Täuschende Wirtschaftsweise 2016 (1): Mindestlohn – Mehr auf Arbeitgeberlinie als die Arbeitgeber selbst

3. 11. 2016 | Mit der Prognose massiver Beschäftigungsverluste bei Einführung des Mindestlohns lag der Wirtschaftssachverständigenrat 2014 krass daneben. Das hält ihn nicht davon ab, im aktuellen Jahresgutachten vielfach zu wiederholen, der Mindestlohn sei schädlich. Belege bleibt er schuldig. Belege für das Gegenteil werden verschwiegen. Manche Aussagen basieren auf unseriösen Quellen und widersprechen seriösen Quellen. Andere werden frei erfunden. Selbst das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft ist da ausgewogener.

Das Jahresgutachten 2014 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, oft die Fünf Weisen genannt, manchmal als Die Weisen aus dem Morgenland verspottet, hatte ich intensiv gelesen. Mir waren massenhaft Falschbehauptungen, unseriöse Auslassungen  und täuschende Literaturhinweise aufgefallen. Diese für ein Wissenschaftlergremium erstaunlichen Befunde habe ich in der Artikelreihe „Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen“ umgesetzt. Sie fanden auch Eingang in die Fachzeitschrift „Wirtschaftsdienst“, wo der Ethikbeauftragte des Ökonomenverbands „Verein für Socialpolitik“ meinen Vorwurf der Täuschung stützt. Das hinderte den „Verein für Socialpolitik“ allerdings nicht daran, dem Ratsvorsitzenden Christoph Schmidt 2016 einen Preis unter anderem dafür zu verleihen, dass er seine täuschenden Thesen zum Mindestlohn und zur Ungleichheit so engagiert und verständlich unters Volk gebracht hat.

Nach einem Jahr Pause nehme ich mir daher das Gutachten 2016 wieder etwas genauer vor. Ich will diesmal mit den Aussagen zum Mindestlohn anfangen. Hier geht die gemeinsame Geschichte von mir (als Kritker) und dem Sachverständigenrat (als Täuscher) immerhin bis ins Jahr 2006 zurück. Im Folgenden ist mit „dem Rat“ immer nur die Vierermehrheit der arbeitgebernahen Sachverständigen gemeint. Das gewerkschaftsnahe Ratsmitglied Bofinger schreibt in einem seiner vielen Minderheitsvoten kurz und prägnant: „Ein negativer Effekt des Mindestlohns ist nicht erkennbar.“

Eine Fehlprognose wäre zu erklären, eigentlich

Im November 2014 warnte der Rat, nicht zum ersten Mal, eindringlich vor den negativen Folgen der Mindestlohneinführung. Er prognostizierte für 2015 bei einem Wirtschaftswachstum von einem Prozent eine Zunahme der Beschäftigung um 150.000. Wegen des Mindestlohns würden 100.000 Minijobs und 40.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze weniger entstehen als wenn darauf verzichtet worden wäre (Ziffer 192). Tatsächlich wuchs die Wirtschaft im ersten Mindestlohnjahr um 1,7 Prozent. Die Beschäftigung stieg um knapp 400.000, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gar um 625.000.

Im folgenden Jahresgutachten 2015 drückte der Rat sich weitgehend um eine Erklärung seiner Fehlprognosen. „Ein so fundamentaler Eingriff in den Arbeitsmarkt erfordert eine genaue und stetige Beobachtung der weiteren Entwicklungen  Allerdings ist eine seriöse Bewertung der Wirkungen des Mindestlohns zum jetzigen Zeitpunkt aus verschiedenen Gründen noch nicht möglich (Z. 533). Einzige angebotene Erklärung:

Der Mindestlohn ist in einer guten Arbeitsmarktlage eingeführt worden. Die Arbeitsnachfrage ist hoch, wie die seit der ersten Jahreshälfte 2013 aufwärts gerichtete Entwicklung an freien Arbeitsstellen verdeutlicht (Z. 534).“

Das ist seither die Hauptausflucht aller, die ähnliche Horrorszenarien gemalt hatten wie der Rat. Dabei ist es eine Scheinerklärung, denn im November 2014 als er seine Prognosen veröffentlichte, war dem Rat schon sehr gut die „seit der ersten Jahreshälfte 2013 aufwärts gerichtete Entwicklung an freien Arbeitsstellen“ bekannt, ebenso wie die sonstigen Indizien für eine gute Arbeitsmarktentwicklung. Er wusste also, dass der Mindestlohn „in einer guten Arbeitsmarktlage“ eingeführt werden würde. Trotzdem hat er seine negativen Anti-Mindeslohn-Prognosen abgegeben und diese in keiner Weise vom Zustand des Arbeitsmarktes bei Einführung abhängig gemacht.

