In der beliebten Serie zu den Tricks, mit denen der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ zu seinen gewünschten Ergebnissen kommt, widmen wir uns heute einem mit besonders viel Raffinesse eingefädelten Täuschungsmanöver. Es geht darum die Zunahme der Einkommensungleichheit klein zu reden und unschuldige Gründe dafür zu finden. In der Kurzfassung für den
eiligen Leser (fast alle) vorne heißt es:
„Eine verteilungspolitische Begründung für die jüngst umgesetzten und noch diskutierten Maßnahmen lässt sich nicht aus der Entwicklung der Einkommensverteilung ableiten. Im Vergleich zu den 1990er-Jahren ist die Einkommensungleichheit zwar gestiegen, dies ist nicht zuletzt Ergebnis der höheren Erwerbstätigkeit von Geringqualifizierten, Älteren und Frauen.“
Hat er sich durch Kapitel 7 im Hauptteil gelesen und von dort auf die Analyse der Einkommensverteilung im Anhang verweisen lassen, so findet der bis dahin sicher recht einsame Leser die erstaunliche Mitteilung:
„Die nachfolgenden Analysen haben zum Ziel, ein detailliertes Bild der Einkommensverteilung in Deutschland zu zeichnen. Dabei wird nicht nach den zahlreichen und zum Teil schwer zu ermittelnden Bestimmungsgründen für das Ausmaß der Ungleichheit zu einem Zeitpunkt und für die Entwicklungen der Ungleichheit im Zeitverlauf gesucht.“
Der Rat hat also nicht nach den Gründen für die gestiegene Einkommensungleichheit gesucht, kann aber ganz prominent vorne sagen, dass diese „nicht zuletzt Ergebnis der höheren Erwerbstätigkeit von Geringqualifizierten, Älteren und Frauen“ ist. Wie geht das? Wenig plausibel ist es ohnehin. Alles das, was wir seit Monaten ständig in der Zeitung und überall sonst lesen, dass die Einkommen der Reichen weit stärker steigen als die der Normalverbraucher und die Einkommen der Superreichen stärker als die der bloß Reichen, und die Einkommen der Milliardäre am allerstärksten, all das soll „nicht zuletzt“ daran liegen, dass mehr Ältere und Frauen arbeiten.
Wie der Sachverständigenrat zu dem äußerst erstaunlichen Befund kommt, lässt sich mit einiger detektivische Mühe nachvollziehen, indem man nochmal ganz genau Kapitel 7 liest.
Der Schlüssel zum Rätsel liegt in Ziffer 520, in der ganz nebenher das Ungleichheitsproblem auf die Lohnungleichheit eingeengt wird. Die richtig großen Einkommen, bei denen bekanntermaßen in Sachen Ungleichheit die Musik spielt, sind damit außen vor. Die Millioneneinkommen der Spitzenmanager auch, wie wir noch sehen werden, ja selbst die Einkommen in den unteren Hundertausenden.
„Für eine breite Wohlstandsverteilung ist vor allem der Arbeitsmarkt wichtig, da die Erwerbstätigkeit die Haupteinkommensquelle für die meisten Haushalte ist.“
Es folgen kurz dargestellte, offenbar nicht publizierte Rechnungen zur Lohnungleichheit und Beschäftigtenstruktur. Danach lasse sich ein Viertel der Zunahme der Lohnungleichheit (nicht der Einkommensungleichheit!) seit Mitte der 90erJahre auf eine Veränderte Zusammensetzung der Beschäftigten nach Alter und Ausbildungsstand erklären. Das rechtfertigt keinesfalls die auf Einkommensungleichheit bezogene Behauptung des Sachverständigenrats: „ist die Einkommensungleichheit zwar gestiegen, dies ist nicht zuletzt Ergebnis der höheren Erwerbstätigkeit von Geringqualifizierten, Älteren und Frauen.“
Die Durchschnittslöhne der verschiedenen Gruppen bewegen sich allesamt im Bereich von zehn bis 20 Euro. Der Sachverständigenrat will uns allen Ernstes weiß machen, dass ein großer Teil dessen, was die Ungleichheitsdiskussion in der Öffentlichkeit befeuert allein daher rührt, dass es unter den Lohnempfängern mit bescheidenen Löhnen wie diesen Gewichtsverschiebungen gegeben hat. Nein. Sie resultiert daher, dass die Löhne der normalen Lohneinkommensbezieher seit über einem Jahrzehnt stagniert haben, wie auch der Sachverständigenrat feststellt, während die Einkommen der Reichen kräftig gestiegen sind, was er gänzlich – und in einem Kapital mit diesem Erkenntnisgegenstand grob unzulässig – verschweigt.
Zur Darlegung des Ausmaßes der Verdunkelung, die der Sachverständigenrat durch Verteilung seiner widersprüchlichen Aussagen an drei weit auseinanderliegende Stellen im Gutachten betreibt, sei erwähnt, dass es mich mindestens zwei Stunden mühsamer Recherche gekostet hat, um diese (Nicht-)Zusammenhänge klar zu bekommen.
