Wie man die Demokratie nicht gegen Populisten verteidigt

5. 04. 2018 | Wer „die Demokratie gegen Populisten verteidigen“ möchte, der meint es zwar gut, gerät aber in einen Widerspruch. Trump und Co. sind bei Wahlen vor allem deshalb erfolgreich, weil die Zustände eben nicht demokratisch sind. Das Fehlen einer funktionierenden Demokratie bringt sie erst hervor. Sich aufzureiben an populären Außenseitern, sich zu empören über deren Rückständigkeit und Gefährlichkeit, ist emotional verständlich, aber ein Weg in die Sackgasse. So argumentiert Paul Schreyer in seinem neuen Buch Die Angst der Eliten. Eine Leseprobe.

Von Paul Schreyer. Was genau ist eigentlich Populismus? Der Begriff geht auf die römischen Popularen zurück, Politiker, die sich nicht auf die Elite , also die Führungsschicht der Gesellschaft, sondern auf das Volk (lateinisch populus) stützten und dort Rückhalt suchten, wie etwa der später ermordete Volkstribun Tiberius Gracchus im 2. Jahrhundert vor Christus. Damalige Geschichtsschreiber wie Cicero, der selbst zur Oberschicht gehörte, bewerteten diesen Populismus als negativ, da die etablierte Ordnung dadurch in Frage gestellt wurde.

In neuerer Zeit kam der Begriff Ende des 19. Jahrhunderts in den USA in Gebrauch. Hintergrund war die massiv zunehmende Ungleichheit in dieser Zeit. Der amerikanische Historiker Howard Zinn schrieb zu den damaligen Zuständen:

Die industriellen und politischen Eliten (…) nahmen das Land in Besitz und generierten das größte Wirtschaftswachstum in der Geschichte der Menschheit. Sie erreichten dies mit Hilfe und auf Kosten von schwarzen Arbeitern, weißen Arbeitern, chinesischen Arbeitern, der Arbeitskraft europäischer Einwanderer und der Arbeitskraft der Frauen. Sie bezahlten sie je nach Rasse, Geschlecht, nationaler Herkunft und sozialer Klasse unterschiedlich und schufen so verschiedene Ebenen der Unterdrückung – eine gekonnte Terrassierung, um die Reichtums-Pyramide zu zementieren.

Das erinnert an die heutige Praxis der Leiharbeit und Werkverträge, wo ebenfalls gleiche Arbeit unterschiedlich bezahlt wird, was eine Solidarisierung der Arbeiter, einen Zusammenschluss, von vornherein hemmt. Zinn zitiert aus dem 1879 erschienenen Bestseller Progress and Poverty (auf Deutsch: Fortschritt und Armut) des Ökonomen Henry George – und auch das klingt aktuell:

Es stimmt, dass der Reichtum stark zugenommen hat, und dass der Durchschnitt an Komfort, Freizeit und Kultiviertheit gestiegen ist. Aber diese Zugewinne sind nicht allgemein. Die niedrigsten Klassen haben keinen Anteil daran. (…) Diese Verbindung von Armut mit Fortschritt ist das große Mysterium unserer Tage. (…) Es bildet sich ein vages, doch allgemeines Gefühl der Enttäuschung, eine zunehmende Verbitterung in den arbeitenden Klassen, ein weit verbreitetes Gefühl von Unruhe und gärender Revolution.

Angesichts der immer stärker werdenden Konzentration von Macht und Reichtum bei den als „Räuberbarone“ bezeichneten Erfolgskapitalisten wie Rockefeller (Öl), Carnegie (Stahl) oder Morgan (Bankwesen) spaltete sich die Gesellschaft und neue Parteien entstanden.

Ursprünge der Populisten

Eine dieser neuen und radikalen Kräfte war die People‘s Party (Volkspartei), auch Populist Party genannt. Sie hatte ihre Ursprünge in ländlichen Bauernvereinigungen, die sich gegen zunehmende Drangsalierung und Unfreiheit wehrten. Die Bauern waren gezwungen, für dringend benötigte Kredite Teile ihrer Ernte im Vorhinein an Händler und Bankiers zu verpfänden, was sie immer öfter in eine existenzielle Abhängigkeit von den Geldverleihern brachte, die sich, bei Zinsen um 25 Prozent, bald kaum noch von Sklaverei unterschied. Auch von den reichen privaten Eisenbahngesellschaften, die als Monopolisten stark überteuerte Frachtraten verlangten, wurden die Bauern geschröpft. Die Regierung kam ihnen nicht zu Hilfe, beide großen Parteien waren beherrscht von den Wohlhabenden.

