Jens Winkler.* Das Bundesverfassungsgericht rechtfertigt die 5%-Sperrklausel für den Einzug in den Bundestag mit der Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments. Aber mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht BSW scheitert aktuell nach dem amtlichen Endergebnis der Bundestagswahl eine Partei mit 4,981 Prozent der Wählerstimmen an der 5%-Hürde, obwohl sie mehr als 5% der Sitze des Bundestages und Fraktionsstatus bekäme, wenn sie bei der Mandatsverteilung berücksichtigt würde. Wenn aber die Rechtfertigung für den Ausschluss einer Partei nicht greift, kann dieser dann verfassungskonform sein?
Parteien müssen laut Bundeswahlgesetz mindestens 5% der Zweitstimmen erreichen, um einen Sitz im Bundestag oder in den Landtagen zu erreichen. Die Vereinbarkeit dieser Regelung mit der Verfassung wird seit Längerem intensiv diskutiert. Das Bundesverfassungsgericht musste sich immer wieder damit beschäftigen.
Die Regelung schafft eine den Wählerwillen verzerrende Hürde. Sie hat zur Konsequenz, dass theoretisch beliebig große Stimmanteile bei der Parlamentsbildung unberücksichtigt bleiben könnten. Bei der Bundestagswahl 2013 fielen 15,7% der abgegebenen, gültigen Stimmen unter den Tisch, bei der saarländischen Landtagswahl 2022 sogar rekordverdächtige 22,3%. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits erhebliche Bedenken gegen die Legitimität der Sperrklausel ausgedrückt und behält sich deren Neubewertung ausdrücklich vor.
Früher galt auch bei Wahlen zum Europäischen Parlament für deutsche Parteien eine 5%-Hürde. Diese wurde 1979 vom Bundesverfassungsgericht legitimiert. Doch revidierte das Gericht dieses Urteil im Jahr 2011. Auch eine danach vom Gesetzgeber eingeführte 3%-Hürde erklärte Karlsruhe 2014 für nichtig. Die Begründung war jeweils, dass diese Beschränkungen nicht nötig seien, um die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu sichern. Im Europaparlament schließen sich Parteien länderübergreifend zu Fraktionen zusammen, sodass die Größe der einzelnen Parteien für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments keine große Rolle spielt.
Das Verfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass es eines „zwingenden Grundes“ für die Sperrklausel bedürfe (u.a. 2011 in Rn. 87). Es begründet die Legitimität des 5%-Quorums seit Jahrzehnten durchgängig mit der „Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments“. Durch die Sperrklausel solle verhindert werden, dass allzu viele kleine Splittergruppen entstehen (u.a. 2024 Rn. 225). Beim europäischen Parlament sei die Arbeitsweise ohne die Einzugshürde für kleine Parteien nicht gefährdet, beim Bundestag und den Landtagen hingegen schon.
Die Arbeitsweise des Bundestags und der Länderparlamente ist stark auf Fraktionen ausgerichtet, welche weitreichende Rechte haben. Das Verfassungsgericht stellte 2024 (in Rn 236) bzgl. der Sperrklausel klar:
„Für die Arbeits- und Funktionsfähigkeit grundlegend ist dabei die Fraktionsbildung der Abgeordneten entsprechend ihren gleichgerichteten politischen Zielen. Eine Sperrklausel sichert diese Voraussetzung so, dass Fraktionen grundsätzlich eine bestimmte Mindestgröße haben“
Der Fraktionsstatus ist im deutschen Bundestag, nach dessen Geschäftsordnung erreicht, wenn eine Partei mindestens fünf Prozent der Sitze des Parlaments innehat. Weiterhin gilt, dass die Anzahl der Mandate des Bundestags nur durch die Zweitstimmenergebnisse der Parteien bestimmt wird. Daher leuchtet es auf den ersten Blick ein, dass vom Gesetzgeber im Bundeswahlgesetz festgelegt ist, dass Parteien „nicht berücksichtigt werden (..), die weniger als 5% der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben“ (§4 Abs.2 Nr.2 BWahlG). Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung 2024 (Rn 240) aufgrund seiner Ausführungen zur Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit als „für diesen Zweck sachgerecht“ beurteilt.
Allerdings ist die Hürde von 5% der Zweitstimmen nicht identisch mit einem Zweitstimmenanteil, der einer Partei 5% der Parlamentssitze und damit den Fraktionsstatus zuspricht. Die dadurch entstehende Lücke, die ich „5%-Lücke“ nenne, wurde bislang, soweit ich erkennen kann, kaum beachtet.
Da die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts sich durchgängig auf die Arbeit des Parlaments und auf die Fraktionsdefinition bezieht, müsste eigentlich jede Partei bei der parlamentarischen Mandatsverteilung berücksichtigt werden, die nach dem gültigen Sitzzuteilungsverfahren Anspruch auf mindestens 5% der Mandate hätte. Dafür genügen immer weniger als 5% der Zweitstimmen. Wie viel weniger, hängt maßgeblich davon ab, wie viele kleinere Parteien an der Sperrklausel scheitern. Denn deren Stimmenanteil wird bei der Mandatsverteilung auf die erfolgreichen Parteien verteilt.
