Von Carl Waßmuth.* Am Dienstag, den 17. Mai 2017, erlebte die Demokratie in Deutschland eine kleine Sternstunde. Der Glücksmoment des Parlamentarismus kam ganz unscheinbar daher, in Form einer Sitzung einer der großen Parteien, wie es sie im Laufe der letzten großen Koalition schon hunderte gegeben hat. Oft wird unsere Demokratie belastet und nicht selten auch beschädigt durch Fraktionszwang, Übergehung des Wählerwillens und Brechen von Wahlversprechen. All das trat in einer Sitzung der SPD-Fraktion in den Hintergrund und es bildete sich spontan eine von Partei- und Fraktionsspitze ungeplante Mehrheit.
Das Thema der Sitzung war ein großes Paket von Grundgesetzänderungen, von denen eine die Privatisierung der Autobahnen einleiten könnte. Und genau diese Gefahr brachte die Abgeordneten dazu, zu murren. Es muss ein so deutliches Murren gewesen sein, dass es die Fraktionsspitze bis ins Mark erschütterte. Die Politikprofis reagierten sofort. Sie sagten nicht nur die vorgesehene Probeabstimmung ab, sie rannten auch gleich zum Koalitionspartner und verschoben die ganze Grundgesetzänderung auf einen unbestimmten Tag in der Zukunft.
Dass die Stimmung in der SPD-Fraktion kippte, war nicht von ungefähr gekommen. Monatelang hatte man den Abgeordneten Stück für Stück, Artikel für Artikel vorgerechnet, was alles privatisiert würde. Und damit die Abgeordneten auch verstehen, was das bedeutet, wurden sie angeschrieben, angerufen, es wurden zig-tausende Unterschriften gesammelt und übergeben.
Das Glück währte nur kurz. Martin Schulz eilte herbei. Er hatte sich zu dem Thema noch nie öffentlich geäußert. Jetzt traf er sich hinter verschlossener Tür mit den Verhandlungsführern im Bundestag und beriet mit ihnen, wie die Linie von Parteivorstand und Fraktionsvorstand wieder hergestellt werden könnte. Da traf es sich, dass Kampagnenstrategen für diesen Fall etwas vorbereitet hatten: In Gutachten regierungsnaher Berater hatte man ein Schreckgespenst ausmalen lassen, das noch größer erscheinen sollte als die formelle Privatisierung der Autobahnen und ihr anschließender Ausverkauf über öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP). Dieses Gespenst trug den Namen „Netz-ÖPPs“. Das sollen ÖPPs sein, die zusammenhängend ganze Bundesländer oder das ganze Autobahnnetz erfassen. Daneben sollen die künftig von der Kette gelassenen ÖPPs klein und harmlos aussehen. Am Mittwochabend wurde verkündet, dass solche Netz-ÖPPs künftig grundgesetzlich ausgeschlossen würden. Auch der Verkauf von Tochtergesellschaften wurde nun grundgesetzlich ausgeschlossen, das hatte man zuvor wohl vergessen. Und nun konnte die Parteispitze sagen: Jede Privatisierung der Autobahnen wird ausgeschlossen! Im Willy-Brandt-Haus begann das „Team Direktkommunikation“ des SPD-Parteivorstands, hunderte E-Mails zu beantworten, die in den letzten Tagen und Wochen zur Autobahnprivatisierung eingegangen waren. Alle enthielten den gleichen Text: Privatisierung ausgeschlossen! Am Donnerstag früh wurde die widerständige Fraktion zu frühmorgendlichen Sondersitzung einberufen, die neuen Texte wurden ihnen präsentiert als „Einigung der Koalition“. Die Sitzung soll sehr kurz gewesen sein, es gab nur wenige Fragen. Am Freitag reisten die Abgeordneten ab in die Wahlkreise. Ein Insider berichtete, „dort werden die jetzt einzeln beatmet“.