Selbst wenn man wollte, könnte man nichts tun?
Durch Verknüpfung von nicht zusammen passenden Aussagen hat der Sachverständigenrat also dargelegt, dass man nichts gegen die Einkommensungleichheit tun muss. Zur Sicherheit stellt er noch klar – in einem einzigen apodiktischen Satz -, dass man außer eventuell hinterher umzuverteilen (aber Umverteilung haben wir eh schon zu viel) nichts unternehmen darf, damit die Markteinkommen gleicher verteilt werden:
„Aufgrund des komplexen Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage auf den Absatz- und Faktormärkten ist es allerdings in der Regel unmöglich, direkt und ohne nicht beabsichtigte Nebenwirkungen ein gleicheres‘ Marktergebnis durch staatliche Regulierung herbeizuführen.“`
Diese Behauptung klingt erst mal überzeugend, ist aber zum einen ohne Quellenangabe und zum anderen eine Trivialität ohne Aussagegehalt. Es stimmt, dass Veränderungen der Rahmenbedingungen immer Nebenwirkungen haben. Wenn das ein Grund wäre, etwas nicht zu tun, wäre die Politik am Ende und die Anarchie würde regieren. Das Kriterium kann nur sein, dass störende Nebenwirkungen erheblich sind, in Relation zur Zielerreichung. Mit dieser Frage beschäftigt sich der Sachverständigenrat gar nicht erst. Die OECD aber tut es in einer Studie zur Ungleichheit mit dem Titel „Divided we stand: Why inequality keeps rising“, die der Sachverständigenrat in diesem Kapital andernorts zitiert. Die Industrieländerorganisation kommt in einer ökonometrischen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass sich Veränderungen in der Ungleichheit der Einkommen vor allem mit Änderungen in den Institutionen am Arbeitsmarkt (Gewerkschaftseinfluss, Kündigunsschutz etc) und der Arbeitsmarktpolitik erklären lassen. Was der Sachverständigenrat so apodiktisch ohne Quelle behauptet, ist also keinesfalls akzeptierte Ökonomenweisheit. Es steht in Widerspruch zu einer respektablen Quelle, welche die Sachverständigen ausweislich der Zitierung auch zur Kenntnis genommen haben.
Die Kenntnis der OECD-Studie mit gegenteiligem Ergebnis hat sie auch nicht gehindert, gezielt den Eindruck zu erwecken, als seien Gewichtsverschiebungen unter Arbeitnehmergruppen der Hauptgrund für steigende Ungleichheit. Beides ist in hohem Grade manipulativ und mit der üblichen wissenschaftlichen Ethik, wie sie die Professoren von jedem Schreiber einer Seminararbeit erwarten, nicht vereinbar.
Kreative Dateninterpretation
Mein Dank geht an Paul Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, der mir für die folgenden Passagen wertvolle Orientierungshilfe im Dschungel der Statistiken geleistet hat.
Der Sachverständigenrat schreibt:
„Der Bevölkerungsanteil von armutsgefährdeten Personen, die über weniger als 60 % des Medianeinkommens verfügen, liegt seit Mitte der 2000er-Jahre bei etwa 15 % (BMAS, 2013).“
Das ist zwar nicht wirklich falsch aber tendenziös. Man hätte auch schreiben können: „ .. lag seit Mitte der 2000er-Jahre bei rund 14,5% und stieg in den letzten beiden Jahren auf 15,1 und zuletzt 15,2 Prozent.“ (Nachtrag vom 21.11.: Im Jahr 20113 stieg die Quote nach Angaben des Statistischen Bundesamts vom 19.11. auf 15,5 Prozent. Der Sachverständigenrat residiert übrigens beim StatistischenBundesamt.)
Die Sachverständigen schreiben weiter:
„Ein geeigneteres Maß der Armutsgefährdung ist der Anteil der Empfänger von Mindestsicherungsleistungen an der Gesamtbevölkerung (Bauer et al., 2014). Diese Mindestsicherungsquote ist seit dem Jahr 2006 tendenziell rückläufig und lag im Jahr 2012 bei lediglich 8,8 %.“
Der Sachverständigenrat beruft sich hier auf ein populärwissenschaftliches Buch („Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet“). Das erscheint für eine starke Aussage wie diese, bei der unter anderem Eurostat und Statistisches Bundesamt eine andere Meinung vertreten, nicht ausreichend um die Behandlung des Themas wissenschaftlich seriös erscheinen zu lassen. Gegen die Mindestsicherungsquote als „besseren Indikator“ spricht etwa die Tatsache, dass einige Leistungen für Menschen mit zu geringem Einkommen dabei nicht berücksichtigt sind, wie zum Beispiel Wohngeld. Wer wegen sehr geringen Einkommens Anspruch auf Wohngeld hat, den würden zumindest viele als armutsgefährdet betrachten.
