Der Weg zur Prosperität – Leseprobe

Der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Stefan Schulmeister hat mit „Der Weg zur Prosperität“ ein Buch veröffentlicht, in dem er die wirtschaftliche und politische Misere in Europa mit folgenden Hauptfaktoren erklärt: einerseits eine interessengeleitet-zurechtmanipulierte wirtschaftswissenschaftliche Theorie und eine davon inspirierte Wirtschaftspolitik, und andererseits wechselnde Koalitionen von Realkapital, Finanzkapital und Arbeitnehmerschaft.In der Einleitung, die ich mit seiner Genehmigung leicht gekürzt wiedergebe, erklärt Schulmeister prägnant dieThesen, die er in diesem lesenwerten Buch entwickelt.

Stefan Schulmeister. Vor fünfzig Jahren herrschte Vollbeschäftigung, die Staatsverschuldung war zwanzig Jahre lang gesunken, der soziale und europäische Zusammenhalt war stärker als heute. Warum hat sich die Lage in Europa seither schleichend verschlechtert? Welche Einsichten braucht es, damit wir die gesellschaftliche Entwicklung nicht als »Sachzwang« erleben, sondern als gestaltbar, und zwar von uns selbst? Welche Wege führen aus der Krise?

Dieses Buch gibt konkrete Antworten auf diese Fragen. Es erklärt die Abfolge von Prosperität und Krise systemisch und konkret. Dabei spielt die Wechselwirkung zwischen Theorie und Realität eine zentrale Rolle: Ökonomische Theorien werden in Reaktion auf Entwicklungen in der Realität erdacht und durchgesetzt, sie dienen dann als »Navigationskarte« und verändern ihrerseits die Realität. So legte der englische Ökonom John Maynard Keynes durch Aufarbeitung der Weltwirtschaftskrise das Fundament der »realkapitalistischen Spielanordnung« der Prosperitätsphase: Strikte Regulierung der Finanzmärkte lenkte die ökonomische »Kernenergie«, das Profitstreben, systematisch auf die »Turbinen der Realwirtschaft«, die Gütermärkte wurden liberalisiert, der Sozialstaat ausgebaut.

Ironischerweise bereitete dieser Erfolg den Boden für den Siegeszug des Neoliberalismus. Bei anhaltender Vollbeschäftigung gingen Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Intellektuelle in den 1960er Jahren in die Offensive; der linke Zeitgeist, Verteilungskämpfe, steigende Inflation und ein drohender Machtverlust der Vermögenden erleichterten es den neoliberalen Ökonomen, ihre Theorie durchzusetzen. Sie bildet die ideologische Basis der »finanzkapitalistischen Spielanordnung«, in der sich das Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft verlagert (»Lassen wir unser Geld arbeiten!«).

Noch nie in der Geschichte hat eine ökonomische Weltanschauung so lange und so umfassend dominiert wie die neoliberale Theorie. Aus ihr wurde jene »Navigationskarte« für die Politik abgeleitet, die Europa seit fast fünfzig Jahren immer tiefer in die Krise führte:

  • · Die »EntFesselung« der Finanzmärkte verlagerte das Gewinnstreben von der Realwirtschaft (wo die ökonomischen Stärken Europas liegen) zur »Finanzalchemie«.
  • · Der Rückgang des Wachstums von Realinvestitionen und Produktion ließ Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen.
  • · Sparpolitik, Lohnsenkungen, Ausweitung prekärer Beschäftigung, Lockerung des Arbeitnehmerschutzes, etc. schwächten den sozialen Zusammenhalt und die Realwirtschaft.
  • · Gleichzeitig verursachte Finanzspekulation immer größere Schwankungen von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Aktien- und Anleihekursen und Immobilienpreisen.
  • · Die Schwankungen in der Bewertung der entsprechenden Vermögen lösten schwere Wirtschaftskrisen aus – von den »Ölpreisschocks« der 1970er Jahre bis zur Finanzkrise 2008.

