Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft, kurz TTIP, stellt für Kritker eine Gefahr für die Lebensmittelsicherheit, die öffentlichen Finanzen oder gar die Demokratie dar.In den letzten Wochen haben sie den Befürwortern eine schwere Schlappe beigebracht.. Die Organisation Foodwatch hat ein Dossier zusammengestellt, in dem sie auflistet, wo Befürworter falsche Versprechungen gemacht haben. Unter dem Titel „Die Freihandelslüge“ machte Foodwatch-Chef Thilo Bode daraus ein sehr
erfolgreiches Buch.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sah sich als Reaktion auf die Vorwürfe genötigt, seine Wachstumsversprechen auf der eigenen Website zu korrigieren. Der Verband hatte unter Verweis auf eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts CEPR im Auftrag der EU-Kommission ein um 0,5 Prozent erhöhtes jährliches Wirtschaftswachstum versprochen. Nun hat der BDI es dahingehend korrigiert, dass das Bruttoinlandsprodukt nur langfristig um insgesamt 0,5 Prozent steigen würde.
Die EU-Kommission nahm die gleiche falsche Darstellung geräuschlos von ihrer Website. Die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft korrigierte ihre Darstellung ebenfalls.
Der Automobilverband VDA, den Foodwatch in einem offenen Brief aufgefordert hat, keinen jährlichen Anstieg der Wirtschaftskraft der EU um 119 Milliarden Euro als Folge von TTIP zu behaupten, tat sich schwer. VDA-Chef Matthias Wissmann hatte peinlicher Weise noch in einem am 13. März erschienenen Interview für TTIP mit dem Versprechen geworben, dass es „enorme Wachstumspotentiale“ eröffne. Bereits zwei Tage vorher hatte der BDI gegenüber Foodwatch den Fehler eingeräumt und die Wachstumsbehauptungen sehr stark relativiert. Am 25.3. schließlich zog auch der VDA nach, strich die Wachstumsverheißungen von seiner Internetseite und löschte eine Rede Wissmans. Dieser tat sich mit der Einräumung seiner Übertreibungen wohl auch deshalb besonders schwer, weil er den „Bedenkenträgern“ offensiv vorgeworfen hatte, die Augen vor den „großen Wachstumswirkungen“ von TTIP zu verschließen.
Auch die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft musste ihre TTIP-Wachstumsversprechen stark relativierten.
Die Quelle all dieser Missgeschicke liegt in der Studie des Center for Economic Policy Research CEPR aus dem Jahr 2013. Dort werden Szenarien für den Abbau von Handelshemmnissen untersucht. Im Hauptteil der Studie ist durchgängig für das weitestgehende Liberalisierungsszenario von einer langfristigen Erhöhung der Wirtschaftsleistung um ein halbes Prozent die Rede. Aber ausgerechnet im ersten Satz der Zusammenfassung, der gleichzeitig der erste Satz der Studie ist, fügten die Autoren ein „pro Jahr“ ein. Das ist nicht eindeutig falsch, weil die Niveau-Erhöhung dauerhaft bestehen bleiben soll. Es lädt allerdings zu dem Missverständnis ein, dass das Wachstum jedes Jahr um ein halbes Prozent höher wäre als ohne Abkommen. So rechtfertigt auf Anfrage Joseph Francois, der die Studie verantwortete, die Einfügung von „pro Jahr“. Zur Frage, ob er damit Missverständnisse provoziert und billigend in Kauf genommen hat, nahm der US-Wissenschaftler, ein früherer Direktor der US-Kommission für internationalen Handel, der das Welthandelsinstitut an der Universität Bern leitet, nicht Stellung.
Organisationen wie der BDI und die EU-Kommission und der VDA erlagen der Versuchung, den missverständlichen Einleitungssatz so weiterzuverbreiten, dass die Aussage zwar gut klang, aber falsch war.
Auch eine Studie des Info-Instituts für das Wirtschaftsministerium ließ die Wirkungen eines Freihandelsabkommens vorne besser klingen als im Hauptteil der Studie und provozierte damit übertriebene Darstellungen der segensreichen TTIP-Wirkungen bei Befürwortern. In einem von mehreren Szenarien hatte das Institut angenommen, dass außer dem Handelshemmnis Atlantik alle Hindernisse zwischen Europa und den USA wegfallen, also auch Währung und Nicht-EU-Mitgliedschaft der USA. Dieses Szenario bezeichneten die Autoren als eher unrealistisch und nicht ihr „präferiertes Szenario“. Dennoch stellten sie in der Zusammenfassung vorne allein die für dieses Szenario angenommene Zunahme von bis zu 110 000 Arbeitsplätzen in Deutschland heraus. Der leitende Autor, Gabriel Felbermayr, verteidigte dies mit dem Hinweis, jeder Leser müsse die Formulierung „bis zu“ als Obergrenze verstehen.