Durch das aktuelle Bundeswahlgesetz werden potentiell die Wähler von zwei Parteien mit sehr ähnlichem Zweitstimmenanteil, welche beide Anrecht auf die gleiche Anzahl an Sitzen sowie Fraktionsstatus hätten, massiv ungleich behandelt. Die Partei, die die einen gewählt haben, könnte als Fraktion ins Parlament einziehen, die Stimmen für die andere Partei verfallen, bzw. werden nicht gewählten Parteien zugeschlagen. Es kann auch der Fall auftreten, dass eine Partei bei einer Wahl mit knapp über 5% in den Bundestag einzieht, bei der nächsten Wahl aber knapp scheitert, obwohl sie bei der zweiten Wahl Anrecht auf mehr Sitze im Parlament hätte, als bei der ersten Wahl. Das ist z.B. dann der Fall, wenn bei der ersten Wahl deutlich weniger Stimmen auf kleinere Parteien entfallen und verfallen als bei der zweiten Wahl.
Karlsruhe verpflichtete den Gesetzgeber im Urteil des Jahres 2024 ausdrücklich, sicherzustellen, dass eine Sperrklausel „unter den derzeitigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen nicht über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages Erforderliche hinausgeht“ (Rn. 273). Aber eine Hürde von 5% der Zweitstimmen ist höher, als die Hürde, die nach der Argumentation des Verfassungsgerichts für die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Parlaments notwendig ist. Sie geht damit über das erforderliche Maß hinaus. Es ist daher fraglich, ob diese höhere Hürde, verfassungskonform ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich 2024 (in Rn 249) auch noch konkreter und weitreichender zur Bedeutung des Fraktionsstatus geäußert:
„Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages ist es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete im Fall ihrer Berücksichtigung eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden.“
Diese Argumentation muss umso mehr für Parteien gelten, die gar keine anderen Abgeordneten brauchen, um eine Fraktion zu bilden, weil sie auch mit etwas weniger als 5% der Zweitstimmen auf mindestens 5% der Mandate kämen.
Ob eine Partei mit z.B. 4,6% oder 4,8% der Zweitstimmen 5% der Mandate im Parlament erreichen würde, lässt sich in einem mehrstufigen aber dennoch recht einfachen Verfahren berechnen. Zunächst werden dabei die Mandate nur auf die Parteien mit mehr als 5% Prozent der Zweitstimmen und die nächstkleinere Partei verteilt. Kommt letztere auf 5% der Mandate und damit Fraktionsstatus, kommt sie in das Parlament. Zieht sie ein, wird die Rechnung unter Einbeziehung der nächstkleineren Partei wiederholt. Kommt auch diese auf mindestens 5% der Mandate, zieht auch sie ins Parlament ein.
Dadurch käme es, gemäß der fortwährenden Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, zu keiner Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Parlaments, zu keiner Zersplitterung in Gruppen ohne Fraktionsstatus. Alle Parteien wären als Fraktionen in ausreichender Größe im Parlament vertreten. Mit einer solchen Regelung wäre es deutlich weniger wahrscheinlich, dass ein hoher Prozentsatz der Wählerstimmen unter den Tisch fällt.
BSW ist bei weitem nicht die erste Partei, die in die 5%-Lücke fällt, bei der der Unterschied zwischen 5% der Stimmen und 5% der Mandate schlagend wird. Im Jahr 2013 lagen sowohl die FDP mit 4,8% als auch die AfD mit 4,7% unterhalb der Zweitstimmengrenze. Mindestens die FDP hätte Anrecht auf 5% der Sitze gehabt, vermutlich auch die AfD. Von Landtagswahlen gibt es noch viel mehr Beispiele.
Vor dem Hintergrund eines in den letzten Jahren geänderten Wahlverhaltens, wodurch mehr kleinere Parteien vorhanden sind, die zwar nicht sicher mehr als 5% der Zweitstimmen erreichen, aber keine vernachlässigbaren Splitterparteien sind, wird die Verzerrung des Wählerwillens durch die 5%-Hürde immer stärker. Sie ließe sich durch das Schließen der 5%-Lücke deutlich reduzieren.
Fazit
De facto legitimiert das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung nur eine Sperrklausel die sich auf die Anzahl der einer Partei rechnerisch zustehenden Mandate im Parlament bezieht. Das Bundeswahlgesetz zieht aber eine höhere Hürde ein. Die Karlsruher Richter könnten deshalb bei einer neuerlichen Überprüfung unter diesem Gesichtspunkt durchaus zu dem Schluss kommen, dass eine auf die Zweitstimmen bezogene 5%-Hürde einschneidender ist, als zur Erreichung des legitimen Zwecks nötig. Dann würde die Sperrklausel den vom Gericht aufgestellten Maßstäben für die Verfassungsmäßigkeit nicht genügen. Das Gericht hat bereits mindestens einmal eine frühere Entscheidung zu einer Sperrklausel revidiert. Aufgrund der großen Bedeutung der hier aufgeworfenen Fragestellung für die Zusammensetzung des Bundestags nach der jüngsten Wahl scheint eine neuerliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Bundeswahlgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht angezeigt.
*Jens Winkler, M.Sc., Jahrgang 1991, hat Wirtschaftsmathematik und Mathematik studiert und arbeitet bei einer Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des BMDV insbesondere zu Fragen der Unsicherheitsabschätzung im chaostheoretischen Bereich. Sie finden ihn auf X unter https://x.com/winklerj21, wo er Politik, Wirtschaft, Energie und Datenschutz thematisiert.
Transparenzhinweis: Der Herausgeber dieses Blogs ist BSW-Mitglied.
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Das Magazin Multipolar hat in einer Meldung über diese Überlegungen von Jens Winkler berichtet.