Jede Theorie gleicht einer Brille mit einem bestimmten Schliff. Man kann mit ihr nur wahrnehmen, worauf sie den Blick fokussiert. Verteilungskämpfe und dadurch verursachte Inflationsschübe, Finanzspekulation als Ursache von »Bullen- und Bärenmärkten«, »unfreiwillige« Arbeitslosigkeit und vom Staat »erlittene« Defizite – all das ist in der neoliberalen Theorie nicht vor-gesehen. Und so ist sie auch blind für den von ihr forcierten »Wechselschritt«: Neoliberale Maßnahmen schaffen Probleme (etwa steigende Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung durch ent-fesselte Finanzmärkte), entsprechende »Therapien« (Sparpolitik, Senkung von Löhnen und Arbeitslosengeld) vertiefen die Krise, machen weitere Maßnahmen nötig, usw.

Um diesem Zirkel zu entkommen, braucht es einen neuen theoretischen Rahmen: Die ökonomische, soziale und politische Entwicklung lässt sich als Abfolge zwei kapitalistischer »Spielanordnungen« verstehen. Im Realkapitalismus dominieren die – überwiegend gemeinsamen – Interessen von Realkapital und Arbeit, Finanzkapital wird »ruhiggestellt«, bei festen Wechselkursen, Rohstoffpreisen sowie Zinssätzen unter der Wachstumsrate kann sich das Profitstreben nur in der Realwirtschaft entfalten. Im Finanzkapitalismus lenken die Anreizbedingungen, insbesondere schwankende Wechselkurse, Rohstoffpreise, Aktien- und Anleihekurse sowie Zinssätze über der Wachstumsrate, das Profitstreben auf Finanzspekulation; auch Großkonzerne der Realwirtschaft verstärken ihre Finanzinvestitionen auf Kosten von Realinvestitionen.

Die realkapitalistische »Spielanordnung« zielte ab auf eine Integration von Polaritäten wie Ökonomie und Politik, Markt und Staat, Konkurrenz und Kooperation, individuelles Glücksstreben und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Unternehmerschaft und Gewerkschaften. Das finanzkapitalistische System gibt hingegen jeweils einem Pol den Vorrang: Nur die Konkurrenz der Individuen auf deregulierten Märkten ermögliche die wirtschaftlich besten Lösungen, die Koordination übernimmt ja die »unsichtbare Hand«.

Das »Navigationssystem« ermöglicht eine Positionsbestimmung im gegenwärtigen »langen Zyklus« von Prosperität und Depression, und es weist die wichtigsten Schritte auf dem Weg zu einer neuen realkapitalistischen »Spielanordnung« in Europa mit ökologischem und sozialen Schwerpunkten.

Ich zeichne nach, wie das Lernen aus der Weltwirtschaftskrise die Grundlagen für den nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung legte, bis sich das neoliberale Weltbild (wieder) durchsetzte und schließlich »der Markt« sogar zu einem Subjekt wurde, dem sich der Mensch zu unterwerfen habe (»there is no alternative«).

Dann skizziere ich den neuen theoretischen Rahmen, der nötig ist, um die Abfolge von Prosperität und Depression, die Auswirkungen der Finanzspekulation auf die Realwirtschaft und die gemeinsame Ursache von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung – den Wechsel von einer real- zu einer finanzkapitalistischen »Spielanordnung« – zu verstehen.

Am Beispiel der Entwicklung in Südeuropa nach der Finanzkrise 2008 und der wirtschaftspolitischen Strategien in den USA und Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre zeige ich die unterschiedliche Erklärungskraft der neoliberalen Theorie und meines Alternativansatzes. Ein fataler Widerspruch kennzeichnet die Europäische Währungsunion: Inhaltlich ist sie ein anti-neoliberales Projekt (endgültige Überwindung von Devisenspekulation). Ihr Regelwerk aber ist durch und durch neoliberal, von der Dominanz der Geldwertstabilität bis zu den Fiskalregeln. Der Euro ist das Richtige im Falschen der »Spielanordnung«, Letztere ist daher »abzuwickeln«, nicht der Euro.

