzusetzen. »Die Presse berichtet, dass das operative Geschäft von Wirecard trotz der Coronavirus-Krise und trotz der Fehltritte gut läuft«, heißt es in dem Dokument in grotesker Verkennung der realen Lage und der vielen kritischen Presseartikel.
Im Bundesfinanzministerium ist man sich darüber im Klaren, wie heikel der Last-Minute-Einsatz für den Konzern ist. Man habe alle Optionen zur Vermeidung einer ungeordneten Insolvenz geprüft und aus guten Gründen sofort verworfen. Das Haus von Olaf Scholz sieht die Verantwortung für den Wirecard-Skandal bei einem ganz anderen Akteur.
Schuld sein sollen die Wirtschaftsprüfer …
In einem mehrfach verschobenen Bericht an den Bundestag hat das Finanzministerium seine Sicht auf den Untergang herausgestellt. Es schiebt dabei den größten Teil der Verantwortung auf den langjährigen Wirtschaftsprüfer EY ab. Wirecard legte demnach 2009 bis 2018 »einen testierten und mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk der EY Wirtschaftsprüfungsgesellschaft versehenen Abschluss und Lagebericht vor. Keine der Abschlussprüfungen hat zu Einwendungen des Abschlussprüfers geführt«, heißt es. »EY stellte ferner für die Geschäftsjahre 2009 bis 2018 jeweils fest, der Konzernabschluss vermittele (…) ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage.« Vorwürfe zu Bilanzmanipulationen seien »weder erwähnt noch thematisiert« worden.
… und eine Bezirksregierung
Fehlenden Elan erkennt das Finanzministerium auch bei der für die Geldwäscheaufsicht über die Wirecard-Holding zuständigen Bezirksregierung Niederbayern. »Die Bezirksregierung von Niederbayern hat am 25. Februar 2020 erstmalig mit der Bafin Kontakt aufgenommen und mitgeteilt, dass sie sich als zuständige Geldwäscheaufsichtsbehörde die Wirecard AG ansieht«, schreibt das Ministerium. Erneut habe sie am 27. Mai 2020 ihre Zuständigkeit erklärt. Diese Information ist relevant, hatte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) die Befugnisse doch gegenüber dem Landtag später anders dargestellt.
Aus der Opposition kommt Kritik an der Darstellung des Ministeriums. »Die Bundesregierung will die Verantwortung für das Aufsichtsversagen allein auf die Wirtschaftsprüfer von EY lenken. Dabei verwickeln sich die Bundesregierung und die Bafin permanent in Widersprüche«, erklärt De Masi von der Linken. »In der Spitze des Ministeriums war man offenbar geblendet vom vermeintlichen deutschen Champion. Man hat das Märchen von angeblichen Attacken gegen Wirecard auf dem Kapitalmarkt geglaubt, anstatt kritisch nachzuhaken«, sagt Grünen-Parlamentarier Bayaz. Er sieht das Leerverkaufsverbot als größten Fehler an: »Das Leerverkaufsverbot diente letztlich dazu, einen kriminell agierenden Konzern zu schützen. Es war ein fatales Signal an die Anleger und viele andere, die sich auf die Integrität der Finanzaufsicht verlassen haben.«
Felix Holtermann: „Geniale Betrüger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt“, 320 Seiten, 22 Euro, Westend Verlag, 12.4.2021.