Von Fritz Glunk. Die Antwort auf Brechts Frage, wohin denn die Staatsgewalt des Volkes gegangen sei, liegt immer offener zutage.. Sie ist heute dort, wo sich schon manche Politiker gern aufhalten: in der privaten Wirtschaft. Nicht nur in einem Unternehmen, etwa Gazprom, oder einem Verband wie dem der Automobilindustrie, sondern, dem Himmel näher, in einem Gebilde mit dem unübersetzbaren Namen „Governance”. Das heißt nicht „Regierung”. Das würden wir ja verstehen. Eine Regierung
kennen wir: Sie hat ein Gesicht (die Bundeskanzlerin), eine Adresse (Berlin), sogar eine Geschäftsordnung. Sie ist als Exekutive eine der drei Gewalten und bildet zusammen mit dem Parlament und der Rechtsprechung die Staatsgewalt. Das Volk wählt das Parlament, das Parlament bildet die Regierung, und auch die Besetzung der Richterstellen funktioniert relativ demokratisch. Wer sich durch ein Urteil oder eine Maßnahme der Verwaltung ungerecht behandelt fühlt, kann vor staatlichen Gerichten klagen, bis hinauf zum Verfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Wir wissen natürlich auch, dass das geltende Recht nicht nur in Parlamenten beschlossen wird. Es entsteht daneben, wie das fachlich heißt, in der „Rechtsfortbildung”, das heißt in den Urteilen der Gerichte, um mit einer sich entwickelnden Gesellschaft Schritt zu halten. Alle drei Staatsgewalten sind „gebunden” durch die Grundrechte, die in der Verfassung niedergelegt sind. Das Ganze (auch „checks and balances” genannt) funktioniert einigermaßen zufriedenstellend. So lernen wir es in Sozialkunde.
Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass in völkerrechtlichen Abkommen neuere Institutionen entstanden sind: die Schiedsgerichte (von ihren Befürwortern auch „internationale” Gerichte genannt) zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten.
Die meisten dieser Tribunale sind keine festen Institutionen, sie haben keine Adresse (man kann sie von Fall zu Fall überall einrichten) und keine angestellten Richter (die Streitparteien berufen dazu eigene Wirtschaftsanwälte). Nur ausländische Investoren können dort gegen den Gaststaat klagen, ein Staat nicht gegen einen Investor. Verhandelt wird auf Wunsch der Streitparteien nicht-öffentlich. Das Urteil, etwa eine Schadensersatzforderung gegen den Staat, ist (von unwahrscheinlichen Ausnahmen abgesehen) sofort vollstreckbar. Das alles ist ebenso bekannt wie beunruhigend.
Was in der Diskussion bisher ausgeblendet wird: Diese Schiedsgerichte üben öffentliche Gewalt aus. Sie greifen unmittelbar in das Haushaltsrecht der Parlamente ein, sie vermindern mittelbar die politischen Handlungsfähigkeit der Regierung. Ihre Entscheidungen betreffen nicht nur einzelne (Investoren, Unternehmen), sondern die Allgemeinheit. Denn Klagen bei diesen Gerichten richten sich immer gegen das Handeln eines Staates, und dieser ist nun einmal der verfassungsrechtliche Hüter des Gemeinwohls.
Ist die öffentliche Gewalt der Schiedsgerichte, wie im staatlichen Gerichtswesen, auf die Anwendung eines demokratisch beschlossenen Rechts verpflichtet? Ein geschriebenes („positives”) Recht gibt es für sie zwar nicht, sie wenden zur Entscheidung des Einzelfalls allerdings völkerrechtliche Verträge an.
Theoretisch könnte ein Schiedsgericht für sein Urteil die Urteile früherer Schiedsgerichte berücksichtigen und so zu einem beschreibbaren Wirtschaftsgewohnheitsrecht beitragen. Aber auch dazu neigen die ad-hoc-Schiedsgerichte nicht, sie bevorzugen – auch aus einem gewissen Rechtssetzungsehrgeiz – die Einzelfallregelung, den eigenen Tenor und die unabhängige Begründung des Urteils. Ihrer Natur nach können sie dem Erfordernis einer konsistenten Rechtspraxis schon deshalb nicht gerecht werden, weil sie nicht-öffentlich urteilen. Stark umstritten (und in vielen Fällen gar nicht erst erwogen) ist die Frage, ob das Urteil nur auf die Interessen des Investors oder auch auf das Gemeinwohl eingehen muss. Für ersteres gibt es bezeichnenderweise viele Beispiele, für Letzteres nur eine Handvoll.
Haben diese geradezu hoheitlichen Schiedsgerichte wenigstens eine wie auch immer geartete demokratische Legitimation? Ein ordnungsgemäß zustandegekommener völkerrechtlicher Vertrag überträgt hier in der Tat bestimmte Hoheitsrechte, die in Ad-hoc-Tribunalen von Privatpersonen beansprucht werden (ohne staatliche Aufsicht und ohne Kontrolle durch eine höhere Instanz). Es bleibt aber die beunruhigende Frage bestehen, ob eine Vertragspartei, etwa die Europäische Union, ermächtigt war, die ihr übertragene Souveränität an private Tribunale weiterzureichen?
Was sich hier öffentlich unbemerkt seit einigen Jahrzehnten heranbildet (Schiedsgerichtsbefürworter verweisen gern auf 130 Investitionsschutzverträge, die die Bundesrepublik Deutschland seit 1959 abgeschlossen hat, oder gleich auf etwa 3000 weitere bilaterale Verträge), ist eine tendenziell weltweite Wirtschaftsregierung.
So nennt sie sich natürlich nicht selbst. Man sagt dort nicht „Regierung” („government”) sondern nimmt lieber den vagen Ausdruck „Regieren” („governance”). Einige Staatsrechtslehrer halten die „traditionelle” Institution „Regierung” ohnehin schon für überholt. Dem Festhalten an einer demokratischen Grundordnung werfen sie vor, es sei „souveränitätsfixiert”. Da bietet sich nun das komplexere „Governance” an, in den Zeiten der Globalisierung zunehmend auch „Global Governance” genannt. Dieser weitere Begriff wird gelegentlich auch schon als „Global Economic Governance” („Globales Wirtschaftsregieren”) diskutiert. Darin findet die faktische Hoheitsfunktion der „internationalen” Gerichte nun ihren eigenen Platz: eine nicht-legitimierte, unkontrollierte Ausübung öffentlicher Gewalt. Unbeschränkt, ortlos, gesichtslos.
Dossier zu privaten Schiedsgerichten auf norberthaering.de