Neoliberalismus und Finanzkapitalismus haben Europa in eine Identitätskrise geführt. Sie sind unvereinbar mit den Grundwerten »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, mit der Bedeutung gemeinschaftlicher Institutionen wie Verbänden oder Sozialstaat und mit der ökonomischen Stärke Europas, die in der Realwirtschaft liegt. Neoliberale »Grundwerte« wie Eigennutz und Konkurrenz hingegen bestimmen unser Verhalten im Alltag, entfremden uns von uns selbst und von unseren Mitmenschen: Die Sehnsucht nach »Ganzheit« auf individueller und sozialer Ebene ist blockiert, wenn das Bedürfnis der Menschen nach Anteilnahme und Solidarität unterdrückt wird.

Anschließend erkläre ich, wie die Grundzüge einer »menschengerechten« Wirtschaftstheorie aussehen müssten. Auf Basis einer konkreten Erklärung der drückendsten Probleme – von Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und Armut bis zum Klimawandel – skizziere ich Maßnahmen, deren Umsetzung Europa zu neuer Prosperität, besserer Umwelt und mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft verhelfen kann. Dazu gehören die thermische Sanierung des gesamten Gebäudebestands in der EU, der Ausbau des Netzes für Hochgeschwindigkeitszüge, die Vorgabe eines Preispfads für fossile Energieträger als Anreiz für Investitionen in die Energieeffizienz (die Differenz zum Weltmarktpreis wird durch eine Steuer abgeschöpft), die Ersetzung des Fließhandels an den Börsen durch elektronische Auktionen, die Stärkung des Sozialstaats und nicht zuletzt die Überwindung der Abhängigkeit der EU von US-Konzernen in der Informationstechnologie (Betriebssysteme, Suchmaschinen, Standardsoftware, Online-Plattformen, insbesondere für soziale Medien). Binnen eines Jahrzehnts könnte ein Wirtschaftswachstum, das die Umwelt verbessert und den sozialen Zusammenhalt stärkt, echte Vollbeschäftigung sowie die Erneuerung des Europäischen Sozialmodells bewirken und so wieder ein Gefühl von »europäischer Identität« nähren

Nicht-Ökonomen scheuen die Auseinandersetzung mit den Experten aus Respekt vor deren mathematischen Modellen oder wegen der rätselhaften »Kürzel« der Finanzprofis (CDS, CDO, ABS, CFD, CTA, etc.). Doch um zu verstehen, wie ökonomische Theorien die gesellschaftliche Entwicklung prägen, bestimmte Interessen (etwa durch Liberalisierung der Finanzmärkte) begünstigen, eine bestimmte Wirtschaftspolitik (etwa die Schwächung des Sozialstaats) legitimieren und unser alltägliches Verhalten (etwa durch den Vorrang für »Jeder ist seines Glückes Schmied«) ändern, muss man die unterschiedlichen »Theorieschulen« verstehen. Dazu übersetze ich Annahmen und Empfehlungen der herrschenden Theorie in die »gewöhnliche Sprache«, und das ist gar nicht schwer.

Zunächst erläutere ich das universelles Wahrnehmungsraster der Mainstream-Ökonomen, das Marktdiagramm mit Angebotskurve, Nachfragekurve und deren Schnittpunkt, dem Gleichgewicht, und erläutere dies am Beispiel der Entwicklung der Arbeitslosigkeit und der Finanzkrise 2008. An diesen Beispielen verdeutliche ich die Sichtweise der Mainstream-Ökonomen und skizziere einen alternativen Erklärungsansatz.

Die meisten Teile dieses Buchs stellen für Mainstream-Ökonomen eine emotionelle und in der Folge auch intellektuelle Herausforderung dar. Denn das Schwierigste am Lernen ist das Ver-Lernen, besonders des »gesicherten Wissens« und der »wahren Modelle«. Voraussetzung dafür ist der Zweifel, und dem geben die vielen Grafiken Nahrung. Ob die Abwehrmechanismen stärker sind oder der Mut wächst, aus dem eigenen Denksystem – wenigstens »probeweise« – auszusteigen und es »von außen« zu betrachten, muss jeder selbst entscheiden. Doch nur wenn es gelingt, das aufklärende, anteilnehmende und problemorientierte Denken zu fördern, wird es möglich sein, den Weg zur Prosperität zu finden und zu gehen.

Mehr dazu:

Rezension auf Zeit Online: Die Wut des Ökonomen

[28.8.2018]

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