Die 110 000 Arbeitsplätze machten dennoch Karriere als vermeintlich zu erwartende Wirkung einer TTIP-Vereinbarung. Nicht einmal das relativierende „bis zu“ überlebte überall. Zu denen, die den Zusatz wegließen, gehören ausgerechnet die fünf Wirtschaftsweisen, von denen man am ehesten akademische Gründlichkeit erwarten würde.
Foodwatch vermutet eine absichtsvolle Desinformations-Kampagne, und die Indizien sind durchaus da. Die Studien, die zugrunde lagen, wurden jeweils von den Beförwortern von TTIP in Auftrag gegeben und bezahlt. Beide haben das Muster, dass die wichtigen Relativierungen neben den Wachstums- und Beschäftigungsverheißungen von Hauptteil über Einführung und dann hin zur Presseerklärung immer dürftiger werden. Im Zusammenspiel mit der bekannten Tatsache, dass die meisten Medienvertreter nur die Presseerklärung und bestenfalls die Zusammenfassung lesen, konnte man so mit einer übertriebenen Darstellung der TTIP-Wirkungen in der Presse rechnen. Diese gab es auch. Auch die für TTIP werbenden Wirtschaftsverbände beriefen sich zur Verteidigung ihrer Falschaussagen auf missverständliche Passagen in den vorderen Teilen der zitierten Studien. Es ist aber wenig glaubwürdig, dass die Fachleute dieser Verbände auch nur die Zusammenfassung dieser Studien gelesen haben, und dass sie darüber hinaus nicht den Sachverstand haben, auch anhand der Zusammenfassung ihren Fehler zu erkennen. Absicht ist da schon die deutlich plausiblere Hypothese.
Absicht dürfte auch hinter einem anderen Phänomen liegen. Dem Fortleben des Chlorhuhns als Symbol des Widerstands der TTIP-Gegner, obwohl keine der wichtigen Gruppen unter den Gegenern dieses Symbol noch benutzt. Gemeint war das Chlorhuhn ursprünglich von den TTIP-Gegnern als Sinnbild für die befürchtete Aufweichung europäischer Schutznormen gemacht. Sie setzten erfolgreich auf Emotionen der Konsumenten, die die Kombination aus Chlor und Fleisch eklig finden. Allerdings konnte die Gegenseite relativ überzeugend darlegen konnte, dass Desinfektion von Schlachthähnchen, wie sie in den USA üblich ist, weder gesundheitsschädlich ist, noch europäische Hähnchen als gesünder gelten können.
Der Chef von Foodwatch, Thilo Bode, sagt, man habe das Chlorhuhn nie in den Vordergrund geschoben, weil die Chlorbehandlung der Schlachthühner nicht das Thema sei. „Es geht uns darum, krankheitsfördernde Zustände in der Tierhaltung abzustellen, damit weder standardmäßige Antibiotikagaben noch Chlorbehandlung nötig sind.“ Dabei kann er sich auch auf eine Studie der Europäischen Behörde für Nahrungsmittelsicherheit für die EU-Kommission berufen, in der die Autoren festhalten: „Desinfektion oder die Nutzung von Antibiotika führen zu größerer Nachlässigkeit bei der Nahrungsmittelverarbeitung und der Kontrolle der Produktionsstufen und erschweren es, festzustellen, ob und wie Nahrungsmittel kontaminiert sind.“
Auch die Organisation Campact, die das Chlorhuhn offensiv in die öffentliche Diskussion getragen hat, ist nicht mehr glücklich mit ihrer Schöpfung. Seit Sommer letzten Jahres habe man das Chlorhuhn fast völlig aus der eigenen Kommunikation verbannt, sagt ein Sprecher. Doch als Symbol für den Protest und als Vignette für Bedenkenträgertum lebt es weiter – und zwingt seine Erfinder, der Öffentlichkeit immer erst zu versichern, dass es nicht nur um das Chlorhuhn gehe, sondern dass sich der Protest gegen private Schiedsgerichte für Investoren oder gegen befürchtete Absenkungen der Schutzstandards richte.
Die Suche in der Pressedatenbank nach dem Wort Chlorhuhn oder – hähnchen in seinen verschiedenen Schreibweisen in den großen überregionalen Zeitungen im ersten Quartal ergab: Rund 20-mal wurde der Ausdruck von Journalisten verwendet, fast immer als Vignette für unvernünftiges oder gar hysterisches Bedenkenträgertum. Fünfmal werden Befürworter eines Abkommens zitiert, wie sie die Vignette in gleicher Weise verwendeten. Nur zweimal wurde ein Abkommengegner mit diesem Ausdruck zitiert, davon einmal mit der Aussage, es gehe nicht um Chlorhühnchen, einmal mit der Aussage, die Diskussion über das Chlorhuhn habe das Bewusstsein für Gesundheitsrisiken geschärft.
Das Chlorhuhn erinnert an das Grinsen ohne Katze aus der Geschichte von Alice im Wunderland. Die Katze verschwindet, lässt aber ihr Grinsen zurück. Denn die TTIP-Werber halten dieses fest.
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