Da zwischen Gutachten und Einführung des Mindestlohns nicht einmal zwei Monate lagen, ist es unseriös zu sagen: Die Ausgangslage war bei Einführung des Mindestlohns unerwartet gut und das Wirtschaftswachstum war besser als gedacht. Umgekehrt wird eher ein Schuh daraus: Weil die angedrohten massiven Beschäftigungsverluste durch den Mindestlohn nicht eintraten, entwickelten sich Arbeitsmarkt und Wirtschaftswachstum 2015 besser als der Rat prognostizierte.

2016: Weiter als wäre nichts geschehen

Soweit also zum Jahr 2015, als noch wenig Informationen vorlagen. Das war 2016 schon ganz anders, weshalb wir uns auf eine umfassende Bestandsaufnahme freuen dürfen. Diese wird im hinteren Teil des Gutachtens versprochen. Vorher aber wird über ein halbes dutzend Mal eine negative Wirkung postuliert, darunter:

„Die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns und das Rentenpaket könnten die Wirtschaftsentwicklung sogar schwächen  (Kurzfassung Z.14). … Die laufende Legislaturperiode war von Maßnahmen geprägt, die ..die Marktkräfte schwächen und potenziell negative Nebeneffekte haben (wie der Mindestlohn) (Z. 14). … Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns .. erfüll(t) Verteilungswünsche, erodier(t) aber die Basis für künftiges Prosperitätswachstum, zum Nachteil künftiger Generationen (Z.58). … Die Erhöhung des Mindestlohns von 8,50 Euro auf 8,84 Euro… dürfte Unternehmen hinsichtlich des zukünftigen Niveaus des Mindestlohns verunsichern und so der Schaffung von Arbeitsplätzen entgegenstehen (Z.68). .. „.

 Bevor es in Textziffer 769 endlich um die Auswirkungen des Mindestlohns geht, wird in 768 noch behauptet:

„Trotz einschneidender Arbeitsmarktreformen zählt der deutsche Arbeitsmarkt zu den am stärksten regulierten der Welt (JG 2013 Ziffer 452), was durch die Einführung des Mindestlohns noch verstärkt wurde.“ (Meine Hervorhebung)

Ich habe inzwischen gelernt, immer nachzuschauen, wenn der Rat zum Beleg einer steilen These nur darauf verweist, dass er selbst das früher schon einmal behauptet hat. Und tatsächlich, es lohnt sich. Wieder werden auf diese Weise fragwürdige Quellen vernebelt. Folgendes steht unter der besagten Textziffer im Bericht 2013:

„Trotz der einschneidenden Arbeitsmarktreformen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts zählt der deutsche Arbeitsmarkt demnach weiterhin mit zu den am stärksten regulierten der Welt. Im Jahr 2008 belegte Deutschland beim Global Competitiveness Index (GCI) des World Economic Forum im Hinblick auf die Arbeitsmarkteffizienz nur Rang 19 unter den betrachteten Ländern; auf den letzten fünf Rängen finden sich hier die südeuropäischen Volkswirtschaften. Bei Rückgriff auf den Index zur Arbeitsmarktregulierung der Economic Freedom of the World-Studie (EFoW) des Fraser Institute belegt Deutschland sogar den letzten Rang (Tabelle 23). Im Hinblick auf seine externe Flexibilität, die für die rasche Anpassung an dauerhafte Veränderungen maßgeblich ist, scheint der deutsche Arbeitsmarkt demnach für künftige Herausforderungen nur bedingt gerüstet.“ (Fettungen im Original)

Eine Quelle sind also die jährlichen, auf Umfragen bei Arbeitgebern beruhenden Wettbewerbsfähigkeitsrankings des Milliardärsclubs World Economic Forum (WEF). Das ist eine fragwürdige Quelle mit offenkundigem Eigeninteresse. Zweifel am wissenschaftlichen Wert von Wettbewerbsfähigkeitsrankings, bei denen einer Volkswirtschaft mit dem größten Exportüberschuss eine geringere Wettbewerbsfähigkeit attestiert wird, als einem Land wie den USA mit einem riesigen Defizit, liegen nahe. Die zweite Quelle ist das marktradikale Fraser-Institute aus den USA. Dazu aus Wikipedia:

