Müllers Erklärung lautet kurz gefasst: Die CDU hat zwar mit der SPD und den Grünen große Schnittmengen entwickelt. Aber das liegt keineswegs daran, dass sie nach links gerückt wäre. Sie hat vielmehr ihre konservativen Ideale verbogen und verraten, um sich mit den Progressiven beim Marktliberalismus zu treffen.
„Der Konservatismus löste sich von dem, was man unter ihm einst subsumierte: Ordnungsvorstellungen und der Schutz von Familie, Kirche und Staat. Die Linke ihrerseits legte dafür sozialdemokratische, kollektivistische oder staatsinterventionistische Ideen ad acta.
Im Ergebnis gibt es bei Konservativen wie Linken einen Widerspruch zwischen ihren gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen und ihrer wirtschaftspolitischen Programmatik. Der führt zu ständigen starken Scherkräften und droht sie zu zerreißen oder hat sie schon zerrissen.
Früher hatten die beiden Parteienblöcke zwar auch große Schnittmengen, aber es waren andere:
„Dazu gehörte einerseits der auch von Konservativen mitgetragene Konsens, dass der Sozialstaat als Schutz gegen die Unbilden des Marktes unabdingbar ist. Kulturell war umgekehrt die Bedeutung von Vertrautheit, Geborgenheit und sozialem Zusammenhalt sowie der Stabilität von Familie, Heimat und Gemeinschaft gegen ungebremste Modernisierungs- und Liberalisierungsprozesse aber auch ein ureigenes Interesse der sozialdemokratischen Kernklientel.
Der Konservatismus definierte seine alten Freiheits- und Ordnungsvorstellungen im Sinne des Neoliberalismus zunehmend ökonomisch. Die bürgerliche Freiheit steht und fällt heute mit der Freiheit des Marktes. Und auch die Linke definierte ihre Grundhaltung marktkonform neu:
„Traditionelle Metanormen wie Stabilität, Beharrlichkeit und Kontinuität ersetzt sie – ganz opportun zum Neoliberalismus – durch Ideale wie Flexibilität, Spontaneität und Innovativität. Ideale, die heute selbstverständlicher Habitus jedes linksliberalen Hipsters und der weltverbessernden Start-Up- und Eventkultur sind.
Dass das Produkt dieser Umdeutung, der progressive Neoliberalismus, bei der klassischen Klientel der Sozialdemokraten auf geringer Nachfrage stößt, leuchtet unmittelbar ein:
„Der progressive Neoliberalismus ist folgerichtig das Produkt der kognitiven Dissonanz der Neuen Linken. Anders gesagt: „Links“ ist nur noch Neoliberalismus in „progressiver“ Verpackung, der Forderungskatalog eine bloße Liste des Mehr: mehr Offenheit, mehr Toleranz, mehr Internationalität, mehr Solidarität.
Aber auch die Konservativen werden mit ihrer Unterordnung unter die Prinzipien der marktkonformen Demokratie nicht glücklich:
„Den Atomisierern von links setzte der Konservatismus, der längst keiner mehr war, Atomisierer von rechts entgegen. Von der liberalen zu Merkels marktkonformer Demokratie war es folglich nur ein Katzensprung. Doch mit der wirtschafts- ist dem Konservatismus auch die gesellschaftspolitische Steuerung des Staates entglitten. Man ist kaum zu erkennen in der Lage, dass es allen voran der global entfesselte Kapitalismus ist, der das auflöst und zerstört, was dem Konservatismus heilig war.
Wo sollen sie also hingehen, die Wähler, denen der Sozialstaat als Schutz gegen die Unbilden des Marktes wichtig ist, ebenso wie Vertrautheit, sozialer Zusammenhalt und Stabilität von Familie, Heimat und Gemeinschaft? Wenn es niemand gibt, der das umsetzen oder verteidigen will, dann gehen sie zu denen, die wenigstens davon reden. Und so treffen sich denn die ehemaligen Wähler von SPD, Linken und Union bei der AfD, die sich in dem großen Freiraum breit macht, den der wirtschaftsliberale Allparteienkonsens geschaffen hat.
Annegret Kramp-Karrenbauer ist als Parteichefin daran gescheitert, den Widerspruch aus konservativen Werten und wirtschaftsliberalem Handeln der CDU zu überbrücken. Sollte ihr der Noch Aufsichtsratschef von BlackRock Deutschland, Friedrich Merz, nachfolgen, würde der Versuch dazu eingestellt. Kaum jemand steht mehr für bedingungsloses Liberalisieren und Privatisieren als Merz. Unter seiner Führung würde es die Union wohl ähnlich zerreißen wie die SPD unter und nach Schröder.