Es ist bemerkenswert, wie unterschiedlich die Einschätzungen der überregionalen Presse sein können. Der Spiegel schreibt aus Hamburg, fernab des Münchener Allianz-Hauptsitzes, von einer schleichenden Autobahnprivatisierung zum Nutzen der Versicherer. Die Süddeutsche Zeitung, die in München verlegt wird, findet es dagegen prima und zeigt doppleplusgute Kreativität bei der Darstellung der Pläne.
Es geht darum, dass der Bund eine privatrechtliche Bundesfernstraßengesellschaft gründen will, an der sich Private, sprich die Versicherer, beteiligen können. Dafür soll das Grundgesetz geändert werden. Die Versicherer klagen wegen der Niedrigzinsen über Anlagenotstand und wollen Geld für Infrastrukturprojekte geben, mit guten, de fakto staatlich garantierten Renditen.
Das schreibt der Spiegel dazu (Titel und Vorspann):
„Bundesregierung will Autobahnen privatisieren: Die Pläne der Bundesregierung, das Autobahnnetz zu privatisieren, werden konkreter. Verdienen sollen daran die Versicherungskonzerne. Bezahlen wird es am Ende womöglich der Autofahrer – per Maut.“
Folgendes schrieb dagegen zum gleichen Thema jüngst die Süddeutsche Zeitung:
„Autobahn ins Grundgesetz: Viele Fernstraßen in Deutschland sind marode. Künftig will sich der Bund selbst darum kümmern – mit privaten Geldgebern.“
Für die SZ sind der Anlagenotstand der Versicherer und ihr Wunsch, sich an der Finanzierung zu beteiligen, kein der Erwähnung wertes Thema. Vielmehr ist angeblich einziger Grund für die Grundgesetzänderung, dass die Infrastruktur verfällt, und die Länder nicht genug Geld haben. Auch der Aspekt, dass Belastungen durch private Finanzierung in die Zukunft verschoben werden sollen, um so die Haushaltskontrolle zu umgehen, wird nicht erwähnt. Stattdessen darf Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel versichern, dass an eine Privatisierung nicht gedacht ist. Und dann kommt der Knaller:
„Rein formal sind die nächsten Schritte klar, die zu tun sind, bis feststeht, ob Autobahnen mittelfristig privat betrieben – und womöglich Maut kassiert werden soll. Die Verfassung muss geändert werden. In Artikel 90 des Grundgesetzes soll das unveräußerliche Eigentum des Bundes an den Bundesautobahnen verankert werden. Dazu wird ein Gesetz zur Gründung der Infrastrukturgesellschaft nach privatem Recht beschlossen – und umgesetzt.“
Aus der Beruhigungspille Festschreibung des öffentlichen Eigentums an den Autobahnen (nicht der Autobahngesellschaft), wird die angebliche Ursache für die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung gemacht. Die eigentliche Ursache, die Gründung einer laut Grundgesetz bisher nicht möglichen privatrechtlichen Infrastrukturgesellschaft des Bundes wird in absurder Weise im Nachsatz (mit dem Wort „Dazu“) als notwendiges Mittel zur Garantie dieser öffentlichen Eigentümerschaft stilisiert.
Doppelplusgut, würde George Orwell solche Sprachakrobatik wohl nennen.
Dieses Dossier zum Autobahnraub, insbesondere mein Hilferuf an die Medien vom März 2015 zeigt, wie lange die Medien brauchten, sich des Themas anzunehmen. Um so schöner, dass es jetzt wenigstens wichtige Medien in räumlichem Abstand zu München in klarer Sprache tun.
Nachtrag 15.11.: In einem Kommentar mit der Überschrift Privates „Geld ist gutes Geld – auch für Autobahnen“ setzt Cerstin Gammelin von der Süddeutschen noch eins drauf. Der Staat soll den Versicherungskonzernen eine auskömmliche Rendite garantieren, also subventionieren, fordert sie, und die Parteien, die angeblich alle die Kürzung der gesetzlichen Rente zugunsten von mehr privater Vorsorge mittrügen, sollten das gefälligst gut finden, und nicht schon (!) kritisieren, bevor das Grundgesetz entsprechend geändert und alle Fakten geschaffen sind. Das „schon“ bezieht sich übrigens auf eine Initiative, die seit Sommer 2014 läuft und von Zeitungen wie der Süddeutschen fast völlig ignoriert wurde. Mein Stück Gabriel gibt den Staat zur Ausplünderung frei stammt von August 2014, das Stück Wie die Allianz trickst und täuscht um an noch mehr Steuergeld zu kommen und das Scheitern der privaten Vorsorge zu verdecken von Januar 2015.