„Unter anderem veröffentlicht das Institut seit 1996 jährlich den Economic Freedom of the World Report. Die Unterstützung der Tabakindustrie und die Diffamierung von wissenschaftlichen Studien über die Risiken des Rauchens brachten dem Fraser Institute scharfe Kritik ein ebenso wie seine Kampagnen gegen gesetzliche Mindestlöhne.  (…) Zu den Geldgebern zählen ExxonMobil, Imperial Oil, Procter & Gamble sowie die Thomson Corporation.“

Die aus dem Ranking der Marktradikalen abgeleitete Behauptung des Rats, der deutsche Arbeitsmarkt sei schlecht für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet, hat sich zwischenzeitlich nicht gerade bewahrheitet. Aber die Zukunft ist ja noch lang.

Die allseits bekannte und sehr viel seriösere Quelle OECD nutzt der Rat dagegen nicht, obwohl die Industrieländerorganisation sich seit langem mit serösen internationalen Vergleichen von Arbeitsmarktregulierungen und der Untersuchung der Folgen beschäftigt. Das ist sicher kein Versehen. Mit den Daten der OECD ließe sich die Behauptung des Sachverständigenrats nicht decken. Danach ist zwar der Kündigungsschutz für reguläre Beschäftigte in Deutschland relativ strikt, und – unter den Industrieländern – nur in Belgien, Italien und den Niederlanden strikter, daneben sicherlich in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern. Bei den Restriktionen für befristete Arbeitsplätze und Leiharbeit liegt Deutschland dagegen hinter Österreich, Belgien, Chile, Tschechien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Israel, Italien, Korea, Luxemburg, Norwegen, Polen, Portugal, Slowakei, Spanien und der Türkei. Unter den Industrieländern haben praktisch nur die angelsächsischen Hire-and-Fire-Ökonomien noch weniger Restriktionen.

Die Behauptung aufzustellen, Deutschland gehöre zu den Ländern mit den reguliertesten Arbeitsmärkten und sie mit einer derartigen unseriösen Quellenauswahl zu belegen, ist an sich schon wissenschaftlicher Betrug. Viel netter kann man das kaum sagen. Aber der Rat täuscht sogar innerhalb dieses betrügerischen Rahmens noch. Wenn Deutschland in Sachen Arbeitsmarkteffizienz beim WEF auf Rang 19 lag, wie der Rat schreibt, dann deckt das bei über 130 einbezogenen Ländern nicht die Behauptung der deutsche Arbeitsmarkt gehöre zu den „am stärksten regulierten der Welt“. Die Daten die der Rat 2013 zitierte und auf die er sich 2016 beruft, sind aus dem Bericht des WEF von 2008. Warum ist unklar. 2013 sollte dem Rat der Bericht von 2013 vorgelegen haben. Aktuell, im Bericht 2016 liegt Deutschland bei der „Arbeitsmarkteffizienz“ auf Rang 22. Österreich liegt auf Rang 40, Belgien auf 45, Frankreich 51, Portugal und Spanien, die Krisenländer, in der Mitte, auf Rang 64 und 69. Man müsste nachschauen, ob Portugal und Spanien 2008 tatsächlich unter den letzten fünf waren, wie der Rat schreibt. Ich habe Zweifel. Wie man es dreht und wendet, die mit dem Gutachten 2013 belegte Aussage im Jahresbericht 2016 ist eine Falschaussage. Dass der Arbeitsmarktexperte des Rates und der hauptamtliche Stab derart krasse Fehlleistungen arglos begehen und außerdem noch die OECD-Untersuchungen nicht kennen, ist mir jedenfalls völlig unplausibel.

Was nicht passt wird weggelassen

In Textziffer 777 kommt der Rat schließlich zu den Beschäftigungswirkungen und stellt fest, dass im Monat der Einführung des Mindestlohns saisonbereinigt 94.000 Minijobs wegfielen. Dabei „vergisst“ er zu erwähnen, dass gleichzeitig laut derselben Quelle (IAB) annähernd ebensoviele sozialversicherungspflichtige und damit höherwertige Stellen hinzukamen. Das ist das mit Abstand wichtigste Argument gegen die vielfach vom Rat wiederholte These vom Mindestlohn als Beschäftigungshindernis. Der Rat unterschlägt es einfach. Er erwähnt lediglich, dass offenbar etwas mehr als die Hälfte der weggefallenen Minijobs direkt in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt wurde.