In dieser Situation begannen die Bauern, sich selbst zu helfen und Allianzen untereinander zu bilden, die sich in den 1880er Jahren von Texas aus rasant über das ganze Land ausbreiteten. Die Bauern schufen Einkaufsgemeinschaften, solidarische Versicherungen, organisierten den Verkauf ihrer Ernte kooperativ und stellten politische Forderungen wie die nach einem Acht-Stunden-Tag für alle Amerikaner. Mit den Arbeitern in den Städten, die ebenso immer stärkerem Druck ausgesetzt waren und im selben Zeitraum zunehmend große Streiks organisierten, die brutal, teilweise mit Polizei und Militär, niedergeschlagen wurden, solidarisierte man sich. Die sogenannte Farmer‘s Alliance hatte 1889 etwa 400.000 Mitglieder überall in den USA. Der Historiker Lawrence Goodwyn nannte es „die massivste Organisierungskampagne aller Bürgerinitiativen im 19. Jahrhundert in ganz Amerika“.

Aus dieser Bewegung heraus entstand 1891 die neue People‘s Party. Deren Mitglieder nannten sich selbst „Populisten“. Der Begriff war positiv besetzt, als Ausdruck einer Interessenvertretung der breiten Bevölkerung, der eine Geldelite feindlich gegenübersteht. Laut New Oxford American Dictionary ist ein „populist“ noch heute schlicht jemand, der „die Interessen der einfachen Menschen vertritt“. Im Programm der People‘s Party hieß es:

Wir kommen inmitten einer Nation zusammen, die an der Grenze zum moralischen, politischen und materiellen Ruin steht. Korruption beherrscht die Wahlurnen, die Parlamente, den Kongress und erfasst sogar den Hermelin der Richterbank. (…) Den Arbeitern in den Städten verweigert man das Recht, sich zu ihrem eigenen Schutz zu organisieren; importierte, verarmte Arbeitskräfte drücken ihre Löhne (…) Die Früchte der Mühen von Millionen werden dreist gestohlen, um kolossale Vermögen anzuhäufen.

Bei den Präsidentschaftswahlen von 1892 stimmten mehr als eine Million Amerikaner für den Kandidaten der Populisten, James Weaver, was einem Anteil von etwa 8 Prozent entsprach. Die Partei stellte in einigen Staaten des Mittleren Westens die Gouverneure. Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen unterstützten die Populisten dann den (am Ende die Wahl verlierenden) Kandidaten der Demokratischen Partei, die einige ihrer Ideen übernommen hatte. Danach schwand ihr Einfluss und die People‘s Party verlor an Bedeutung.

In den USA existiert also eine positive Tradition des Populismus. In Deutschland hingegen ist der Begriff, der sich eindeutig auf diese breite, kapitalismuskritische Bewegung der amerikanischen Bauern zurückführen lässt, klar negativ besetzt. Der Duden beschreibt Populismus als eine „von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen zu gewinnen“. Viel deutlicher kann man seine Ablehnung kaum formulieren. Was aber stört so am Populismus?

Fragwürdige Argumente gegen Populisten

Vier Argumente werden in der Regel genannt. Erstens würden Populisten die Bevölkerung aufteilen in eine mächtige Elite und ein entmündigtes Volk und damit Unfrieden verbreiten. Das ist sicher richtig. Zu diskutieren bleibt allerdings, ob diese Aufteilung nicht tatsächlich die Realität widerspiegelt. Die Erkenntnisse aus Kapitel 1 weisen in diese Richtung.