Die Weisen haben noch mehr starke Aussagen zu bieten:
„Das Auftreten absoluter Armut ist in Deutschland durch das staatliche Grundsicherungssystem so gut wie ausgeschlossen.“
Sie liefern keine Quelle für diese apodiktische, und für jeden, der mit offenen Augen durch die Welt geht, falsche Behauptung. Eurostat zufolge lag der Anteil von Haushalten in Deutschland, die in erheblicher materieller Deprivation leben (vulgo: absolut arm sind) 2012 bei 5,4% und damit nur ganz knapp unter dem bisherigen Maximum von 2008. Im Jahr 2005 war der Anteil noch um 0,8 Prozentpunkte niedriger. Das lässt sich schwer unter „so gut wie ausgeschlossen“ subsumieren. Vielleicht weiß der Sachverständigenrat ja mehr als Eurostat. Dann hätte er es uns aber nach allen Regeln der Wissenschaft mitteilen müssen.
Wenn ich mich nicht täusche ist die einzige Erwähnung der Einkommen der Reichen in Ziffer 686, wo erwähnt wird, dass diese nicht so gern an Haushaltsbefragungen zu Einkommen und Vermögen teilnehmen, wie dem vom Sachverständigenrat verwendeten sozioökonomischen Panel. Die Milliardenvermögen und Multimillioneneinkommen sind also nicht enthalten. Die Topmanager mit Millioneneinkommen auch nicht. Macht aber angeblich nichts, denn:
„Seit dem Jahr 2002 werden deshalb im SOEP mittels einer gesonderten Stichprobe Hocheinkommensbezieher separat erfasst. Auf diese Weise gelingt es, eine entsprechende Verzerrung am oberen Rand der Verteilung zu reduzieren (Frick et al., 2007).“
Danach kommt die beruhigende Feststellung, das Panel gebe ein repräsentatives Bild ab. Liest man bei Frick et al. nach, so stellt man fest, dass die Panel-Organisatoren um die Einkommen der Befragten nicht schon bei 40000 Euro aufhören zu lassen, besondere Anstrengungen unternommen haben, um auch eine vernünftige Anzahl von Befragungsteilnehmern mit – halten Sie sich fest – Einkommen von 40.000 bis 60.000 Euro einzubeziehen. Wenn das Resultat ein repräsentatives Abbild sein soll, ist es kein Wunder, dass die „Sachverständigen“ Einkommensungleichheit für ein geringes Problem halten.
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Vermögensungleichheit ist auch kein Problem
Bei der Analyse der Vermögensverteilung kommen zunächst lange Ausführungen darüber, wie schwierig die genaue Erfassung ist, unter anderem weil die Hochvermögenden nicht gerne in Befragungen Auskunft über ihre Milliarden geben. Dann kommt schon die fragwürdige Behauptung:
„Andere Datenquellen für detaillierte Vermögensanalysen … sind für Deutschland nicht vorhanden.“
Die Behauptung ist sehr fragwürdig, weil sich im Literaturverzeichnis des Kapitels die Studie findet:
Der EZB-Ökonom Philip Vermeulen hat anhand der öffentlich zugänglichen Daten über die Vermögen der Superreichen, von denen es in Deutschland besonders viele mit besonders hohen Vermögen gibt, die Informationen aus den Haushaltsbefragungen ergänzt und daraus korrigierte Daten über die Vermögensverteilung berechnet. Danach ist die Vermögensverteilung in Deutschland erheblich ungleicher als in den meisten anderen europäischen Staaten und fast so ungleich wie in den USA, wo das oberste Hundertstel sich anschickt die „unteren“ 90 Prozent vermögensmäßig zu überholen. Das reichste Prozent hält danach in Deutschland rund ein Drittel des Vermögens, in Frankreich und Italien ist es nur rund ein Fünftel. Die reichsten fünf Prozent halten über die Hälfte des Vermögens. Solche Zahlen fehlen völlig in der Analyse der Sachverständigen im Hauptteil ihres Gutachtens. Aber die Professoren brauchen eh keine Zahlen, um zu ihrer wichtigsten und abschließenden Botschaft zu kommen, welche die Reichen dafür entschädigt, dass sie in diesem Kapitel zur Ungleichheit kaum erwähnt wurden:
„Neiddebatten und Maßnahmen, welche die Renditechancen schmälern, wie etwa Vermögensteuern, können die Investitionsbereitschaft hemmen und die wirtschaftliche Dynamik schwächen.“
Da ist es gut, dass wir an anderer Stelle im Gutachten schon gesehen haben: eine Investitionsschwäche gibt es trotz niedriger Investitionen nicht. Soll also niemand einwenden: wenn schon die kräftig sprudelnden Gewinne und Vermögenseinkommen der letzten zehn Jahre keine Investitionen hervorgebracht haben, müssen wir dann wirklich die Vermögensbesitzer noch reicher werden lassen, in der unsterblichen Hoffnung, dass sie dann vielleicht doch irgendwann wieder in Produktivvermögen investieren?
Wirtschaftsweise weisen Kritik zurück
Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und manipulieren – eine Detailansicht (Teil 1)
Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen: Teil 2 – Ungleichheit (1)
Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen: Teil 4 – Leistungsbilanz