Was natürlich auch fehlt, sind Hinweise auf Bestandsaufnahmen, die darlegen, dass auch in den Niedriglohnbranchen, wo die Mindestlohngegner besonders schlimme Wirkungen vermuteten, größere Beschäftigungsverluste ausblieben und sich die Beschäftigung dort nicht schlechter, oft sogar besser entwickelte als in Branchen, die wegen höherer Löhne kaum betroffen sind.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den eigenen Fehleinschätzungen der Auswirkungen des Mindestlohns – jenseits der zirkelschlüssigen Ausflucht von der angeblich unerwartet guten Arbeitsmarktlage – sucht man auch in Jahr zwei nach dessen Einführung vergebens, aber die alten Thesen werden unbeirrt weiter vorgetragen.

Ein besonderes Bonbon hat der Rat in seinem Fazit parat (Z. 785). Nachdem er immer wieder betont hat, der Niedriglohnsektor müsse erhalten und ausgebaut werden, um niedrig Qualifizierten den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, und dass der Mindestlohn gerade deswegen schädlich sei, heißt es hier:

„Langfristig wird der Niedriglohnsektor seine Aufgabe allerdings nur erfüllen können, wenn er nicht nur in der Lage ist, diese Personen aufzunehmen, sondern ihnen darüber hinaus angemessene Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet. Bislang erweisen sich die Aufstiegschancen aus dem Niedriglohnsektor in höhere Bezahlung aber als relativ gering.“

Der Rat räumt also ein, dass der Niedriglohnsektor die ihm zugeschriebene Funktion gar nicht erfüllt. Ohne jegliche ernsthafte Diagnose oder Argumentation macht er daraus gleich im nächsten Satz ein Argument dafür, weniger zu regulieren:

„Die Arbeitsmarktpolitik sollte daher davon absehen, für Beschäftigte im Niedriglohnbereich den Aufstieg in anspruchsvollere und besser bezahlte Tätigkeiten durch eine weitere Regulierung des Arbeitsmarkts zu erschweren.“

Damit impliziert der Rat, ohne es direkt zu sagen, dass die Regulierung schuld daran sei, dass die Menschen im Niedriglohnsektor stecken bleiben. Welche Regulierungen das sein sollen, deutet er nicht einmal an. So lässt er seine Forderung, dass der Niedriglohnsektor gefördert werden müsse, ohne jede Fundierung. Der eigenen, gegenstehenden Diagnose, dass der Niedriglohnsektor seine Funktion gar nicht erfüllt, wird nicht explizit widersprochen.

Ungeachten dessen heißt es im Gutachten auch (Z. 731), zur Minderung der Langzeitarbeitslosigkeit und zur Integration der vielen Flüchtlinge sei „die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors von großer Bedeutug. „Sie wird allerdings durch strukturelle Beschäftigungshemmnisse eingeschränkt, etwa (…)  ein hohes Verhältnis des Mindestlohns zum Medianlohn.“ Dumm nur, dass der Blogger Partick Schreiner auf Basis neuer OECD-Daten herausgearbeitet hat (Grafik in der Mitte), dass der deutsche Mindestlohn relativ zum mittleren Lohn gar nicht hoch ist. Er liegt komfortabel im Mittelfeld der Industrieländer. Die Falschbehauptung der Ratsmehrheit vom relativ hohen Mindestlohn hatte Ratsmitglied Bofinger schon 2014 in einem Minderheitsvotum moniert. Der Rat hat es damals trotzdem geschrieben. Jetzt wird es in Nebensätzen wiederholt, obwohl es erwiesenermaßen falsch ist.

Zwischenfazit: Ein Fall für den Rechnungshof

Schon ein erster Blick in das aktuelle Jahresgutachten der Wirtschaftsweisen, das den Steuerzahler jedes Jahr eine beträchtliche Stange Geld kostet, fördert wieder mehrere Fälle von grob unwissenschaftlichem Arbeiten und Täuschung der Öffentlichkeit zu Tage. Alle im Sinne der Arbeitgeber. Schaut man zum Vergleich, was das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft in seinem Faktencheck nach einem Jahr Mindestlohn schreibt, so findet man dort erstaunlicher Weise eine sehr viel vollständigere und seriösere Bestandsaufnahme, wenn auch verständlicher Weise der Tenor derselbe ist. Das darf sich die Regierung, in Gestalt des zuständigen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel, nicht auf Dauer bieten lassen. Es ist auch ein Fall für den Rechnungshof.

Dem Sachverständigenrat wurde angeboten, vor Veröffentlichung dieses Blogbeitrags Stellung zu nehmen.

Folge 2: Ungleichheit – Schuld ist der Sozialstaat

Folge 3: Verschwiegene Interessenkonflikte

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