Zweitens heißt es, Populisten würden sich anmaßen, für alle zu sprechen, was betrügerisch sei. Denn einen einheitlichen Volkswillen gäbe es gar nicht, bloß viele einzelne Gruppen mit widersprüchlichen Wünschen. Das wiederum stimmt nur teilweise. Tatsächlich lassen sich eine ganze Reihe wichtiger Themen nennen, bei denen in Umfragen regelmäßig klare Mehrheiten eine ganz bestimmte Politik befürworten, wie etwa Steuererhöhungen für Reiche, höhere Renten, ein Verbot von Atomwaffen oder die Einführung bundesweiter Volksentscheide. Es gibt in einigen zentralen Fragen also durchaus einen messbaren „Volkswillen“, der von etablierten Parteien aber regelmäßig ignoriert wird – wie in Kapitel 1 geschildert.

Ein dritter Vorwurf lautet, dass Populisten immer wieder dem Nationalismus und Rassismus Vorschub leisten würden. Das ist oft zutreffend – rassistische Vorurteile sind tief in vielen Völkern verwurzelt und lassen sich leicht wecken und politisch nutzen. Außenseiterkandidaten nutzen das immer wieder für ihre Zwecke – was nicht erst seit dem von den Nazis angeheizten Hass auf Juden und vermeintlich „minderwertige Rassen“ bekannt ist. Dennoch: Nicht jeder, der für eine Stärkung souveräner Staatlichkeit gegenüber der grenzüberschreitenden Macht der Konzerne mit ihren privaten Schiedsgerichten und internationalen Lobbynetzwerken eintritt, ist auch ein Rassist. Die Vermengung dieser Begriffe ist manipulativ.

Ein vierter Vorwurf gegen Populisten lautet schließlich, sie hätten auf komplizierte Fragen meist zu einfache Antworten und unredlich schlichte Lösungen. Die Wähler würden getäuscht, denn Politik sei nun mal komplex und vielschichtig. Das stimmt zum Teil. Einfache Antworten können in die Irre führen – und oft tun sie es. Sie können aber auch schlicht die Wahrheit ausdrücken. Die jeweilige Einschätzung hat viel mit den eigenen Interessen zu tun, wem also eine bestimmte „einfache Lösung“ nützt oder schadet. Sie grundsätzlich als abwegig oder dumm anzusehen, ist selbst unsinnig. Demokratie an sich ist eine einfache Antwort auf komplizierte Probleme: gemeinsam abstimmen.

Wer sagt, dass Populisten „zu einfache Antworten“ geben, der meint eigentlich „betrügerisch einfache Antworten“. Daran aber ist nichts spezifisch Populistisches. Betrügen kann jeder, und irreführend einfache Antworten sind vertrauter Alltag in der Politik, egal welche Partei man betrachtet. Was man hier einigen Wenigen vorwirft, betrifft im Grunde alle.

„Fake-Populismus“ in der etablierten Politik

Angela Merkels wohl berühmtester Satz „Wir schaffen das“ ist zweifellos eine (zu) einfache Antwort auf die komplizierte Frage der Zuwanderung. Auch Merkels in krassem Widerspruch zum Geist dieses Satzes stehende Politik der „Sicherung der EU-Außengrenzen“ ist eine (unmenschlich) einfache Antwort auf die nicht abreißenden Flüchtlingstrecks aus den Armuts- und Krisengebieten der Welt. Auch diese Antwort löst langfristig keine Probleme. In der ZEIT hieß es dazu:

Die Perversion in der deutschen Flüchtlingspolitik besteht darin, mit dem mahnenden Zeigefinger einer Willkommenskultur auf alle anderen Länder zu weisen und zugleich lebensgefährliche Hindernisse aufzurichten, damit es eine Auslese derjenigen gibt, die es bis zur offenen deutschen Grenze schaffen: Wir machen es euch so schwer wie möglich, Deutschland zu erreichen, aber wenn ihr das geschafft habt, dann könnt ihr einen Asylantrag stellen. (…) Die Kosten der Moral werden an die Ränder verteilt, wo es den Gewinnern nicht wehtut und sie weiterhin im Wohlgefühl ihres eigenen Gutseins leben können. Den notwendigen Kampf an den Grenzen der EU oder den Rändern der Gesellschaft kann man ignorieren oder, was noch mehr Genuss der eigenen Moral verschafft, als Beweis für die Unwürdigkeit der dort lebenden schlechten Menschen nehmen.