Worum geht es in den über Nacht aus der Tasche gezauberten Änderungen? Es handelt sich weiterhin um eine Privatisierung: Zum einen formell, und zum zweiten, weil ÖPP nicht nur nicht ausgeschlossen wird, sondern erheblich erleichtert. Die Berliner Zeitung zitierte am Samstag zwei Verfassungsjuristen, die genau das bestätigen. „Netz-ÖPPs“ und ihre angebliche Verhinderung im Grundgesetz waren und sind eine riesige Nebelkerze für die Medien und auch für fachfremde Abgeordnete. Die Parteispitze täuscht ihre eigenen Genossen. Dabei belässt sie es nicht bei dem einfachen Überraschungscoup vom Mittwochabend der letzten Woche. Morgen, in der entscheidenden Fraktionssitzung der SPD wird es vermutlich eine Art besonderes Schauspiel geben. Dazu werden nach bisherigem Kenntnisstand in die ansonsten streng nicht-öffentliche Sitzung externe Gäste eingeladen. Ziel der Fraktionsführung ist es vermutlich, den Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, sich hinter den Aussagen dieser Gäste/Experten zu verstecken. Eine erfahrene Sitzungsleitung kann diese Aussagen von Gästen durch Fragestellung und Moderation zudem in ihrem Sinne „einhegen“. Die Berliner Zeitung nennt das „die Choreographie“.
Das Vorgehen ist bekannt aus früheren entscheidenden Fraktionssitzungen. In der Sitzung zur Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe waren sogar Vertreter der Finanzwirtschaft eingeladen. Problematisch dabei ist insbesondere, dass die getroffenen Aussagen in nicht-öffentlicher Sitzung nur mündlich erfolgen und nicht protokolliert werden. Niemand erfährt hinterher, worauf sich die Abgeordneten bei ihrer Entscheidung stützten. Bisher wird berichtet, dass Prof. Hermes, der Bundesrechnungshof und ver.di eingeladen werden sollen. Dann können die Abgeordneten später sagen, „Ein Verfassungsjurist, der Bundesrechnungshof und die Gewerkschaft ver.di haben uns bestätigt, dass mit dem neuen Gesetzestext jetzt alle maßgeblichen Gefahren beseitigt wurden.“ Hermes wusste am Samstag noch gar nichts von der für ihn vorgesehenen Rolle. Möglicherweise wird er noch durch einen Kollegen ersetzt. Aber Verdi hatte tatsächlich in einer Pressemitteilung zum Thema am Donnerstag nichts mehr zu Privatisierungsgefahr gesagt. Und vom Bundesrechnungshof wurde am Wochenende ein Gutachten bekannt, dass in seiner Aussage sehr eigenartige Lücken aufweist. Den neuen Passagen wird bestätigt, dass sie eine Teilprivatisierung ausschließen. Auch die Prüfungsrechte hält man nun für ausreichend.
Bleibt zu hoffen, dass die Abgeordneten sich nicht blenden lassen und darauf beharren, dass „keine Privatisierung“ eben genau das bedeuten muss und nicht „keine Netz-ÖPPs“. Letztere hat auf Erden noch kein Mensch gesehen, die konkrete Gefahr der formellen Privatisierung kennt man hingegen von der Deutschen Bahn, die „einfachen“ ÖPPs sind ein milliardenschweres und gefährlich teures Finanzprodukt insbesondere der Versicherungswirtschaft, das auf der ganzen Welt nach der Daseinsvorsorge greift. Das „nein“ sagen zur Autobahnprivatisierung könnte leichter sein, als man denkt. Es bestehen gute Aussichten, dass am 1. Juni über die 13 zur Änderung vorgeschlagenen Grundgesetzartikel getrennt abgestimmt wird. Die Geschäftsordnung des Bundestags lässt das in §47 zu, Linke und Grüne werden so eine getrennte Abstimmung beantragen. Dann kann jeder Abgeordnete unabhängig von seinem Stimmverhalten zum neuen Bund-Länder-Finanzausgleich „nein“ sagen zur Autobahnprivatisierung. Würde die Autobahnprivatisierung auf diesem Wege abgelehnt, wäre das dann eine echte, nachhaltige Sternstunde unserer Demokratie.
*Carl Waßmuth ist Vorstandsmitglied von Gemeingut in BürgerInnenhand, GiB
[29.5.201]