Auch die Aussage „Deutschlands Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt“ des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck ist fraglos eine unseriös und irreführend simple Antwort auf die komplexe Frage, weshalb die Bundeswehr in Afghanistan stationiert ist. Unredlich vereinfachend erscheinen auch manche Forderungen von etablierten Politikern, wie etwa das von Innenminister Thomas de Maizière 2017 lancierte Gesetz zum Burkaverbot für Angestellte im öffentlichen Dienst, das auf eine Forderung der AfD zurückgeht. Wie sich herausstellte, ist von diesem Gesetz in Deutschland praktisch niemand betroffen. Auf Nachfrage der Presse, wie viele Beamtinnen ihren Beruf eigentlich vollverschleiert ausüben und ob eine Verschleierung am Arbeitsplatz in der Vergangenheit zu Problemen geführt habe, konnte das Innenministerium keinen einzigen Fall nennen. Dem Minister war dieses Vorhaben, das erkennbar kein reales Problem löst, aber sehr wohl populäre Stimmungen aufgreift, ein überaus wichtiges Anliegen. Immer wieder sprach er davon, bekannte sogar in der Bild-Zeitung: „Wir sind nicht Burka“.

Äußerungen wie die von Merkel, Struck oder de Maizière sind ebenso irreführend wie volkstümlich und eingängig. Solche Art von Täuschung könnte man als „gespielte Volksnähe“ oder „Fake-Populismus“ bezeichnen, da damit keine echten Lösungen im Interesse einer Mehrheit verbunden sind, sondern das Publikum bloß beschwichtigt wird. Wer also in seinen Formulierungen den Populismus insgesamt mit Betrügerei gleichsetzt – und viele Politiker und Journalisten tun das –, der rückt eine Volksnähe von Politikern generell in schlechtes Licht.

Kampf um Worte und Deutungen

Die gesellschaftliche Auseinandersetzung ist immer zuallererst ein Kampf um Worte. Wem es gelingt, einen Begriff mit verzerrter Bedeutung in die Debatte einzuschleusen, der hat den Streit schon zur Hälfte gewonnen. Menschen benutzen gängige Schlagworte wie „Verschwörungstheorie“, „Fake News“ oder eben „Populismus“ meist ohne ihren Sinngehalt zu prüfen. Aus manipulierter Sprache erwachsen dann, ganz wie von allein, Gedanken, die in die Irre führen.

Populismus, verstanden als historisch gewachsene Bewegung für soziale Verbesserungen und eine Stärkung der Demokratie, als Vertretung von Interessen der breiten Bevölkerung und Gegenpart zu einer abgehobenen, sich bereichernden Oberschicht, lässt sich kaum pauschal kritisieren. Lädt man den Begriff hingegen mit anderen Inhalten wie Betrug oder Rassismus auf, lässt sich leichter dagegen vorgehen.

Der Populismus-Vorwurf dient, so scheint es, vor allem dem Schutz der etablierten Eliten. Der Theaterdramaturg Bernd Stegemann, Autor des Buches Das Gespenst des Populismus, meint dazu sarkastisch:

Eine einfache Antwort ist dann falsch, wenn sie der eigenen Meinung widerspricht, und sie ist populistisch, wenn mit ihr Stimmen gewonnen werden sollen.

Wer „Populismus“ sagt, der möchte im Grunde eine rote Linie ziehen zwischen akzeptierter und unerwünschter Opposition – was zur Frage führt: von wem unerwünscht? Der Populismus-Warner tritt stets als ehrlicher Anwalt der Anständigen auf, wodurch die gewünschte Abwertung und Ausgrenzung der anderen vernünftig erscheint. Auf der großen Bühne der Politik geht es einmal mehr um die Deutungshoheit und eine überzeugende Inszenierung. Großer Theaterdonner und Nebelschwaden – das Publikum staunt und soll sich fürchten vor der beschworenen Gefahr. Die als Populismus bezeichneten Ansichten sollen nicht öffentlich gelten dürfen, nicht diskutiert werden, außerhalb der Debatte bleiben. Doch wer maßt sich an, solche Grenzen zu ziehen?

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Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem gerade erschienenen Buch Die Angst der Eliten – Wer fürchtet die Demokratie? (Westend Verlag, 224 Seiten, 18 Euro). Der Autor twittert unter @paul_schreyer.

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